Tage, die China veränderten | BÜTIS WOCHE #240

Am 24.11. fielen in Ürümqi, der Hauptstadt der uigurischen Autonomen Region Xinjiang, mindestens 10 Menschen einem Brand zum Opfer, der in einem Hochhaus wütete. Dieses Unglück löste in der Bevölkerung große Verbitterung aus, weil, so die kritischen Vorwürfe, der harte, seit über drei Monaten andauernde, rücksichtslos durchgesetzte Lockdown im Rahmen der sogenannten Zero-Covid-Strategie mindestens mitverantwortlich war, dass so viele Menschen starben. Von außen verschlossene Türen hätten eine erfolgreiche Flucht verhindert; Lockdown- bedingte Hindernisse wären dafür verantwortlich gewesen, dass die Feuerwehr nicht nahe genug herankam, um die Flammen schnell genug wirksam zu bekämpfen.

Dieses Feuer in Ürümqi hatte in China ein landesweites Echo. Das ist an sich schon bemerkenswert, weil zuvor sechs Jahre lang angesichts der brutalen Unterdrückung der UigurInnen in Xinjiang wenig innerethnische Solidarität der Han zu vermelden gewesen war. In diesem Fall war die Solidarität überwältigend. Menschen in vielen Städten legten zunächst Blumen nieder zum Gedenken an die Opfer. Daraus entwickelten sich zweitägige Proteste gegen die Zero-Covid-Politik der chinesischen Regierung. Nach unterschiedlichen Quellen fanden solche Proteste in achtzehn Provinzen und regierungsunmittelbaren Städten statt; an mehr als hundert Universitäten soll es Proteste gegeben haben. Diese Protestbewegung stellt ein einmaliges außergewöhnlich bedeutsames Ereignis in der jüngeren chinesischen Geschichte dar. Es waren die größten Proteste seit Tian’anmen 1989.

Proteste sind in China keine Seltenheit. Hunderte oder tausende finden jedes Jahr statt. Sie alle hatten bisher zwei Charakteristika gemeinsam: Sie waren lokal begrenzt, und sie hatten immer nur ein konkretes Anliegen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zum Gegenstand. Es gab Proteste von WanderarbeiterInnen gegen unerträgliche Arbeitsbedingungen; Proteste von Bäuerinnen und Bauern, die für ihr Land nicht angemessen entschädigt wurden; Proteste von betrogenen BankkundInnen; Proteste gegen die Ansiedelung einer gefährlichen Chemiefabrik unmittelbar neben Wohnbebauung. Wo immer versucht wurde, Proteste auf breiterer Basis zu koordinieren, griff die Kommunistische Partei besonders scharf durch. Ich erinnere mich an einen Fall vor einigen Jahren, als Feministinnen sich zwischen mehreren Städten verabredeten zu protestieren gegen das Grabschen in Bussen, Straßenbahnen und U-Bahnen. Man sollte vermuten, dass ein solcher sozialer Protest die Kommunistische Partei nicht beunruhigen müsste. Tat er aber doch. Und zwar eben wegen des Umstandes, dass der Protest überregional koordiniert werden sollte. Die beteiligten Frauen landeten im Knast.

Die Protestbewegung, die gerade stattfand, war da ganz anders. Sie fand, wie schon gesagt, landesweit statt. Sie brachte auch Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen dazu, sich gemeinsam zu artikulieren. Da protestierten nicht ArbeiterInnen oder StudentInnen oder Bäuerinnen und Bauern, da protestierten Bürgerinnen und Bürger. Möglich geworden war das, weil die rücksichtslose Covid-Politik Xi Jinpings alle betraf. Durch den Versuch, der chinesischen Gesellschaft eine schematische, unflexible Politik überzustülpen, hatten Partei und Regierung faktisch die Gelegenheit geschaffen, dass viele sehr unterschiedliche, aber jeweils betroffene Menschen sich zum gemeinsamen Protest zusammenfanden. Noch etwas war anders: In der Vergangenheit hatte die Führung immer wieder großen Wert darauf gelegt, für Missstände, die zu Protesten führten, lokale oder bestenfalls regionale Entscheider verantwortlich zu machen. Bei der Covid-Politik allerdings hatte Xi Jinping zwei Jahre lang jedem Chinesen und jeder Chinesin durch die offizielle Propaganda einbläuen lassen, dass ER persönlich der Architekt dieser Strategie sei und der Oberkommandierende des Kampfes gegen die Pandemie und der unendlich weise, das Volk liebende Führer, der durch die von ihm verordneten Maßnahmen die Überlegenheit des sozialistischen Systems demonstriert. Nach dem 20. Parteitag war diese Botschaft noch einmal besonders eingebläut worden. Wenig Wunder also, dass dann der Protest an der Türschwelle oder sogar auf dem Schreibtisch von Xi Jinping landete. Der unbeschränkte Diktator konnte nicht verhindern, dass seine Subjekte ihn selbst verantwortlich machen. Das kam dann etwa in Parolen zum Ausdruck, die wie in Shanghai seinen Rücktritt forderten oder sich dagegen wandten, dass er mit der Inthronisierung auf Lebenszeit sich selbst zu einer Art Parteikaiser erhoben hatte. 

Mit den landesweiten Protesten, die ganz unterschiedliche Bevölkerungskreise gemeinsam erfassten und sich gegen eine zentrale Politik der zentralen Führung wendeten, hat sich meiner Meinung nach in China das Verhältnis zwischen Unterdrückern und Unterdrückten verändert. Zwar gelang es der Polizei, eine Fortsetzung der Proteste am dritten Tag in den meisten Fällen zu verhindern, indem sie die meisten Straßen und Plätze sperrten. Zwar wurden offenbar Aktivistinnen und Aktivisten festgenommen; wie viele weiß bisher niemand. Aber die Regierung ergriff zur Unterbindung von Protesten auch weitere Maßnahmen, die sich möglicherweise noch als sehr kontraproduktiv erweisen können. So wurde auf höchster Ebene beschlossen, dass für die Universitäten die Winterferien, die planmäßig Anfang Januar beginnen sollten, um mehr als einen Monat vorgezogen werden. Studentinnen und Studenten wurden nach Hause geschickt, um zu verhindern, dass sie als Organisationskerne von Protesten wirksam werden können. Aber so tragen sie nun ihre Erlebnisse dieser Tage noch ganz frisch ins ganze Land, selbst in solche Regionen, in denen der Zensurapparat, der teilweise überfordert gewesen war, die Verbreitung von Informationen über die Proteste erfolgreich hatte verhindern können. Das kann sich als eine Maßnahme erweisen, die die Saat legt für künftige politische Auseinandersetzungen. 

Dass Xi Jinping innerhalb der Kommunistischen Partei durch die Proteste gefährdet werden könnte, war von vornherein unwahrscheinlich. Schließlich hatte er bei seinem Krönungsparteitag die Machtstruktur noch vollständiger als bisher auf sich selbst ausgerichtet. Aber für die Rolle der Kommunistischen Partei Chinas insgesamt sind diese wenigen Tage sehr bedeutsam, denn zum ersten Mal seit vielen Jahren fanden Bürgerinnen und Bürger eine Sprache jenseits der von der KP vorgegeben Sprachrituale, mit denen sie sich über gemeinsame Interessen und Anliegen austauschen konnten. Charakteristisch dafür war der Slogan: „Wir wollen nicht mehr Renmin sein, wir wollen wir selbst sein.“ Renmin – das ist das Wort der KP für Volk. Wir wollen nicht mehr Renmin sein, heißt, wir wollen nicht das Volk sein, dem die KP sagt, was es zu tun und zu denken hat. Wir wollen wir selbst sein. Selber tun und denken. Das ist klassisch formuliert der Anspruch auf politische Emanzipation von totalitärer Kontrolle.

Wie es weiter geht? Es ist gut möglich, dass die große repressive Welle noch kommt. Einstweilen gibt es Nachrichten von gewissen unsystematischen Lockerungen im Covid-Regime. Dass nicht sofort die große Repressionsmaschine voll anlief, kann man als Zeichen dafür lesen, dass Peking durchaus verstand, auf wie dünnem Eis man sich angesichts großer gesellschaftlicher Verbitterung über die persönlichen und ökonomischen Kosten der Covid-Politik bewegte. Xis Lieblingsübung war aber bisher Unterdrückung, und es wäre keine Neuheit, dass die KP nach dem Motto agiert: Die Rache wird später serviert. Eines allerdings ist ganz klar geworden: Xi Jinping wird es mit seinem totalitären Kurs nicht gelingen, die zahlreichen Widersprüche Chinas unter sein Kommando zu zwingen. Da ist zu viel in Bewegung, und durch die Covid-Proteste ist noch einmal mehr in Bewegung geraten.

SONST NOCH

  • Hier meine Pressemitteilungen zu den Protesten. 
  • In der letzten Woche fand eine besondere Plenarsitzung in Straßburg statt. Es wurden 70 Jahre Europäisches Parlament (und Vorgänger) gefeiert. Anlässlich des Jubiläums habe ich Europe Table ein Interview über die Arbeit des Parlaments gegeben.
  • Thema der Plenarwoche war mal wieder Russland. Es gab eine Resolution zu Russland, gleichzeitig erfolgte ein Cyberangriff auf die Webseite des Europäischen Parlaments. Mehr dazu findet sich in meinen Plenarnotizen.
  • In dieser Woche reiste der Präsident des Europäisches Rates, Charles Michel, nach Beijing, um den chinesischen Staatschef Xi Jinping zu treffen. Hier meine Pressemitteilung.
  • Am Donnerstag, den 1. Dezember, veranstalteten die Deutsche Kommission Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (DKE) und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) einen Webtalk zum Thema „Technologische Souveränität – Handel zwischen Konfrontatkion und Kooperation“, bei dem ich als Speaker auftrat.
     
  • An diesem Wochenende bin ich auf dem sechsten European Green Party (EGP) Kongress in Kopenhagen. Auf meine Initiative hin wurde über das letzte Jahr ein handelspolitisches Papier entwickelt, das in Kopenhagen zur Abstimmung stehen wird.
  • Am Samstag, den 3. Dezember, um 12:10 Uhr gebe ich dem WDR ein Live-Interview zu den Protesten in China.

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