#182 The Making Of Weltpolitikfähigkeit | BÜTIS WOCHE

In Brüssel kann man eine bemerkenswerte Verwandlung beobachten: Die Europäische Union fängt an, sich die „Weltpolitikfähigkeit“ zu erarbeiten, von der zu seiner Zeit als Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fast sehnsüchtig sprach.

Die Verwandlung folgt keinem großen Plan. Sie ist auch nicht besonders wohlgeordnet. Sie ist noch zu ungestalt, um sie schon sicher auf einen Begriff bringen zu können, aber sie greift Platz. Man bemerkt sie immer wieder, in verschiedenen Bereichen, getrieben von verschiedenen Akteuren und Akteurinnen. Sie ist getragen von einer gewissen Neugierde darauf, neue Räume zu öffnen, und beflügelt von der Verwunderung, dass es diese Räume tatsächlich gibt.

Sinnfällig trat die Veränderung in dieser Woche zutage, als die Europäische Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) gemeinsam ein Papier vorlegten, in dem sie ihre Vorstellungen zur Neubelebung der transatlantischen Beziehungen präsentierten. Das Papier hat davon profitiert, dass man in Brüssel offenbar den zahlreichen transatlantischen Thinktanks, Arbeitsgruppen, Dialogforen usw. gut zuhörte. Nichts an der Substanz ist völlig überraschend, aber unerhört ist, dass die EU mit diesem Papier gegenüber den U.S.A. als der gleichwertige Partner auftritt, der sie eigentlich noch werden will und muss. Statt abzuwarten, was sich wohl unter den schwierigen Bedingungen des Übergangs von Trump zu Biden in Washington D.C. als ein realistischer Handlungshorizont für die transatlantische Partnerschaft herausschälen könnte, sagt die Europäische Union, was sie will und was sie leisten will. Das ist ein neuer Ton.

Es ist bemerkenswert, dass dieser neue Ton aus Brüssel kommt, nicht aus Berlin, nicht aus Paris. Berlin und Paris haben sich zuletzt wieder einmal gestritten. Macron gegen AKK. Er mit zu viel französischem Sendungsbewusstsein, das ihn unwiderstehlich zu zwingen scheint, immer einen zu großen Gang einzulegen. Wo Europa mehr strategische Handlungsfähigkeit braucht, macht Macron es nicht unter der „strategischen Autonomie“, so verblasen ein solcher Anspruch auch ist, wenn man ihn nüchtern bedenkt. Sie dagegen, AKK, exerzierte exemplarisch die deutsche Abneigung gegen Führungsverantwortung, indem sie, ungeachtet aller Zweifel daran, wie sehr sich Europa sicherheitspolitisch tatsächlich auf die USA wird stützen können – diese Zweifel hatte die deutsche Kanzlerin ja selbst schon vor Jahren formuliert! –, vor allem als treue Transatlantikerin die Unverzichtbarkeit amerikanischer Sicherheitsgarantien betont hatte.

Botschafter Ischinger hatte den Macron-AKK-Streit mit ärgerlicher Geste als eine Art nutzloses Ideologiegezänk kritisiert. Das ist einerseits verständlich, andererseits ein bisschen hilflos, denn es ist ja kein Zufall, dass diese Art von Streitereien immer wieder reproduziert wird. Die Kommission und der EAD ließen diese Art der Auseinandersetzung schlicht hinter sich, indem sie feststellten, eine starke EU und eine starke transatlantische Partnerschaft seien nun einmal kein Gegensatz. Damit haben sie ja tatsächlich recht, denn die transatlantische Partnerschaft kann angesichts der sich fundamental ändernden Weltlage mit Asiens Aufstieg, Chinas Arroganz und Afrikas Erwachen und der daraus folgenden Verschiebung der strategischen Prioritäten der USA nur stark bleiben, wenn die Europäer selber stärker werden und das in die Partnerschaft einbringen. Und umgekehrt könnte die EU nicht stark sein, wenn sie ihre Mitglieder zwingen wollte, zwischen transatlantischer Bindung und Europe First zu wählen; Polen und Balten, aber auch Rumänen, Iren oder Portugiesen würden da wohl eine andere Wahl treffen als Paris.

Ich sehe die europäische Veränderung auch in der China-Politik. Schon vor anderthalb Jahren machte die EU einen großen konzeptionellen Schritt nach vorne, indem sie unser Verhältnis gegenüber China als ein dreifaltiges beschrieb, als Partnerschaft, als Wettbewerb und als systemische Rivalität. In der praktischen Politik gegenüber China ist heute der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission, Josep Borrell, die klarste und selbstbewussteste Stimme. Borrell spricht mit fast lässiger Selbstverständlichkeit aus, dass Chinas Machthaber Xi Jinping danach strebt, ein neues Imperium zu errichten, während man in Berlin im Kanzleramt noch gar nicht richtig gemerkt hat, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die mächtigste nationale Hauptstadt der EU hoffen konnte, mit China von Gleich zu Gleich zu verhandeln. Brüssel hat bei der Frage, ob Europa riskieren könne, einem Unternehmen unter Kontrolle der chinesischen Kommunistischen Partei, wie Huawei, den Zugang zum Kern unserer zukünftigen Kommunikationsinfrastruktur zu erlauben, mit der dort entwickelten Toolbox die entscheidende gemeinsame Grundlage geschaffen. Brüssel sorgt auch dafür, dass bei den schwierigen Verhandlungen über ein Investitionsabkommen mit China, die jetzt schon sieben Jahre andauern, nicht das Brancheninteresse der deutschen Automobilindustrie zulasten von uns allen den Ausschlag gibt, wie unter deutscher Ägide zu befürchten gewesen wäre. Deutschlands Gewicht in Europas China-Politik ist heute schwächer als vor zwei, drei Jahren noch. Und das macht Europas China-Politik stärker. Insofern hat die Absage des Leipziger China-Gipfels im September, von dem sich Angela Merkel so viel versprochen hatte, durchaus symbolische Bedeutung.

Ich will aber nicht in den Fehler verfallen, die nationalen Hauptstädte insgesamt schlechtzureden. Der große Aufbruch, der in der Einigung der EU auf ein Corona-Rettungspaket liegt, wäre ohne großartige Führungsverantwortung von Berlin und Paris nicht zustande gekommen. Die Kanzlerin ist dabei nicht nur über ihren eigenen Schatten gesprungen, sondern sogar über den langen Schatten, den die traumatische Erfahrung Deutschlands in der Zeit der Weltwirtschaftskrise vor rund 90 Jahren bis heute wirft. Paris und Berlin spielen auch eine positive Rolle für die Entwicklung einer neuen indopazifischen Perspektive der europäischen Außenpolitik. An der Stelle ist die Kommission im Nachtrab, an deren Spitze bis heute noch die große Bedeutung einer kohärenten europäischen Konnektivitätsstrategie nicht verstanden wird, für welche Frankreich und Deutschland durchaus plädieren.

Ich sehe den Geist der Veränderung auch im Europäischen Parlament. Der entschiedene Kampf um die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU gehört dazu. Die Antreiberrolle des Parlaments für den Europäischen Green Deal gehört dazu. Und es gehört auch dazu, dass sich im EP Ansätze für eine neue Handelspolitik entwickeln, in der Klimaschutz und Menschenrechte eine zunehmend zentralere Rolle spielen und die Orthodoxien einer von konventionellen großindustriellen Interessen geprägten Freihandelspolitik ins Wanken geraten.

Wenn ich die Entwicklungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücke, die ich als Teil eines Veränderungsprozesses begreife, der neues gemeinsames europäisches Selbstbewusstsein und sich erweiternde europäische Handlungsfähigkeit hervorbringt, dann heißt das natürlich nicht, die vielfältigen Blockaden zu ignorieren, das oft heillose Gezänk, die idiotischen Eigensüchtigkeiten, mit denen im Zweifel zugunsten vermeintlicher innenpolitischer Vorteile europäische Prozesse von strategischer Bedeutung behindert werden. Ein Beispiel für Letzteres ist gerade in Sofia zu besichtigen, wo ein nationalistischer Wahn ausgebrochen zu sein scheint, aus dem heraus die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien gestoppt werden, weil die Nordmazedonier nicht demütig genug anerkennen, dass ihre Sprache eigentlich nur eine bulgarische Mundart sei, und sie nicht zweifelsfrei den Anspruch erheben könnten, eine eigene Nation mit eigener nationaler Geschichte zu sein. Es gibt genug Hindernisse und Sackgassen, die uns Sorgen machen müssen. Es gibt genug Baustellen, auf denen wir Europäer gar keine gute Figur machen. Ich nenne nur mal Libyen und Syrien, den alten Nahostkonflikt, das iranisch-saudische Ringen um Regionalhegemonie, die neoosmanische Politik der Türkei, zuletzt den Konflikt um Bergkarabach. Aber mir kommt es so vor, als sei die EU weniger als früher bereit, sich mit diesen traurigen Tatsachen abzufinden. Das halte ich für einen großen Fortschritt.

Ob die Veränderungen, die ich sehe, schnell genug kommen und hinreichend neue Handlungsfähigkeit schaffen, damit wir Europäer gemeinsam den Herausforderungen gewachsen sein können, die sich um uns herum häufen, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich finde es spannend, daran mitzuwirken, dass die EU, von der viele nach dem Doppelschlag des Jahres 2016, dem Brexit-Referendum und der Trump-Wahl, prognostiziert hatten, sie stehe am Anfang ihres Endes, eine neue Legitimität gewinnt, indem sie sich tatsächlich auch unter den neuen internationalen Rahmenbedingungen als die glücklich gefundene Form erweist, in der die europäischen Staaten und Völker der nationalistischen Versuchung zum Trotz ihre je eigene Zukunft in Gemeinsamkeit entwickeln. Dass die EU nicht der nationalistischen Versuchung anheimfällt, so schlimm nationalistische Verirrungen in mehr als nur zwei Ländern auch tatsächlich sind, daran hat übrigens meiner Meinung nach die dramatische Erfahrung des Brexit-Schlamassels keinen geringen Anteil. In einem berühmten Dialog Friedrich Schillers zwischen seinem Wilhelm Tell und Stauffacher sagt Ersterer: „Der Starke ist am mächtigsten allein“, während Stauffacher sagt: „Vereint sind auch die Schwachen mächtig.“ In dieser dritten Szene aus dem ersten Akt von Schillers Schauspiel behält Tell vorläufig das letzte Wort. Unsere europäische Wirklichkeit, so scheint mir aber, gibt mehr und mehr Stauffacher recht.


Sonst noch
  • Traditionell berichte ich in meinen Plenarnotizen über die Plenarsitzungen der vergangenen Woche.
  • Zum ersten Mal habe ich in der letzten Woche Plenarreden aus dem Europäischen Haus in Berlin halten können, und zwar zu drei Themen: Hongkong , Abraham-Abkommen, EU-U.S.A.-Hummer-Deal.
  • Meine Pressemitteilung zu den Urteilen gegen Joshua Wong, Agnes Chao und Ivan Lam in Hongkong könnt Ihr hier nachlesen.
  • Gemeinsam mit 67 weiteren Abgeordneten des Europäischen Parlaments fordere ich Vizepräsident Mourão und die Vertreter des „National Council of the Legal Amazon“ in einem Offenen Brief auf, die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen auch in Bezug auf den Amazonas weiterhin vollumfänglich zu ermöglichen.
  • Am 18.11. habe ich mit der Thüringer bündnisgrünen Landtagsfraktion das Europäische Gespräch „Handel, Investitionen, Menschenrechte: Was wir von China für Thüringen erwarten“ als Online-Diskussion veranstaltet. Hier könnt Ihr sie Euch anschauen.
  • Zum ersten digitalen Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen habe ich in einem Videogespräch mit Pegah Edalatian (Sprecherin BAG Globale Entwicklung) über Herausforderungen in der Internationalen Politik und für uns Grüne diskutiert.
  • Am 26.11. habe ich mit Luisa Santos (Business Europe), Maaike Okano-Heijmans (Clingendael Institute) und Sven Biscop (Egmont Institute) in einer Online-Veranstaltung über die europäische Konnektivitätsstrategie diskutiert. Hier (https://reinhardbuetikofer.eu/2020/11/27/con-nec-ti-vi-ty-what-is-that-discussing-an-important-eu-strategy-video/) die Aufzeichnung.
  • Am 1.12. habe ich mit Rupert Schlegelmilch (Europäische Kommission), Bernd Lange (MdEP), Guntram Wolff (Bruegel) und Anabel Gonzalez (The Peterson Institute for International Economics) über eine Agenda für transatlantischen Handel unter Biden gesprochen. Hier könnt Ihr Euch die Diskussion anschauen.
  • Am 3.12. wurde im Rahmen einer Online-Diskussion von ECFR und E3G die neue Studie „Climate Superpowers? How the EU and China can compete and cooperate for a green future“ (https://ecfr.eu/publication/climate-superpowers-how-the-eu-and-china-can-compete-and-cooperate-for-a-green-future/) vorgestellt. Ich habe hierbei ein paar einleitende Worte gesprochen und im Vorfeld eine Pressemitteilung veröffentlicht.
  • Am 7.12. veranstalte ich eine Online-Diskussion zum Thema „What to expect from the EU-China Comprehensive Agreement on Investment?“. Weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung findet Ihr hier.