Totgesagte leben länger? Im Falle der blockierten Welthandelsorganisation sollte die Europäische Union genau darauf hoffen. Und mehr noch: Bevor Europa egoistische Wege einschlägt, müsste es erst zur Hilfe eilen.
Seit die USA im Dezember die Berufungsinstanz des Schiedsgerichts der Welthandelsorganisation (WTO) lahmlegten, ist die WTO bei der Schlichtung von Handelsstreitigkeiten zum zahnlosen Tiger geworden. Zwar hatten die USA von allen WTO-Mitgliedsländern bei diesem Schiedsgericht die meisten Erfolge erzielt, doch bereits unter George W. Bush und Barack Obama stand es aus Washington unter Beschuss. Die USA kritisierten, dass die Prozesse zu lange dauerten; dass die Richter das Handelsrecht auf eigene Initiative und unter zu weitgehender Auslegung des WTO-Rechts weiterentwickelten. Die Trump-Administration begründet die Blockade der Ernennung neuer Richter mit der ungenügenden Bereitschaft der WTO zur Reform ihrer Berufungsinstanz. Zugleich wurde die notwendige Kompromissbereitschaft für eine solche Reform verweigert. Gegner des Handelsmultilateralismus und des Prinzips internationaler Schiedsgerichtsbarkeit nutzten die Situation, um in ihrem Sinne Fakten zu schaffen.
Die EU hat den Status quo der WTO in diesem politischen Streit vielleicht zu tapfer verteidigt. Viel zu spät hat Brüssel zugegeben, dass die Kritik aus Washington an der WTO-Berufungsinstanz in etlichen Punkten berechtigt war. Die EU-Kommission beharrte teilweise ziemlich selbstgerecht auf ihren Rechtsstandpunkten. Besser wäre es gewesen, den USA für einen handelspolitischen Ausgleich entgegenzukommen. Eine tragfähige Lösung, für die es bereits konkrete Vorschläge gab, wäre bei mehr gegenseitigem Vertrauen möglich gewesen.
Jetzt ist das Schiedsgericht erst einmal perdu. Und die EU muss sich der Frage stellen, wie sie zukünftig Handelsstreitfragen lösen will. Denn seit der Gründung der WTO 1995 war die EU einer der größten Nutzer des Streitbeilegungsverfahrens.
Brüssel hat sich für einen Weg zusammen mit Kanada, Norwegen, China und 16 weiteren Ländern entschieden. Diese Partner trafen eine Vereinbarung, die ein Ersatzorgan zur ehemaligen WTO-Berufungsinstanz vorsieht, falls ein Streitfall nicht durch die Erstinstanz-Entscheidung geregelt wird. Dass der Versuch, diese Ersatzlösung von allen WTO-Mitgliedern finanziert zu bekommen, schiefging, verblüfft nicht wirklich. Doch der Haken ist: Die plurilaterale “Lösung” gilt nur für die beteiligten Staaten. Was also tun, wenn Russland, die USA oder Indonesien, die nicht an der Vereinbarung teilnehmen, nach einer erstinstanzlichen WTO-Entscheidung zugunsten der EU diese nicht akzeptieren würden?
Für solche Fälle soll eine Änderung des EU-Rechts Brüssel zukünftig erlauben, die Interessen der europäischen Unternehmen und Konsumenten in internationalen Handelskonflikten auf neue Weise zu verteidigen. Die EU könnte laut dem Vorschlag der EU-Kommission zu handelspolitischen Zwangsmaßnahmen greifen, wenn eine erstinstanzliche Entscheidung von einem Streitpartner nicht anerkannt würde. Nach Auffassung der EU-Kommission ist eine solche Vorgehensweise mit internationalem Recht vereinbar. Der Rat stimmte dem Entwurf mit wenigen Änderungen im April 2020 zu. Das Europäische Parlament will seine Position noch vor der Sommerpause festlegen.
Die französische Berichterstatterin Marie-Pierre Vedrenne aus den Reihen der liberalen Renew-Fraktion spielt dabei besonders hart. Das EU-Parlament soll nach ihrem Vorschlag eine Idee von Frankreich, Italien und Polen wieder aufgreifen, die zuvor im Rat scheiterte. Diese erweitert den Vorschlag der Kommission, der bisher nur für Güter vorgesehen ist, auf Dienstleistungen und geistiges Eigentum. Zudem fordert Vedrenne, dass die EU künftig einseitige Erzwingungsmaßnahmen ergreifen darf, bevor ein erstinstanzliches Urteil getroffen ist. Das setzt schlicht auf die Erwartung, die EU sei in Handelsfragen stark genug, um gegenüber vielen Ländern in Streitfällen Bulldozer spielen zu können.
Was bliebe aber vom Handelsmultilateralismus, wenn die EU auf ein grundsätzliches “Wir für uns zuerst!” setzt? Die EU befindet sich in einem Dilemma. Der Multilateralismus, den wir wollen, ist ohne das Mitspielen der USA blockiert. Andererseits wollen wir nicht auf jede Gegenwehr verzichten. Wie also voran?
Vor allem sollte sich die EU einen möglichen Ausweg nicht verbauen. Die Blockadehaltung der USA könnte sich nach den Präsidentschaftswahlen ändern. Kandidat Joe Biden gehört nicht zu den prinzipiellen Verächtern des Multilateralismus wie der Amtsinhaber. Biden betont den Wert einer internationalen Rechtsordnung und des partnerschaftlichen Umgangs mit anderen Ländern. Interessengegensätze gäbe es unter einer Präsidentschaft Bidens mit den USA trotzdem. Aber sollten wir nicht alles tun, um zu prüfen, wie weit diese mit ihm multilateral eingehegt werden können?
Ein deutliches Signal hierfür gab das EU-Parlament, als es sich Ende 2019 klar dafür aussprach, an Verhandlungen mit den USA über die Reform der WTO-Schiedsgerichtsbarkeit festzuhalten. Ebenso signalisierte eine Delegation des EU-Handelsausschusses im Februar in Washington, dass die EU für Gespräche bereit sei.
Wenn die EU allerdings jetzt, noch bevor in Amerika gewählt wird, eine Ersatzlösung zementiert, dann signalisiert sie damit, dass sie nicht mehr an eine Lösung im Rahmen der WTO glaubt. Es wäre eine Lösung, die das Problem eher vergrößert. Das sollten wir nicht tun, solange Alternativen möglich sind.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der WirtschaftsWoche (Ausgabe 26 vom 19.06.2020)