Wir brauchen bei China-Fragen noch sehr viel mehr Einigkeit | INTERVIEW

Interview mit Amelie Richter. Erschienen am 24. März 2024 im China.Table.

Sind Sie mit der China-Politik der EU heute zufriedener als vor fünf Jahren? 

Ja, denn vor fünf Jahren hatte die EU gerade die schwierige Operation hinter sich gebracht, eine neue Rahmendefinition für die europäischen Beziehungen zu China vorzulegen: Die Triade aus Partner, Wettbewerber und Systemrivale. Damals gab es viele Bedenken, ob das nicht überkritisch sei. Von der Bundesregierung gab es nur Pushback. Die Kanzlerin hat bis zum Ende ihrer Legislaturperiode das Wort systemische Rivalität nicht einmal benutzt. Es gab defätistische Tendenzen in der Europäischen Union, nach dem Motto „Auf die USA mit Präsident Trump ist kein Verlass, wir Europäer kommen nicht auf einen Nenner – dann muss man halt nehmen, was man von China kriegt.“

Heute sehen wir, dass die kritischere Haltung die Realistischere war. Das ist keine Minderheitsposition, sondern weithin geteilt und auch sehr klar vertreten von der Präsidentin der Europäischen Kommission. Xi Jinping hat nicht nur in China selbst eine politische Rolle rückwärts bewirkt, sondern auch, was Chinas Rolle in der Welt betrifft, neue, viel aggressiver Seuten aufgezogen. Wenn wir Europäer uns nicht auf den Weg gemacht hätten, stünden wir heute ziemlich belämmert da. Das Europäische Parlament kann sich stolz darauf verweisen, dass wir durch unsere große Einigkeit in der Chinapolitik dazu beigetragen haben, dass es zum Beispiel etliche Handelsschutzinstrumente heute wirklich gibt.

Gerade die vergangenen drei Jahre haben einen deutlichen Kurswechsel der EU-Kommission mit sich gebracht. Wo gibt es noch Nachholbedarf? 

Wir haben nach wie vor bei wichtigen chinapolitischen Fragen ein zu hohes Maß von Uneinigkeit, was sich auch in Reaktionen auf Vorschläge der EU-Kommission zeigt. Zu Recht sagt diese in puncto wirtschaftlicher Sicherheit, dass wir zusätzliche Strategien und Maßnahmen brauchen. Wir werden das Outbound Investment Screening brauchen. Aber bis jetzt war Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck der Einzige, der sich mal getraut hat, das zu sagen. Es gibt bei anderen Fragen der China-Beziehungen unter den Hauptstädten nicht genug Konsens. 

Wo sehen Sie das beispielsweise?

Zum Beispiel aktuell in Bezug auf die Lage in Hongkong. Dort wurde ein National Security Law verabschiedet, nach dem jemand zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt werden kann, wenn er oder sie einen Nachbarn nicht denunziert, sofern dieser Nachbar darüber nachdenkt, an einer friedlichen Demonstration teilzunehmen, die der Regierung nicht passt. Wo sind darauf die angemessenen Reaktionen?. Es wäre vollständig angemessen, Hongkongs Regierungschef und Menschenrechtsverächter John Lee so zu sanktionieren, wie die USA es seit langem tun. China-Politik ist im Übrigen nicht nur, was wir im direkten Verhältnis mit China leisten. Die China-Politik muss das gesamte internationale Umfeld mitdenken. 

Was muss auf der To-do-Liste der nächsten EU-Kommission stehen?

Ich glaube, dass sich diese Agenda fast von selbst schreibt. Die Frage der wirtschaftlichen Sicherheit wird ja noch mal massiv dringlicher durch die chinesische Politik, jetzt in vielen Industriebereichen Überkapazitäten noch weiter zu subventionieren. Wo soll das alles hin? Der US-amerikanische Markt ist weitgehend zu. Die Japaner schützen sich auch. Wir sind relativ offen. Jens Eskelund, der Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking, hat gewarnt, dass eine teilweise Deindustrialisierung Europas durch diese chinesische Subventionsoffensive droht. Das muss man ernst nehmen. Das ist ganz klar ein Thema, das ganz vorne auf die Liste muss.

Was noch?

Ein zweites Thema bleibt Chinas Haltung gegenüber Russland. China ist nicht irgendwie neutral. Ohne Chinas aktive Unterstützung könnte Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Krieg nicht so führen, wie er ihn führt. China ist ein Land, das Putin hilft, Europas Sicherheitsarchitektur zu zerstören. Ein drittes Thema ist Chinas Vorgehen in der eigenen Nachbarschaft: im Südchinesischen Meer, im Ostchinesischen Meer und insbesondere in der Taiwanstraße. Zu nennen ist auch die indische Himalayagrenze und Chinas konfrontative Politik im globalen Umfeld durch wirtschaftliche Erpressung.

Wir können nicht warten, bis wir dran sind, sondern wir müssen Solidarität zeigen zur Aufrechterhaltung einer internationalen Ordnung, die auf den Prinzipien der Vereinten Nationen basiert. Eine Schwäche ist vielleicht, dass manchmal unsere China-Politik mehr als europäische Selbstverteidigung rüberkommt denn als europäischer Beitrag zu einer für den Großteil der internationalen Partner positiven Ordnung in der Zukunft. 

Was steht denn auf Ihrer persönlichen Agenda die nächsten Jahre? 

Dem China-Thema bin ich seit mehr als 50 Jahren verbunden. Das werde ich nicht fallen lassen. Was ich im Einzelnen machen werde, dazu sind die Entscheidungen noch nicht getroffen. Ich habe aber den Vorsitz einer neuen deutsch-taiwanischen Dialogplattform übernommen, die die Bundesregierung eingerichtet hat. Ich werde versuchen, mit den Partnerinnen und Partnern aus Taiwan das zivilgesellschaftliche Engagement zu verstärken. Mir geht es dabei vor allem darum, Taiwan nicht immer nur durch das Prisma der Cross-Strait-Relations zu betrachten. Spannend ist doch auch der Ausrausch darüber, wie Taiwan mit der eigenen Diktatur-Geschichte umgeht, wie es Minderheiten-Fragen behandelt, wie es gesellschaftliche Vielfalt ermöglicht, stärker als andere asiatische Länder das tun.

Bleiben Sie dabei weiterhin ein aktiver Politiker und werden versuchen, in Berlin und Brüssel mehr Interesse für Taiwan zu generieren, damit sich vielleicht auch was bewegt in Richtung eines bilateralen Handelsabkommens?

Ich glaube, da sind wir gerade in einer interessanten Phase. Lange Zeit hat Taiwan sehr stark darauf bestanden, dass wir ein bilaterales Investment Agreement brauchen. Wir haben das im Europäischen Parlament auch mehrfach deutlich mit riesengroßen Mehrheiten unterstützt. Uns sagen aber viele Unternehmen, wir sollten das alte amerikanische Prinzip anwenden: „If it ain’t broke, don’t fix it“. Das Problem ist nicht, dass man nicht investieren kann. Es gibt andere offene Fragen, die von größerer Bedeutung sind. Ich fände es zum Beispiel gut, mit Taiwan ein Abkommen zu resilienten Lieferketten zu machen. Da glaube ich, müssen wir pragmatisch rangehen. Im Europäischen Parlament ist es gelungen, zu einem Konsens zu finden unter den fünf großen demokratischen Fraktionen. Ich würde mir natürlich wünschen, dass das auch in den Mitgliedstaaten, auch im Bundestag so wäre. 

Wer wird denn Ihre Nachfolge als deutsche China-Stimme in Brüssel und Straßburg antreten? 

Lassen Sie sich überraschen.