Westbalkan: Die Serbien-zentrierte Politik der EU ist an ihr Ende gekommen | BÜTIS WOCHE #266

Dass man sich in der EU um die Entwicklungen auf dem Westbalkan Sorgen macht, kann man daran ablesen, wer sich gerade um die Region bemüht. Am Rande des Europäischen Gipfels (EUCO) Ende Oktober trafen sich zusammen mit dem Hohen Vertreter Borrell und dem Sonderbeauftragten Lajčák auch Ratspräsident Michel, Präsident Macron, Kanzler Scholz und Ministerpräsidentin Meloni mit dem serbischen Präsidenten und dem Ministerpräsidenten des Kosovo. Kurz darauf fährt nun Kommissionspräsidentin von der Leyen auf den Westbalkan. Das ist viel Aufwand, wenn man bedenkt, wie viele Krisen ansonsten noch Aufmerksamkeit und praktisches Handeln erfordern.

Die aktuelle Hektik kontrastiert scharf mit der Vernachlässigung, mit der die EU über Jahre hinweg die Länder des Westbalkan geplagt hat. Die Beteuerung, dass alle sechs Länder, Albanien, Bosnien&Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien dereinst sicherlich ihren Platz in der EU finden würden, wurde über Jahrzehnte so oft wiederholt, dass auch dem Letzten klar wurde: Es handelte sich weniger um ein Versprechen als um eine beschönigende Ausrede. Beitrittsverhandlungen wurden nicht aufgenommen oder de facto auf die lange Bank geschoben. Künftige Beitritte wurden an die Voraussetzung innerer Reformen der EU gebunden, welche aber nie ernsthaft angegangen wurden. Auf Seiten der EU herrschte wohl die Vorstellung vor, es habe mit der Beitrittsperspektive keine Eile; schließlich war ja auf längere Sicht eine attraktive Alternative zur EU-Mitgliedschaft für keines der betroffenen Länder gegeben.

Doch Hoffnung kann schal werden. Hunderttausende junge Menschen vom Westbalkan waren nicht gewillt, ihre besten Jahre mit anscheinend fruchtlosem Warten zu verbringen. Sie machten sich daher auf den Weg und wählten den individuellen EU-Beitritt. Zuhause lernten währenddessen PolitikerInnen, BürokratInnen und andere, wie man auf die endlose Streckung des Beitrittshorizonts mit der endlosen Streckung von Reformhorizonten antwortet und sich dabei selbst vorteilhaft einrichtet. Nationalistische Narrative, die jeweils auf stolze Vergangenheiten zurückblicken konnten, gewannen neue Kraft, weil die post-nationalistische Zukunft zu lange auf sich warten ließ.

Dass diese ganze Malaise nicht einfach weiter vor sich hin schwären kann, dafür hat allerdings die große geostrategische Umwälzung gesorgt, der sich ganz Europa, EU und Westbalkan, ausgesetzt sehen und die uns mit wachsender Geschwindigkeit bewusst wird. Russland und China haben sich vorgenommen, in enger strategischer Abstimmung und im Konzert mit anderen autoritären Regimes für die Herausbildung einer neuen Weltordnung zu streiten, die Multilateralismus durch Multipolarität ersetzt, internationale Herrschaft des Rechts durch das altehrwürdige Recht des Stärkeren, Menschenrechtsorientierung durch Systeme der Knechtschaft. All das wird inzwischen ganz offen anti-westlich vorgetragen und mit der Propaganda verpackt, die neue Internationale der Diktatoren werde endlich für den Aufstieg der ärmeren, lange vom Kolonialismus ausgebeuteten Länder des sogenannten Globalen Südens sorgen. Russland wie China suchen systematisch nach Schwachstellen im internationalen Gefüge, um diese im Sinne ihrer imperialen und hegemonialen Ambitionen auszunutzen. Dabei sind sie auch auf den Westbalkan gestoßen. Und das ändert die Situation auf dem Westbalkan fundamental.

Der großserbische Nationalismus ist zum Einfallstor für die Einmischung Russlands und Chinas auf dem Westbalkan geworden. In der Gestalt von Milošević unterlag der serbische Vorherrschaftsanspruch vor über zwanzig Jahren dem von der EU und den USA unterstützten Selbstbestimmungswillen der kleineren Völker des Westbalkans. Damals standen weder Moskau noch Beijing als Hinterland zur Verfügung. Heute dagegen, in der Gestalt von Vučić, gewinnt der serbische Nationalismus neue aggressive Kraft, weil er sich auf Rückhalt aus Russland und China verlassen kann. WennVučić über den künftigen Weg seines eigenen Land sagt, das Herz sei in Moskau, der Verstand dagegen in Brüssel, dann sollten wir das nicht als Ankündigung einer Schaukelpolitik missverstehen. Tatsächlich geht es dem serbischen Präsidenten darum, den Verstand zu nutzen, um Brüssel für die Realisierung seiner anti-europäischen Herzenswünsche auch noch zahlen zu lassen.

Der großserbische Nationalismus destabilisiert derzeit den Westbalkan in großem Stil. In Bosnien&Herzegowina treibt Dodik sein Unwesen. Im Kosovo schürt Belgrad Spannungen durch die Förderung separatistischer und sogar terroristischer Kräfte. Montenegros Unabhängigkeit und eigener Weg werden ebenfalls in Frage gestellt. Ohne den serbischen Nationalismus als Gegner der EU-Integration des westlichen Balkan zu verstehen und zu adressieren, wird die Stagnation, die die EU durch jahrzehntelanges, unverantwortliches Zögern verursacht hat, sich in einen blutigen Morast verwandeln.

Angesichts dieser Lage ist die aktuelle Westbalkan-Politik der EU so schief gewickelt, wie es nur geht. Appeasement gegenüber Dodik. Appeasement gegenüber Vučić. Statt auf die offenkundigen serbischen Provokationen gegen Kosovo angemessen zu reagieren, sanktioniert die EU Kosovo. Serbische Angriffe auf KFOR; Entführung dreier kosovarischer Polizisten nach Serbien; Unterstützung eines militärisch hochgerüsteten Terrorangriffs im Nordkosovo und Ausrufung von serbischer Staatstrauer für drei dabei getötete Terroristen; das sind nur die gröbsten Klötze. Aber der EU war das alles bisher keine Sanktionen gegen Vučić wert. Das kann nicht gut gehen.

Das Europäische Parlament hat in seiner letzten Plenarsitzung mit großer Mehrheit eine klare Positionsbestimmung zum Serbien-Kosovo-Konflikt angenommen, die einen Neuansatz der EU Politik verlangt. Ob das mit dem diskreditierten Triumvirat Borrell-Lajčák-Várhelyi möglich ist, muss man sehr bezweifeln. Und die Politik, die der U.S.-Botschafter in Serbien vertritt, steht auch im Wege. Aber eine Wende ist nötig. Serbien muss vor die Wahl gestellt werden: Brüssel oder Moskau. Herzlich willkommen in dem einen Fall, kein weiteres Herumschmusen aber im anderen. Für alle anderen fünf Länder muss die Parole heißen: Beitrittsdatum 2030 klar ins Auge fassen.

Sonst noch

Am Montag habe ich dem SWR ein Interview zum 10. „Beijing Xiangshan Forum“ gegeben. 

Am Donnerstag habe ich an der Europakonferenz des Auswärtigen Amtes in Berlin teilgenommen.

Donnerstag und Freitag bin ich in Prag, um am „Transatlantic Policy Forum“ teilzunehmen und am Freitag auf einem Podium zu Thema „Empowering Economic Resilience“ zu sprechen.