Meine „Sieben SotEU-Wünsche“ an @vonderleyen | BÜTIS WOCHE #259

In der nächsten Straßburg-Plenarwoche des Europäischen Parlaments wird Kommissionspräsidentin von der Leyen die Tradition gewordene Rede zur Lage der Europäischen Union halten (SotEU). Ich habe mir überlegt, welche außenpolitischen Akzentsetzungen ich mir von dieser Rede am meisten wünschen würde. Hier sind meine „Sieben SotEU-Wünsche“:

Wunsch eins: Ganz zentral ist nach wie vor die Frage, ob es gelingt, der Ukraine in ihrem Selbstverteidigungskampf gegen die russische Aggression zum Sieg zu verhelfen. Wie schwierig die Lage militärisch ist, das hat der Verlauf der ukrainischen Gegenoffensive über die letzten Wochen gezeigt. Deshalb sollte Frau von der Leyen unumwunden den Appell an alle EU-Mitgliedsstaaten formulieren, dass sie der Ukraine ohne weiteres Zögern die erforderlichen Waffensysteme, die erforderliche Munition und sonstige Unterstützung leisten. Frau von der Leyen sollte auch aussprechen, dass die EU willens ist, die Unterstützung für den Kampf der Ukraine „Trump-fest“ zu machen. Das heißt, nicht zuzulassen, dass eine eventuelle Einschränkung der bisher so wichtigen Unterstützung aus den USA zur Schwächung der ukrainischen Anstrengungen führt. Wir EuropäerInnen müssen die Fähigkeit entwickeln, im gegebenen Falle unsere Unterstützung entsprechend hochzufahren; darauf sollten sich alle vorbereiten. Zudem wünsche ich mir, dass Frau von der Leyen ein Bekenntnis abliefert zur Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine vor Ende des Jahres.

Wunsch zwei: Frau von der Leyen sollte eine fundamentale Neuanstrengung bei der EU-Erweiterungspolitik auf die Agenda setzen. Ziel muss es sein, bis 2030 die entsprechenden Beitrittsverhandlungen zu einem positiven Ergebnis zu führen. Konkret gibt es meines Erachtens drei unmittelbare Prioritäten. Gegenüber Serbien kann die EU nicht darauf verzichten, eine klare Orientierungsentscheidung zu verlangen. Wenn der autokratische Präsident Vučić sagt, sein Herz schlage für Moskau, aber sein Verstand blicke nach Brüssel, dann ist das eine Ambivalenz, die unter den heutigen Bedingungen nicht weiter hingenommen werden kann. Hic Rhodus, hic salta! Jetzt muss gesprungen werden. Daneben braucht es eine Korrektur der unfairen und strategisch extrem kurzsichtigen Politik der EU und der USA gegenüber Kosovo. Kosovo ist sicher heute schon mehr ein Partner der EU als Serbien. Wenn westliche Diplomaten das Gegenteil erzählen, liegen sie gründlich daneben. Und schließlich braucht es auch neue Energie zur Adressierung der gefährlichen Spannungen in Bosnien und Herzegowina, die insbesondere von der autonomen Republika Srpska ausgehen. Gerade hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein bedeutendes Urteil gesprochen, das wir nutzen sollten zur Erneuerung der Demokratie in dem Land. Das serbische – und kroatische – Beharren auf „ethno-territorialen“ Prinzipien ist mehr nationalistisch als demokratisch und muss überwunden werden.

Wunsch drei: Die EU hat es trotz mancher Bemühungen immer noch nicht geschafft, ihrem Nachbarkontinent Afrika gegenüber die lange versprochene Partnerschaft auf Augenhöhe konsequent zu realisieren. Das ist nicht nur eine Frage der Moral, der internationalen Gerechtigkeit, der Fairness, das ist auch eine geostrategische Frage. Diplomatisches Engagement mit Afrika im Rahmen eines „Team Europe“-Bemühens muss die Kommissionspräsidentin zu ihrer eigenen Sache machen. Dass die Afrikapolitik immer noch zum großen Teil als Frage der Entwicklungskooperation thematisiert wird, ist antiquiert und beschämend. Zentrale Themen könnten sein: Energiepartnerschaften, Partnerschaften bei der Förderung und Verarbeitung von kritischen Rohstoffen und Partnerschaften zur digitalen Konnektivität.

Wunsch vier: Das Wissen, dass Asien größer ist als China, ist in der EU zweifellos Gemeingut. Gerade um Japan und Indien oder um die Länder der ASEAN Gruppe, um Australien oder Südkorea haben wir uns in den vergangenen zwei Jahren mehr bemüht als je zuvor. Doch wir dürfen nicht stehen bleiben. Zwei konkrete Ziele schlage ich vor. Die vielfältigen Dialogformate mit Japan sollten zu einem Trade and Tech Council (TTC) zusammengeführt werden, wie wir ihn mit den USA und Indien schon haben. Und die Verhandlungen mit Indien über ein Freihandelsabkommen sollen so vorangetrieben werden, dass noch vor Ende der Legislaturperiode Nägeln mit Köpfen gemacht werden; selbst wenn die Verhandlungen nicht vollständig abgeschlossen werden können, muss ein Stand geschaffen werden, der ein Zurückfallen nicht mehr zulässt.

Wunsch fünf: Bezüglich der Einigkeit über europäische Chinapolitik hat es im zurückliegenden Jahr wichtige Fortschritte gegeben. Trotzdem kann man mit dem erreichten Stand nicht zufrieden sein. Positiv fallen insbesondere ins Gewicht die Chinarede von Frau von der Leyen vom 14. September 2022, die Chinastrategie der Bundesregierung und die Kommisionsstrategie zur wirtschaftlichen Sicherheit der EU. Negativ zu verbuchen sind immer wieder die Positionsbestimmungen einzelner wichtiger nationaler PolitikerInnen. Dabei sind vor allem Präsident Macron und Kanzler Scholz als Behinderer strategischer Klarheiten gegenüber China aufgefallen. In sehr großen Teilen der mittelständischen Wirtschaft, in der Öffentlichkeit, im Europäischen Parlament und bei vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen hat eine Chinapolitik, wie sie Frau von der Leyen vorschwebt, viel Unterstützung. Es käme darauf an, diese lose Allianz zur Wirkung zu bringen, gegenüber den chinapolitischen Nostalgikern in den Chefzentralen einiger großer Konzerne und in der Politik. Dazu wäre meines Erachtens eine breit angelegte chinapolitische Debatte in der Öffentlichkeit sehr hilfreich. Auch sollten wir die Taiwanfrage nicht nur als eine der Bedrohung der taiwanesischen Demokratie betrachten. Es geht um mehr. Die chinesische Aggression gegen Taiwan berührt die Sicherheit und Stabilität der indo-pazifischen Region, so wie die russische Aggression gegen die Ukraine die ganze europäische Sicherheit berührt. Wir Europäer haben ein eigenes Interesse an indo-pazifischer Stabilität.

Wunsch sechs: Frau von der Leyen selbst hat vor einiger Zeit ihre Global Gateway Initiative zu einem zentralen geostrategischen Thema ihrer Kommissionspräsidentschaft erklärt. Damit lag sie völlig richtig. Die Umsetzung der Strategie ist aber nicht so schnell vorangekommen, wie man hätte hoffen können. Im Jahr 2023 hat sich nun einiges positiv bewegt. Es käme jetzt darauf an, diese Entwicklung zu stärken und auf Dauer zu stellen. Dazu gehört nicht nur ein erfolgreiches Global Gateway Forum im Oktober und eine klarere Priorisierung von Leuchtturmprojekten, sondern auch mehr Werbung dafür, dass die EU-Mitgliedsstaaten, von denen die Mehrzahl bisher noch recht zögerlich agiert, mit eigenen Beiträgen an Bord kommen. Dafür sollte Frau von der Leyen in ihrer Rede Ziele markieren.

Wunsch sieben: Im transatlantischen Verhältnis geht es trotz der offenkundigen Notwendigkeit starker strategischer Kooperation keineswegs durchaus schiedlich–friedlich oder sogar gemütlich zu. Eine besonders negative Rolle spielt dabei die amerikanische Handels- und Industriepolitik, die den Multilateralismus hinter sich gelassen hat, den Protektionismus fröhlich Urständ feiern lässt und europäische Bemühungen um für beide Seiten tragbare Kompromisse etwa bei den Problemen im Stahl- und Aluminiumbereich nicht wirklich ernst zu nehmen scheint. Bidens ökonomische Politik konterkariert in Teilen offen das U.S.-amerikanische Bekenntnis zur Bedeutung der Partnerschaft. Diese Probleme sollen natürlich nicht dazu führen, dass Europa nun versucht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, aber einfach ja und amen sagen können wir dazu auch nicht. Wenn in den USA manche Stimmen so klingen, als sei die Hauptfrage für die internationalen Beziehungen, ob die USA ihre Stellung als globale Nummer Eins an China verlieren könnten oder nicht, dann irren diese. Zwar ist es aus europäischer Sicht leicht festzustellen, dass wir bei einer chinesischen Hegemonie die Verwirklichung böser Albträume zu erwarten hätten, die sich aus der systemischen Rivalität ergeben, welche wir mit den USA eben nicht haben. Aber andererseits geht es um viel mehr als nur das relative Verhältnis zwischen Washington und Peking. Es geht darum, ob der Multilateralismus eine Zukunft hat, ob die Prinzipien der UNO-Charta in Zukunft Relevanz behalten, ob das vielfach berufene internationale Recht wenigstens in wichtigen Bereichen verteidigt werden kann. Eine rein egoistische amerikanische Politik wäre bei dieser Aufgabe nicht hilfreich. Deshalb müssen wir unerlässlich um eine prinzipielle Gemeinsamkeit werben. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass Europa seinen eigenen fairen Beitrag leistet. Wer zum Beispiel glaubte, man könne auch in Zukunft unsere europäische Sicherheit im Wesentlichen an die USA outsourcen, der würde zur Destabilisierung des transatlantischen Verhältnisses beitragen. Die sich daraus ergebene Verantwortung klar auszusprechen, auch das würde ich mir von Frau von der Leyen wünschen.

SONST NOCH

  • In der nächsten Woche veranstalte ich am Donnerstag, dem 7. September gemeinsam mit meinen FraktionskollegInnen Alviina Alametsä und Ernest Urtasun eine Konferenz zum Thema „The new normal of European Security“ im Europäischen Parlament in Brüssel. Verfolgt werden kann die Veranstaltung vor Ort oder im LivestreamHier geht es zur Anmeldung.
  • In der letzten Woche fand das Gipfeltreffen der BRICS-Staatengruppe in Südafrika statt. Meine Pressemitteilung zu den Ergebnissen des Treffens.
  • Außerdem habe ich in der letzten Woche dem kosovarischen Sender RTK ein Interview zur aktuellen Lage vor Ort und zu den Beziehungen zur Europäischen Union gegeben. Das Interview findet sich hier.
  • Vom 26. bis zum 28. August habe ich am European Forum Alpbach teilgenommen und dort am 27. und 28. August auf zwei Panels gesprochen.
  • Diese Woche war eine Ausschuss-Woche in Brüssel. Meine Arbeit bestand aus mehreren Treffen des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten (AFET) zu verschiedenen außenpolitischen Themen (Haushalt, Niger, Indien und Ukraine).
  • Am 1. und 2. September tagt die Inter-Parliamentary Alliance on China (IPAC) in Prag. An dem Treffen nehmen mehr als 50 Personen ParlamentarierInnen teil, daneben MinisterInnen, ExpertInnen und MenschenrechtsaktivistInnen aus 30 Ländern. Ich spreche dort auf zwei Panels.

Titelbild: © European Union 2022 – Source : EP