Nach der Chinastrategie ist vor der Chinastrategie | BÜTIS WOCHE #256

Wenn die Auguren recht haben, dann wird das Bundeskabinett in der kommenden Woche – endlich! – die deutsche Chinastrategie beschließen, die ursprünglich einmal im Februar hätte vorgestellt werden sollen. Was lange währt, wird endlich – gut? Wir werden sehen. Vielleicht kann ja Außenministerin Annalena Baerbock schon am nächsten Donnerstag das Ergebnis ihres langen Ringens vor allem mit dem Kanzleramt der Öffentlichkeit präsentieren.

Einstweilen hat der Europäische Rat in seiner Sitzung Ende Juni eine strategische Diskussion über die Beziehungen der EU mit China geführt und dazu in insgesamt sechs Punkten gemeinsame Schlussfolgerungen veröffentlicht.

China-Strategiepapiere hat es in letzter Zeit etliche gegeben. Beim letzten Gymnich-Treffen der europäischen AußenministerInnen wurde ein Non-Paper der Europäischen Kommission vorgelegt, das von einem gar nicht dazu passenden Einleitungsschreiben von Josep Borrell, dem Hohen Repräsentanten der EU für die Außenpolitik, begleitet wurde. Außerdem hatte es im Rahmen des G7-Treffens in Hiroshima, Japan, einen gemeinsamen Chinatext der dort Beteiligten gegeben. Und schließlich hatte vor ihrem Chinabesuch zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten Macron EU-Kommissionpräsidentin von der Leyen mit ihrer viel zitierten Chinarede versucht, unter dem Begriff des De-Risking die Grundzüge einer gemeinsamen europäischen Position vorzuschlagen.

Nun also der Europäische Rat, das heißt das Konklave der 27 EU-Staats- und Regierungschefs. Um es ganz einfach zu sagen: Das Ergebnis des Europäischen Rates bleibt hinter den drei vorgenannten Positionsbestimmungen deutlich zurück. Wo wird wohl die deutsche Chinastrategie liegen? Beim Rat oder zwischen Rat und Kommission?

Die Position des Europäischen Rates geht davon aus, die EU und China hätten ein „gemeinsam geteiltes Interesse“ in der Verfolgung konstruktiver und stabiler Beziehungen. Der englische Wortlaut: “Despite their different political and economic systems, the European Union and China have a shared interest in pursuing constructive and stable relations, anchored in respect for the rules-based international order, balanced engagement and reciprocity,”. Zuvor war formelhaft die Partner–Wettbewerber–Rivale–Trilogie genannt worden. Tatsächlich aber entsorgt der Satz vom „shared interest“ die Wettbewerbs– und Rivalitätsdimensionen als weniger bedeutende Randbedingungen, die der Gemeinsamkeit in Konstruktivität und Stabilität nicht entgegenstehen. Das ist eine bemerkenswerte Positionierung, die meines Erachtens weniger die Realität abbildet als den Wunsch der Staats- und Regierungschef, die Realität zu beschönigen. Aber damit kritische Geister ein bisschen auch auf ihre Kosten kommen, ist von der „rules based international order“ die Rede sowie von einem balancierten Engagement und Reziprozität. Wird da tatsächlich behauptet, die EU-China-Gemeinsamkeit finde ihren Anker im Respekt für die “rules based order”? Keineswegs. Ich habe mir diesen komplizierten Satz erklären lassen. Gesagt werden soll damit angeblich, dass die europäische Seite gerne die Verankerung der Chinabeziehungen im internationalen Recht sähe und so weiter. Dass China damit nicht einverstanden ist – und zum Beispiel auch nicht mit ökonomischer Reziprozität –, das weiß natürlich jede und jeder, aber darauf kommt es hier nicht an. Es geht schlicht darum, das nackte Bekenntnis zu einer Reduktion der Chinapolitik auf „constructive and stable relations“ zu bemänteln. Dass man von solch einem Ausgangspunkt aus nicht mehr zu einer nüchternen Analyse der tatsächlichen Widersprüche zwischen China und der EU kommen kann, ist natürlich klar. Allerdings ist ja das der eigentliche Sinn der Übung.

In einem weiteren Absatz verspricht die EU, sie wolle China ermuntern, mehr für Klimapolitik, Biodiversität, Gesundheit, Pandemieabwehr, Lebensmittelsicherheit, Katastrophenbewältigung, Schuldenerleichterung und humanitäre Unterstützung zu tun. Weil ein frommer Wunsch keine konkreten Ziele und auch keine Mittel zu Realisierung braucht, folgen dann im Text auch keine.

Interessant ist der Absatz über die Wirtschaftsbeziehungen. Zunächst wiederholt er die Jahrzehnte alte europäische Hoffnung, es möge irgendwann zwischen China und der EU wirtschaftlich ein „level playing field“-Ende geben. Dass das playing field faktisch immer unebener wird, wird nicht ausdrücklich erwähnt. Erwähnt wird allerdings die Absicht, kritische Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten zu reduzieren sowie – „wo nötig und angemessen“ – De-Risking und Diversifizierung zu betreiben. Allerdings wird nicht gesagt, wer dieses De-Risking eigentlich betreiben solle. Offenbar war im Rat Olaf Scholz nicht der Einzige, der die Auffassung vertrat, man solle das gefälligst den Unternehmen überlassen. So hatte das bei den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen in Berlin der chinesische Premierminister verlangt. Offensichtlich waren im Rat nicht alle TeilnehmerInnen so folgsam wie Olaf, aber diese zentrale Differenz für eine reale Chinastrategie wurde im Text so weit weggebügelt, dass die Öffentlichkeit möglichst nicht gleich drauf kommt. Nicht zu übersehen ist dagegen, dass es bisher keine Unterstützung des Europäischen Rates gibt für die von der EU Kommission vorgelegte Strategie zur „economic security“. Das war etlichen Mitgliedern des Rates ganz offenkundig zu radikal. Radikal? Tatsächlich wurde das Wort mir gegenüber verwandt.

In den Ratsschlussfolgerungen finden sich dann noch Äußerungen zu Chinas Russlandpolitik samt der durchaus richtigen Forderung, China solle Druck auf Russland ausüben, damit dieses seinen Aggressionskrieg beende und seine Truppen aus der Ukraine zurückziehe. Es findet sich weiter eine Bemerkung über die wachsenden Spannung in der Taiwanstraße und die Europäische Opposition gegen jeden unilateralen Versuch den Status quo durch Gewalt oder Zwang zu verändern. Und es gibt selbstverständlich ein allgemeines, tatsächlich nur formelhaftes Bekenntnis, man wolle sich für den Respekt von Menschenrechten und fundamentalen Freiheiten einsetzten. Letzteres tut China bekanntlich überhaupt nicht. Weder gegenüber MenschenrechtsverteidigerInnen, noch bei Opfern von Zwangsarbeit, noch bei nationalen Minderheiten, nicht in Tibet oder Xinjiang oder Hongkong. Das wird zwar durchaus aufgezählt, aber mehr als Betroffenheit zu artikulieren, fand der Rat nicht notwendig. Da passt ein Zitat von Abraham Lincoln: “Weak as a soup made from the shadow of a pidgeon that died of starvation.”

Was kann man nach der Kenntnisnahme dieser Schwachheiten eigentlich für Schlussfolgerungen ziehen? Es ist wohl so: Es gibt in der EU im Grunde zwei Chinapolitiken. Eine wird vom Europäischen Parlament und von der Europäischen Kommission vertreten. Da gibt es durchaus Unterschiede, aber der kritische Grundton ist gemeinsam. Gleichzeitig gibt es eine zweite Chinapolitik des Europäischen Rates. Ich nenne es den Merkelismus in Permanenz. Diese Chinapolitik ist lendenlahm, beschönigend und mit den Chinapolitiken gleichgesinnter Partner wie Kanada, USA, Australien oder Japan unvereinbar. So far, so bad.

Vielleicht werden wir ja dann nächste Woche sehen, wo die deutsche Chinastrategie steht.

SONST NOCH

Der österreichischen Zeitung „Die Furche“ habe ich ein Interview zur Selbstviktimisierung Pekings gegeben. Das Interview kann hier gelesen werden.

Am Dienstag habe ich zwei Besuchergruppen im Europäischen Parlament in Brüssel empfangen. Zunächst eine Studierendengruppe der Universität Heidelberg und im Anschluss eine Gruppe interessierter BürgerInnen aus Thüringen.

Am Mittwoch habe ich mit meinen Mitarbeitenden ein Team-Meeting in Brüssel abgehalten.

Am Freitag stellt der Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Liao Yiwu sein Buch „Liebe in Zeiten Mao Zedings“ in Murnau am Staffelsee vor. Zu diesem Anlass werde ich ein Grußwort halten.

In der nächsten Woche tagt das Europäische Parlament in Straßburg. Hier geht es zur regelmäßig aktualisierten Tagesordnung.

Am Mittwoch, dem 12. Juli werde ich als Speaker Online-Podiumsdiskussion des Leibnitz Instituts für Friedens- und Konfliktforschung mit dem Titel „Die Risiken gegenüber China minimieren, aber wie?” teilnehmen. Die Veranstaltung beginnt um 18:30 Uhr und kann hier im Stream verfolgt werden.

Am Donnerstag, dem 13. Juli spreche ich auf einer Veranstaltung der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg in Stuttgart zu der Frage „Brauchen wir eine Politik der wirtschaftlichen Sicherheit?“– Perspektiven der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Baden-Württemberg und China.