In fast 14 Jahren im Europäischen Parlament habe ich noch nie einen stärkeren und herzlicheren Beifall für einen Gastredner erlebt, als ihn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gestern bekam. Mehrere Standing Ovations begleiteten seine Rede. Selenskyjs Besuch im Europäischen Parlament war von außerordentlich gewichtiger symbolischer Bedeutung, und er zögerte nicht, den AbgeordnetInnen für ihre sehr frühe, sehr konsistente und sehr geschlossene Unterstützung für den Kampf der Ukraine gegen die russische Aggression zu danken. Präsident Selenskyj warb aber selbstverständlich auch für noch stärkere Unterstützung. Und er bot den Vertreterinnen und Vertretern von 27 EU-Mitgliedsstaaten ein emphatisches, herausforderndes und stolzes Narrativ für die gemeinsame Arbeit am Projekt der europäischen Einigung an. Er trat nicht als Bittsteller auf, sondern betonte die Bedeutung des aktuellen Kampfes der Ukraine für die Wiederinkraftsetzung, ja Erneuerung der europäischen Erzählung.
Es waren vor allem vier Elemente von Selenskyjs Rede, die beeindruckten: Er sprach selbstbewusst von der „Heimkehr“ der Ukraine nach Europa. Er sprach davon, dass ganz Europa angesichts der russischen Aggression dabei sei, das Kämpfen für die eigene Zukunft neu zu lernen. Er richtete sich nicht nur an die politische Klasse oder irgendwelche Funktionseliten, sondern explizit an alle europäischen Bürgerinnen und Bürger. Er erneuerte die Rede vom „European Way of life“ als Quelle gemeinsamer Stärke.
Von der Heimkehr der Ukraine nach Europa zu sprechen, bedeutet für einen Großteil der EU einen fundamentalen Perspektivenwechsel. In der russischen Tradition wurde die Ukraine als für das russische Imperium erobertes Grenzland behandelt, ein Land minderer Bedeutung, ohne eigenständige Identität. Aus westeuropäischen Hauptstädten andererseits gab es lange Zeit einen recht distanzierten Blick auf die Ukraine. Deren Inklusion in das europäische Einigungswerk galt keineswegs als selbstverständlich. Groß waren die Zweifel wie sehr die Ukraine wohl zur EU passen würde. Vergessen war, außer in Polen, in Litauen und anderen Ländern Osteuropas, die Erinnerung an das europäische Erbe der Ukraine. Die Ukraine, das größte europäische Land diesseits des russischen Imperiums, spielte aber viele Jahrhunderte eine wichtige Rolle für die Herausbildung des Raumes, den wir heute Europa nennen. Indem er von Heimkehr sprach, knüpfte Präsident Selenskyj daran an. Er bedeutete seinem Publikum damit, dass die Ukraine nicht gnadenhalber gewährte europäische Randexistenz anstrebe, sondern eine aktive Rolle als mitgestaltender wichtiger Akteur. Tatsächlich: Wenn Putin nicht durchkommt, wenn die Ukraine, wie wir hoffen, siegt, dann lässt sich auch ihre EU-Mitgliedschaft nicht auf irgendeine lange Bank schieben. Dann verlagert sich nicht nur die Außengrenze der EU, es verschieben sich auch die Gewichte in der EU weiter; die EU wird noch weniger westeuropäisch und mehr wirklich gesamteuropäisch.
Präsident Selenskyj sprach nicht nur davon, wie die Menschen in der Ukraine für ihre Demokratie, ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung und Souveränität kämpfen er hob auch hervor, in der Unterstützung der Ukraine habe ganz Europa neu gelernt, dass es nötig ist, für die eigenen Werte zu kämpfen. Da dominierte nicht die Vorstellung von einem satten Europa, einem selbstzufriedenen, einem verzagten, einem hilflosen, sondern von einem Europa, das angefangen hat, sich selbst mit seiner Fähigkeit und Bereitschaft zu kämpfen, zu überraschen. Selenskyj sprach insoweit von einem Europa, das im Aufbruch ist, das nicht meint, seine größte Zukunft habe es hinter sich, das noch Mut fassen kann.
Dass Präsident Selenskyj sich nicht nur an die anwesenden Europaabgeordneten, nicht nur an die politische Klasse oder an sonstige Funktionseliten richtete, unterstrich er dadurch, dass er an einer Stelle ganz ausführlich alle Berufsgruppen aufzählte, auf deren Unterstützung und Hilfe er abzielte und für deren Solidarität er sich bedankte. Er nannte: große und kleine Unternehmer, Arbeiter von kleinen und großen Unternehmen, Handwerker, Bauern und Studenten, Künstler der verschiedensten Arten, einfach alle. Damit lieferte er seine handfeste Übersetzung des ehrwürdigen Mottos aus der altrömischen Republik: „Tua res agitur! Nostra res agitur!“ Es geht um deine Sache! Es geht um unsere Sache! Er propagierte damit das, was die Menschen in der Ukraine in bewundernswerter Weise praktizieren. Er warb dafür, wie Heinrich Böll es genannt hätte, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Das war eine wichtige Lektion im demokratischen Republikanismus.
Viertens, schließlich, holte Präsident Selenksyj den Begriff des „European Way of life“ aus der Versenkung und versuchte, ihm neues Leben einzuhauchen. The European Way of life, das war eine zukunftsfrohe Parole aus der Zeit, in der die EuropäerInnen etwa in der Lissabon-Strategie, Jahrgang 2000!, sich zum Ziel setzten, binnen 10 Jahren zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasiertesten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Das war aus der Zeit, als es an dem Motto der „Ever Closer Union“ Europas keine relevanten Zweifel gab. Als Europa im Vertrauen auf die eigene Stärke aktive Erweiterungspolitik betrieb und damit an Stärke zunahm. Ich glaube, seit der großen Wirtschaftskrise von 2008/ 2009 war vom European Way of life kaum noch die Rede gewesen. Euro-Optimismus und europäisches Selbstbewusstsein waren den nagenden Zweifeln an der Stabilität des europäischen Projektes und der selbstgeißlerischen Kritik an den Handlungsschwächen der EU zum Opfer gefallen. Präsident Selenksyj bezog sich, als er vom European Way of life sprach, vor allem auf die gemeinsamen Werte Europas und auf die Stärke, welche diese vermitteln können. Für alle VerächterInnen einer werteorientierten Politik und Fans des Pragmatismus war das auch eine Lektion. Werteorientierung ist nicht das Gegenteil des Pragmatismus, sondern seine Voraussetzung. Ohne Werteorientierung ist der Pragmatismus blind. Ohne Pragmatismus ist allerdings auch die Werteorientierung hilflos. Präsident Selenksyj kann für sich in Anspruch nehmen, dass er im letzten Jahr demonstriert hat, wie beides zusammen geht. Der European Way of life steht und geht auf diesen zwei Beinen.
Als Präsident Selenksyj seine Rede unter überragendem Beifall beendet hatte und zum Podium des Europaparlamentes zurückkehrte, packte Parlamentspräsidentin Roberta Metsola eine blaue Europafahne mit den zwölf Sternen aus und schlug ihm vor, diese gemeinsam hochzuhalten. Die ukrainische Nationalhymne wurde gespielt und dann die europäische Hymne. Wolodymyr Selenskyj stand am Anfang noch etwas seitlich von der Europafahne. Doch dann schien ihm zu Bewusstsein zu kommen, dass er mit dieser Rede sozusagen nach Europa zurückgekehrt war und er stellte sich freundlich grüßend neben Frau Metsola hinter die blaue Fahne.
War es ein historischer Moment? Vielleicht, das entscheiden ja nicht die ZeitgenossInnen, sondern die Nachgeborenen. Abraham Lincolns Rede in Gettysburg, die berühmteste aller seiner Reden, war den anwesenden ZeitgenossInnen nicht als das Juwel aufgefallen, das sie war. Selenksyjs Rede im Europäischen Parlament war auf jeden Fall außerordentlich bewegend, sie ging ans Grundsätzliche, sie bot Orientierung. Ich vermute, wenn die Ukraine mit unserer Hilfe gewinnt, wird sie zu den historischen Momenten dieser großen europäischen Auseinandersetzung gehören.
SONST NOCH
Am Montag, dem 6. Februar, habe ich am Neujahrsempfang in der baden-württembergischen Landesvertretung in Brüssel teilgenommen.
Am Dienstag, dem 7. Februar, bin ich als Speaker auf einer Veranstaltung der Wirtschaftsvereinigung Metalle e.V. und des Instituts der deutschen Wirtschaft zu den Herausforderungen der europäischen Handels- und Rohstoffpolitik aufgetreten.
Außerdem habe ich eine Gruppe von LehrerInnen in Begleitung von Jugendoffizieren der Bundeswehr aus Nürnberg in Brüssel empfangen und mit ihnen über die sicherheitspolitischen Herausforderungen Europas im 21. Jahrhundert gesprochen.
Meine Pressemitteilung zum EU-Sondergipfel in Brüssel findet sich hier.
Mein Pressestatement zum Treffen von EU-DiplomatInnen mit Erkin Tuniyaz, dem Gouverneur Xinjiangs.
In der nächsten Woche ist Plenarwoche in Straßburg, hier geht es zur regelmäßig aktualisierten Tagesordnung.
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