Ukraine und Taiwan | Bütis Woche #229

Was für Wladimir Putin die Ukraine ist, das ist für Xi Jingping Taiwan. Jedenfalls in verschiedenen Hinsichten. Putins Vorstellung von der imperialen Größe und Ambition Russlands kommt ohne die Unterordnung der Ukraine unter das „brüderliche“ Joch nicht aus. Xi Jingpings Traum von der „Wiederverjüngung der chinesischen Nation“ und von der „Rückkehr“ Chinas auf den als angestammt empfundenen Platz in der internationalen Ordnung geht ohne die Eingliederung Taiwans in die Volksrepublik nicht auf. Die Ukraine hat ein erhebliches industrielles Gewicht und ein Gewicht als globaler Handelspartner. Dasselbe gilt für Taiwan. Putin betrachtet die Beziehungen Russlands zur Ukraine als interne Angelegenheit in der „russischen Welt“. Xi Jinping besteht darauf, dass die Unterordnung Taiwans unter Pekings Regie eine ausschließlich innere Angelegenheit Chinas sei. Putins Griff nach der Ukraine löst wesentliche und weiterreichende Konsequenzen aus und untergräbt fundamental die gesamte europäische Stabilitätsarchitektur. Xi Jinpings Unterwerfung Taiwans hätte offenkundig extrem bedeutsame, weitreichende Auswirkungen und würde das Bündnissystem der Ordnungsmacht USA im Indopazifik wohl zerstören. In dem einen Fall wie in dem anderen handelt es sich um einen Konflikt zwischen einer bedrohten Demokratie und einem aggressiven Autoritarismus. Eine weitere Parallele ist die: Zynische Anhänger vermeintlicher Realpolitik werden unverblümt dafür sein, zu akzeptieren, dass die Zukunft der Ukraine wie die Zukunft Taiwans jeweils in den Händen der nach Bevölkerungszahl, Bruttoregistertonnen und Waffenausstattung überlegenen Nachbarn liege und liegen müsse.

Die Ukraine-Taiwan-Parallelität ist mir seit dem 24. Februar in vielen Diskussionen begegnet. Oft in fatalistischer Form, manchmal verzweifelt, häufig ängstlich, selten optimistisch. Ich weigere mich allerdings hier nur schwarz zu sehen. Erstens, weil der heldenmütige Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen Russlands Aggression in Verbindung mit der engagierten Unterstützung für Kiew aus den USA, Großbritannien, der Europäischen Union und anderen demokratischen Staaten die Propheten des „westlichen Niedergangs“ und allzu überzeugte Vertreter historischer Zwangsläufigkeiten nun seit mehr als 15 Wochen schlecht aussehen lässt. Zweitens, weil sich Geschichte nie wiederholt, sondern allenfalls reimt. Gewiss wird Xi Jinping aus Putins Erfahrungen lernen wollen, doch niemand hindert die TaiwanerInnen und uns daran, aus den ebenso bitteren wie ermutigenden Erfahrungen der Ukraine zu lernen. Und dies so gut zu tun, dass sich die Parameter im Kampf um Taiwans Zukunft gründlich verschieben.

Zugegeben würde Peking heute, morgen oder zu Ende diesen Jahres Taiwan militärisch angreifen, dann wäre wohl leider bei Weitem kein ähnlich starker, wenn auch immer noch begrenzter europäischer Konsens über wirtschaftliche Sanktionen zustande zu bringen, wie dies im Falle Russland möglich war. Aber das europäische Bewusstsein über die Relevanz Taiwans wächst gehörig; in Taiwans Kalender hat das Jahr 2014 noch nicht stattgefunden; die Haltung zu Taiwan ist nicht in einem Teil der öffentlichen Meinung Europas so durch Anschmiegsamkeit an Xi Jinping vergiftet, wie es die Haltung gegenüber der Ukraine durch Putin-Verstehereien gewesen ist. Und: Chinas Weg als Supermacht verfügt über mehr Instrumente als Putins Kampf um Russlands Weltgeltung. China ist nicht auf die militärische Karte so angewiesen wie Putin, um mächtig zu sein.

Bei der Ukraine hat Europa, jedenfalls dessen dominanter Teil, in großer geostrategischer Blindheit dem aggressiven Treiben Russlands sehr lange keine angemessene Aufmerksamkeit gewidmet. Die deutsche Bundesregierung hat dem russischen Zaren sogar jahrelang absichtsvoll ins Blatt gespielt. Und es waren übrigens beileibe nicht nur SPD-Leute, die dafür Verantwortung tragen. Die vielen Fragen danach, was die Ukraine-Erfahrung wohl für Taiwan bedeuten möge, zeigen aber, dass bezüglich der selbstverwalteten Insel zwischen Ostchinesischem und Südchinesischem Meer die Wahrnehmung großer strategischer Gefahr früher erwacht ist. Im Falle Russlands glaubten entscheidende Meinungsträger und Meinungsmacher noch bis vor Kurzem, dass Dialog und Partnerschaft die einzigen Dimensionen der Beziehung zu sein hätten. Gegenüber China dagegen hat sich in den letzten drei Jahren zunehmend ein Konsens herausgebildet, dass die strategische Rivalität zwischen uns und der Volksrepublik die ausschlaggebende Kategorie für unsere Beziehungen darstellt. Russland, würde ich sagen, wurde in seiner imperialen Ambition auch wegen europäischer Arroganz unterschätzt; die Volksrepublik China und die hegemonialen Ambitionen ihrer Führung unterschätzt kaum jemand. Andererseits sind ökonomische Abhängigkeiten, vor allem die einiger sehr großer europäischer Konzerne, gegenüber China außerordentlich relevant und lassen sich gewiss nicht durch Fingerschnipsen auflösen. Ein Konzern wie VW, der vielleicht 40 Prozent seines Umsatzes in China macht und 50 Prozent seiner Gewinne dort erwirtschaftet, kann gegenüber diesem Land nicht einfach auf dem Absatz kehrt machen. Man kann zwar fordern, und ich tue das, dass Firmen wie VW oder BASF sich wegen der chinesischen Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang aus dieser autonomen Region zurückziehen. Aber die Vorstellung, sie könnten den chinesischen Markt insgesamt einfach aufgeben, ist fern jeder Realität. Und eine generelle Entkopplung unserer Wirtschaften ist aus meiner Sicht jedenfalls gar kein positives Ziel für europäische Politik.

Die Frage ist also, mit welcher Politik und auch mit welcher ökonomischen Methode kann es möglich sein, das zunehmende Bewusstsein von der notwendigen Solidarität mit der Demokratie Taiwans zu einem Eckpunkt europäischer Chinapolitik zu machen, ohne an Hindernissen zu scheitern, die sich aus ökonomischen Abhängigkeiten ergeben. Wichtig ist dabei, das Ziel klar im Auge zu haben. Es geht nicht um eine Unabhängigkeit Taiwans. Es geht nicht darum, von Europa aus oder von den USA aus vorzugeben, wie sich die Beziehungen über die Straße von Taiwan hinweg entwickeln sollen. Es geht darum, möglichst zu verhindern, dass diese Beziehungen durch einseitige Aktionen, im schlimmsten Fall militärischer Art, rücksichtslos verändert werden; Veränderungen des Status quo darf es nur im gegenseitigen Einvernehmen geben, wenn man nicht will, dass aus den Spannungen zwischen der Volksrepublik China und Taiwan die Eskalation gefährlicher, global destabilisierender Risiken erwächst. Das ist nicht vorstellbar, ich will das wiederholen, ohne ein großes Maß internationaler Solidarität mit Taiwan. Die Führung in Peking muss lernen zu verstehen, dass sie den Aufstieg Chinas insgesamt riskieren könnte, wenn sie sich zu einer abenteuerlichen Politik gegenüber Taiwan hinreissen ließe. Abschreckung spielt dabei eine Rolle. Abschreckung durch die Selbstverteidigungsfähigkeit Taiwans; durch die militärische Unterstützung der USA für Taiwan; auch durch eine europäische Politik, die Peking klar wissen lässt, dass eine Aggression gegen Taiwan einen außerordentlich hohen politischen und ökonomischen Preis hätte. Aber Abschreckung sollte auch ergänzt werden durch ein Argument, das an Chinas Ehrgeiz zu einer Großmacht aufzusteigen ansetzt. Das heißt für Peking plausibel zu machen, dass „historische Geduld“, wie sie vor langer Zeit Deng Xiaoping gegenüber Taiwan predigte, eine bessere Option ist als der Weg der Aggression. Denn auf dem würde sich die Volksrepublik soviel Gegenwind einfangen, dass sie sich selbst um jede Chance auf Vollendung des so heiß ersehnten Aufstiegs brächte. Europa hat in der Auseinandersetzung um die Zukunft Taiwans eine Rolle zu spielen, ich glaube nicht, dass das eine militärische Rolle ist. Für uns sind politische und ökonomische Instrumente ausschlaggebend, aber zunächst einmal muss Europa diese Rolle spielen wollen, und dann müssen wir dafür sorgen, dass dieser Wille nicht durch die zwei Motivationen untergraben wird, die in der Vergangenheit unsere Chinapolitik vor allem angetrieben haben: Furcht und Gier.


SONST NOCH

  • Im Rahmen des Ronald S. Lauder Fellowship Diplomacy Summit habe ich mich mit jungen jüdischen Studierenden in Brüssel getroffen und mit ihnen über die politische Arbeit von Internationalen Organisationen gesprochen.
  • Dem Südwestdeutschen Rundfunk habe ich ein Interview  zum Öl-Embargo der Europäischen Union gegen Russland gegeben. 
  • Am Donnerstag empfange ich eine Besuchergruppe des Grünen Thüringer Landesverbandes in Brüssel.
  • Anlässlich des 35. European Green Party Council reise ich nach Riga, um mich Mitgliedern der Europäischen Grünen Partei auszutauschen.
  • Nächste Woche ist Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Straßbrug, die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung findet Ihr hier
  • Außerdem nehme ich in der nächsten Woche am Shangri-La-Dialogue in Singapur teil.