Grüner Besuch in Amerika | BÜTIS WOCHE #216

Die erste Reise von Außenministerin Annalena Baerbock im neuen Jahr 2022 führte sie am 5. Januar in die U.S.A. Der Besuch, bei dem sie U.S.-Außenminister Blinken traf und die Vorsitzende des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi, dauerte nur etwa acht Stunden. Aber es gelang Annalena Baerbock in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Tony Blinken ein klares, gegenwärtig besonders wichtiges Signal der deutsch-amerikanischen Geschlossenheit deutlich zu machen. Ganz diplomatisch formuliert: So deutlich wie sie macht das gegenwärtig kein anderes Mitglied der Bundesregierung. 

Als ich in der Woche vor Weihnachten zum ersten Mal seit fast zwei Jahren wieder Washington besuchen konnte, war ich dort auf positive Erwartungen an die neue Bundesregierung gestoßen. Diese richteten sich insbesondere an die Grüne Adresse. Es war in der U.S.-Hauptstadt durchaus aufgefallen, dass wir Grüne mit unseren Prioritäten bei der Politik gegen den Klimawandel, bei der ökologisch-digitalen Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft und bei unserem festen Eintreten für Menschenrechte und die internationale Herrschaft des Rechts ein interessanter und willkommener Regierungspartner in Berlin zu sein versprechen. Unsere, im Unterschied zu CDU/CSU und SPD wesentlich deutlichere, Position gegenüber den aggressiven Politiken aus Moskau oder aus Peking und unser Bekenntnis zu europäischer Geschlossenheit – Nord Stream 2 lässt grüßen! – haben sicher auch nicht geschadet. Natürlich werden wir auf Dauer zeigen müssen, dass wir nicht nur ankündigen, sondern auch umsetzen können. Dabei hat Annalena Baerbock durchaus einen guten Anfang gemacht.

Annalena schrieb in einer Erklärung vor ihrem Aufbruch nach Washington, sie fahre zu diesem Zeitpunkt auch „als Demokratin“ dorthin. Damit spielte sie auf den Jahrestag des Trumpschen Putschversuches vom 06. Januar 2021 an. Wir Europäer haben gegenüber den U.S.A. gewiss wenig Grund zur Hochnäsigkeit, wenn es um die Durchsetzung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards geht. In der EU liegt dabei, nicht nur in Ungarn und Polen, durchaus auch vieles im Argen. Und trotzdem ist es ein nicht überwundener Schock gewesen, als vor einem Jahr in der ältesten Demokratie der Welt ein demokratisches Grundprinzip, nämlich der friedliche Machtwechsel von einem Wahlverlierer zu einem Wahlgewinner, sehr handfest infrage gestellt wurde. In Brüssel höre ich öfter die Frage, wie sehr man angesichts der inneren Zerrissenheit sich aus EU-Perspektive noch auf die U.S.A. verlassen könne. Aber auch in den U.S.A. selbst ist jener 6. Januar ein Jahr danach noch keineswegs überwunden.

Ungefähr 60 Prozent der Anhänger der Republikanischen Partei erklären nach wie vor, Präsident Biden habe Trump den Wahlsieg gestohlen. Das Establishment der Republikanischen Partei distanziert sich so weit wie möglich von jedem Ansatz eines parteiübergreifenden Gedenkens und einer parteiübergreifenden Absage gegen jeden Versuch zur Untergrabung der amerikanischen Verfassung. In etwa einem Drittel der Bundesstaaten sind im letzten Jahr die Wahlgesetze von republikanischen Mehrheiten so geändert worden, dass bei den Zwischenwahlen in diesem November und bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024 die Ergebnisse durch Unterdrückung von Stimmabgabe und möglicherweise auch durch politisch motivierte Manipulation der festgestellten Wahlresultate verändert werden können. Erst in letzter Minute hat Donald Trump eine Pressekonferenz an diesem 6. Januar abgesagt, die er ursprünglich, Provokation ohnegleichen, parallel zum Gedenken im Kongress veranstalten wollte. Mir sind inzwischen etliche Artikel untergekommen, in denen vor einem erneuten Putschversuch nach der nächsten Präsidentschaftswahl gewarnt wurde. Manche schreiben, die Vorbereitungen dafür seien schon im Gange. Erst kürzlich äußerten drei amerikanische Ex-Generäle, das Militär müsse Sorge dafür tragen, dass nach der nächsten Präsidentschaftswahl die Befehlskette nicht breche und nicht militärische Kräfte für verschiedene Kandidaten als behauptete Wahlgewinner Stellung beziehen. Das allgemeine Urteil politischer Analytiker und journalistischer Beobachter lautet, dass die U.S.A. heute noch mehr gespalten seien als vor einem Jahr.

Ich habe bei meinem Besuch in Washington natürlich versucht, auch andere Stimmen zu finden, auch hoffnungsvollere Zeichen zu entdecken. Und es gibt ein paar. Die Zahl der Amerikanerinnen und Amerikaner, die Trump treu ergeben sind, ist über das zurückliegende Jahr zurückgegangen. Die Zahl derjenigen, die bekunden, Biden sei kein legitimer Präsident, desgleichen. Durchaus prominente konservative Umfragespezialisten, die ich traf, Karlyn Bowman und Frank Luntz, äußerten beide aufgrund ihrer Analysen die Einschätzung, dass Trump, falls er 2024 erneut antrete, durchaus schlagbar sei. Aus der Republikanischen Partei, die auf allen Ebenen vollständig von Trump und seinen fanatischen Anhängern kontrolliert zu sein scheint, die mehr als eine radikale und undemokratische Bewegung daherkommt denn als eine Partei, die sich auf den republikanischen Gedanken berufen kann, aus dieser Partei heraus gibt es durchaus Zeichen, dass die Gefolgschaftstreue gegenüber Trump dann prekär werden kann, wenn die Mehrzahl der dort versammelten Opportunisten nicht mehr überzeugt ist, für ihre eigene Karriere bedingungslos auf Trump angewiesen zu sein. War die für die Republikaner erfolgreiche Gouverneurswahl in Virginia, in der der Kandidat nicht als Radikalinski auftrat, schon ein Zeichen dafür? Kann Liz Cheney, die Tochter des Vizepräsidenten von George W. Bush aus Wyoming, die sich inzwischen zur lautesten Trump-Kritikerin unter den republikanischen Kongressabgeordneten gemausert hat, den Bann brechen, wenn sie ihren Parlamentssitz gegen die sie jagende Trump-Meute verteidigt? Kann der Untersuchungsausschuss im Repräsentantenhaus zu den Ereignissen des 6. Januar, von dem heute viele sagen, außerhalb der Hauptstadt, außerhalb des Beltway interessiere sich niemand dafür, eine Meinungswende bewerkstelligen, indem er dokumentiert, wie viele erzkonservative Persönlichkeiten Trump an jenem 6. Januar inständig aber fruchtlos gebeten hatten, den Angriff seiner Anhänger auf den Kongress zu stoppen? Es ist klug, vorsichtig und skeptisch zu sein. Unklug aber wäre es, sich dem Fatalismus zu ergeben. Hatte nicht am 6. Januar der bigotte, ansonsten weitgehend farblose und Trump-ergebene Vizepräsident Pence seinem gelbhaarigen Boss einen dicken Strich durch die politische Rechnung gemacht? Hatte nicht die von Trump gestopfte konservative Mehrheit im Supreme Court, genauso wie viele andere Gerichte, Trumps Zumutungen in Bezug auf die Wahl zurückgewiesen? Ich glaube, die Resilienz und Erneuerungsfähigkeit der amerikanischen Demokratie ist noch nicht erschöpft.

Ob eine verheißungsvollere Zukunft möglich ist, hängt natürlich nicht nur an den Republikanern, sondern auch daran, was das Lager der Demokraten zustande bringt, was insbesondere Präsident Biden erreichen kann. Er befindet sich in einer verteufelt schwierigen Lage. Einerseits war seine Wahl kein starkes programmatisches Mandat für eine große transformatorische Erneuerung. Andererseits kann er ohne eine solche Erneuerung, die tief greift, keinen neuen Horizont auftun. Mit seinem Infrastrukturprogramm von gigantischen Ausmaßen hat er tatsächlich viel erreicht. Allein die Umweltagentur EPA bekommt aus diesem Programm zusätzlich 60 Milliarden Dollar. Doch kommunikativ war der Umgang der Demokraten mit diesem Erfolg ein Desaster. Und noch desaströser war, dass sie sich beim Zurechtschneidern eines zweiten, noch größeren Programmes mit sozialen Maßnahmen so gründlich selber zerlegt haben, dass dieses Paket gegen die Wand fuhr. Dabei waren die wichtigsten Bestandteile dieses Reformversuches weithin populär, selbst unter republikanischen Mehrheiten. Die demokratische Linke und die demokratische Rechte haben an dieser Blamage beide einen gerüttelten Anteil Verantwortung zu tragen. Dabei hatte Biden mit seinen Programmen den richtigen Weg gewählt, indem er ein neues Narrativ schuf.

Seit Präsident Reagan hatte in den U.S.A. das Dogma vorgeherrscht, dass der Staat und vor allem der Bundesstaat nur Ursache der Probleme der amerikanischen Gesellschaft sei, nicht Teil von deren Lösung. Biden hat dem in der Tradition der Präsidenten Roosevelt („New Deal“) und Johnson („Great Society“) die Botschaft entgegengesetzt, dass es den Staat brauche, um die Übel anzugehen, dass ein starker Staat notwendig ist. Schwach ist er allerdings darin, den Unterschied herauszuarbeiten zwischen einem Staat, der stark ist darin, den Bürgerinnen und Bürgern zu helfen, und einem Staat, der stark sein will darin, den Bürgerinnen und Bürgern Vorschriften zu machen. Gewiss, die Unterscheidung ist nicht immer einfach. Beispiele von linksradikaler Begeisterung bei einem Teil des progressiven Flügels der Demokraten spielen der Polemik gegen Bidens Programm ins Blatt, während auf dem konservativen Flügel der Demokraten die Glaubwürdigkeit von Bidens Politik dadurch untergraben wird, dass die Verteidigung von Bürgerfreiheit allzu schnell mit der Verteidigung von Sonderinteressen mächtiger Lobbys gleichgesetzt wird.

In den wenigen Monaten bis zu den Midterm Elections im November kann sich natürlich noch viel tun. Doch von meinen Gesprächspartnern in Washington bestritt niemand die Erwartung, dass die Republikaner dann mindestens die Mehrheit im Abgeordnetenhaus zurückgewinnen könnten. Ein guter Freund betonte interessanterweise den Generationenaspekt. Es sei eine große Schwäche der Demokraten, dass sie von einer Gerontokratie geführt würden. Wie dem auch sei. Selbst ein Verlust beider Häuser des Kongresses bedeutete kein endgültiges Urteil über die Präsidentschaft von Biden. Clinton verlor seine Midterms nach zwei Jahren und wurde glänzend wiedergewählt. Obama desgleichen.

Biden kann mit exekutivem Handeln durchaus viel bewegen am Kongress vorbei, wie das auch alle seine Vorgänger getan haben. Es wird darauf ankommen, ob er beim Einsetzen dieser Macht zwei schwer kompatibel zu machende Ziele doch unter einen Hut bekommt: die Botschaft von der Dringlichkeit gründlicher Reformen und die Botschaft, dass der entsprechende Wandel zugleich so dimensioniert und administriert wird, dass das verdaubar bleibt für diejenigen, die Wandel ebenso herbeisehnen, wie sie ihn fürchten. 

Ich glaube übrigens nicht daran, dass seine innenpolitischen Schwierigkeiten die außenpolitische Handlungsfähigkeit und -bereitschaft Bidens massiv unterminieren werden. Umgekehrt rechne ich eher darauf, dass Biden, ähnlich wie in Frankreich Macron das tut, versuchen wird, innenpolitischen Schwierigkeiten auch dadurch zu begegnen, dass er auf außenpolitische Erfolge setzt. In der aktuellen Krise angesichts der russischen Drohungen gegen die Ukraine und ganz Ost- und Mitteleuropa jedenfalls hat Präsident Biden seine Führungsverantwortung wirksam wahrgenommen. Wir Europäer wollen hoffen, dass das so bleibt, und das nicht deswegen, weil wir uns dahinter verstecken können, sondern weil uns die harte Realität demonstriert, dass wir uns auf europäische „strategische Autonomie“ alleine nicht verlassen können angesichts der Herausforderungen, die Putin oder auch Xi Jinping uns präsentieren.

Sonst noch

  • Russlands oberstes Gericht hat am 28.12.2021 die Menschenrechtsorganisation Memorial verboten. Bereits im November hatte ich gemeinsam mit 64 Europaabgeordneten aus sechs verschiedenen Fraktionen eine gemeinsame Erklärung zur Verteidigung der russischen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL unterzeichnet. Die Antwort von Charles Michel ist hier zu finden.
  • Am 5. Januar habe ich im Deutschlandfunk mit Jan-Werner Müller (Universität Princeton), Juliane Schäuble (Tagesspiegel) und Doris Simon (Deutschlandfunk) in der Sendung „Ein Jahr nach dem Sturm aufs Kapitol: Wie gefährdet ist die US-amerikanische Demokratie?“ diskutiert. 
  • „Eine mutigere Außenpolitik ist möglich“ – ein interessanter Artikel im Magazin „Internationale Politik“. Und tatsächlich ist die China-Politik der Dreh- und Angelpunkt der nötigen Neuorientierung.
  • Am 11.1. spreche ich bei der Online-Diskussion „How does the EU’s Global Gateway plan compare to China’s Belt and Road initiative?“ des Thinktanks Bruegel. Weitere Informationen, die Möglichkeit zur Anmeldung sowie den Livestream findet Ihr hier.