Mein Blick in die Kristallkugel | BÜTIS WOCHE #214

„Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“ So sagt man. Aber natürlich: Angesichts der Bildung der neuen Regierung, an der wir beteiligt sein werden, und angesichts der Verantwortung, die wir als Grüne Partei damit übernehmen, schweifen die Gedanken voraus. Werden wir erfolgreich sein? Werden wir enttäuschen? Was wird an Unerwartetem passieren, das unseren Vorhaben entweder Flügel verleiht oder im Weg steht? Die meisten Versuche, sehr weit vorauszuschauen, gehen trefflich schief. Churchill hat gesagt: „It is a mistake to try to look too far ahead. The chain of destiny can only be grasped one link at a time.“

Vielleicht ist trotzdem der Versuch zulässig, zwölf Monate nach vorne zu schauen. Es ist ein Blick in die Kristallkugel und darin scheinen auch nur einige wenige Perspektiven auf. Aber ich will das Experiment machen und biete ein paar Gedankensplitter an, die vielleicht in einem Jahresrückblick 2022 Platz finden könnten.

Erstens: Die Union. CDU-Vorsitzender Friedrich Merz, der schon bald nach seiner Inthronisierung durch die Niederlage bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen in die Defensive geraten war, hat es nicht geschafft, die Union aus dem Umfragekeller zu holen. Die harte, geradezu unnachsichtige Oppositionspolitik der Union im Bundesrat schadet zu seiner Überraschung seinem eigenen Laden jedenfalls nicht weniger als der Koalition. Wo Angela Merkel die Union durch eine exekutiv aufgezwungene nachlaufende Modernisierung immer wieder so weit anschlussfähig an die gesellschaftlichen Entwicklungen gehalten hatte, dass die Union ihre Regierungsoption nicht verlor, hat Merz, in dem Irrglauben, die Union zu sich selbst zurückführen zu können, indem er sich vom Merkelismus abgrenzt, die Suche nach dem kürzesten Weg durch die Wüste der Bedeutungslosigkeit ins gelobte Land der Exekutivverantwortung deutlich verlängert. Ohne zeitgemäße Themen und ohne wirklich attraktives Personal griff er im November 2022 zu der überraschenden Ankündigung, er werde Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für die Europawahl im Mai 2024 als Spitzenkandidatin der Union und der EVP vorschlagen. Von der Leyen hat das Angebot noch nicht angenommen, aber den Orientierungsstreit in der Union hat es noch einmal verschärft.

Zweitens: Präsident Biden. Präsident Biden hat es nicht geschafft, seine Demokratische Partei so zu einen, dass aus ihr heraus ein hegemoniefähiges Narrativ hätte entstehen können. Wesentliche Teile seiner innenpolitischen Reformagenda blieben in den Drahtverhauen des gespaltenen Kongresses hängen. In ihrer Verzweiflung machten die Demokraten die Abtreibungsfrage (Roe vs. Wade) und reaktionäre Entscheidungen des Supreme Court dazu zum Hauptthema in den midterm elections, konnten damit aber nicht durchdringen. Sie verloren 40 Sitze im Haus und sind auch noch mit einer republikanischen Senatsmehrheit konfrontiert. Allerdings sind diese demokratischen Niederlagen weniger Wasser auf die Mühlen von Donald Trump und seinen Radikalinskis, als erwartet worden war. Trumps Ansehen und das seiner Fanatiker ist durch die Untersuchungen zu den Vorgängen am 6. Januar 2021 doch noch weithin in Verruf geraten. Es zeichnet sich ab, dass die Republikaner für 2024 einen vergleichsweise gemäßigten Kandidaten aufstellen könnten. Auf demokratischer Seite dagegen erwarten die meisten Beobachter, dass Kamala Harris antreten will, und die wenigsten geben ihr eine Siegchance.

Drittens: Orbán Viktor. Der ungarische Premierminister ist in Europa der große Verlierer des Jahres. Gegen eine sehr heterogene Oppositionskoalition von weit rechts bis ziemlich weit links unter Führung des konservativen Kleinstadtbürgermeisters Péter Márki-Zay hat er, wie kaum gehofft, die Wahl verloren. Dieser Ausgang hat die Chance, zu einem Wellenbrecher zu werden gegen die Woge des Populismus und der illiberalen Politik innerhalb der EU. Mitverantwortlich für den Sieg der Opposition waren von der EU-Betrugsbehörde OLAF vorgelegte Beweise über weitgehende Korruption und missbräuchliche Verwendung europäischer Gelder auf der Grundlage des von der EU eingeführten Rechtsstaatsmechanismus. Die ersten Prozesse gegen Orbáns Freunde sind schon terminiert. In der EU hat der Schock über die Korruptionsenthüllungen in Verbindung mit weiteren Leaks über die Geschäfte russischer Oligarchen endlich dazu geführt, dass Antikorruptionspolitik an die Spitze der politischen Agenda katapultiert wurde. Polens ideologischer und politischer Führer Kaczyński hat damit die ungarische Rückendeckung gegen Kapitel-7-Maßnahmen der EU verloren und ist seinerseits deswegen massiv unter Druck geraten. In der PiS entwickelt sich eine politische Spaltung zwischen den konservativen Reformern und den konservativen Revolutionären. Die Wahl 2023 erscheint weit offen.

Viertens: Westbalkan. Der Serben-Führer in Bosnien und Herzegowina, Dodik, hat nach jahrelanger Vorbereitung die Desintegration des Landes faktisch vollzogen. Das Ergebnis des Friedensvertrages von Dayton ist damit revidiert. Das Land gibt es nur noch auf dem Papier. Faktisch ist es zerfallen. Dodik vollzog diese Schritte angesichts nur zögerlicher Gegenwehr aus Brüssel mit expliziter Unterstützung Serbiens, Russlands und Chinas. Kroatien spielte dabei die Rolle eines feixenden Krisengewinnlers. Diese dramatische Niederlage der EU- und der U.S.A.-Politik hat in der zuvor völlig festgefahrenen Erweiterungspolitik der EU zu einem fundamentalen Umdenken geführt. Die Duldsamkeit gegenüber Serbiens Politik ist zu Ende. Serbiens Beitrittsverhandlungen sind völlig unterbrochen, die Beitrittsperspektiven ad calendas graecas vertag. Dagegen wurde die Tür für einen beschleunigten Prozess mit Nordmazedonien, Albanien, Montenegro und Kosovo aufgestoßen, um die völlige Destabilisierung des Westbalkans zu verhindern. Der Teil Bosnien-Herzegowinas jenseits der Republika Srpska befindet sich derzeit de facto im Zustand eines EU-Protektorats, aber immerhin stabilisiert durch zusätzliche europäische Truppen und durch Visafreiheit für junge Menschen unter 30 Jahren. 

Fünftens: Steuermann Xi. Chinas Militär-, Partei- und Staatschef Xi hat auf dem 20. Parteitag der KP auch noch die letzten panegyrischen Titel errungen, die bis dahin nur Mao vorbehalten gewesen waren. Dazu gehört auch: „Der große Steuermann“. Beim Parteitag wurden mehr als 60 Prozent der Mitglieder des Zentralkomitees ausgewechselt. Li Keqiang, bis dahin als Regierungschef die Nummer zwei, wurde wegen wirtschaftspolitischer Differenzen aus dem Machtzentrum verdrängt. Xi Jinping verkündete erstmals indirekt ein Datum, bis zu dem Taiwan mit dem Festland wiedervereinigt sein müsse: 2035. Die amerikanisch-chinesischen Spannungen sind auch deswegen nicht zurückgegangen. China sieht sich aufgrund der Häufung von Krisen auf dem afrikanischen Kontinent zum ersten Mal einer breiteren Kritik afrikanischer Staatsführer ausgesetzt wegen der ungleichen Handels- und Investitionsbeziehungen. In der EU gibt es eine zunehmende Debatte über die drohende Sinisierung europäischer Unternehmen in China. Die China-Politik großer deutscher Konzerne sieht sich dem wachsenden Vorwurf ausgesetzt, gesamtwirtschaftliche Perspektiven und Fragen der nationalen Sicherheit zu wenig zu beachten. Angela Merkel, die als Kanzlerin zuletzt als „China-Versteherin“ gegolten hatte, hat sich aus ihrem Ruhestand heraus in gewohnt milden abgewogenen, aber doch erstaunlich deutlichen Worten gegen Naivität in der China-Politik gewandt. 

Und was ist mit der Klimapolitik? Wie gehen die innenpolitischen Reformen voran, die sich die Ampel-Koalition vorgenommen hat? Wie hat sich der Konflikt zwischen SPD und FDP einerseits und uns andererseits um die Verkehrspolitik entwickelt? Zu diesen und vielen anderen Fragen sagt meine Kristallkugel nichts. Aber vielleicht Eure. Lasst hören. 


Sonst noch

  • Traditionell berichte ich in meinen Plenarnotizen über die Plenartagung der vergangenen Woche. Thema der Woche war die sogenannte Agrar“reform“, wobei es eigentlich ein Skandal ist, das Ergebnis als Reform zu bezeichnen.
  • 65 Europaabgeordnete aus sechs verschiedenen Fraktionen haben eine gemeinsame Erklärung zur Verteidigung der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial unterzeichnet. 
  • Am 24.11. habe ich mit den beiden Europaabgeordneten Michael Gahler and Petras Auštrevičius die Online-Diskussion „Challenging Nord Stream 2“ veranstaltet. Hier die Aufzeichnung.
  • Reinhard Bütikofer – grüner China-Politiker will härtere Linie – mein Interview mit dem SRF.
  • Meine Pressemitteilung zur Vorstellung der „Global Gateway Strategy“ könnt Ihr hier nachlesen.
  • Am 7.12 veranstalte ich ein Webinar zum Thema “Chinese Party Politics after the 6th Plenum” mit mir diskutieren Johnny Erling (Journalist) und Richard McGregor (Lowy Institute). Hier geht es zur Anmeldung. 
  • Am 7.12. spreche ich bei der digitalen Vortragsreihe „Welche Zukunft hat Europa? Gespräche zu 30 Jahren Europäische Union“ zum Thema „Europa in der Welt – Globales Schwergewicht oder Spielball fremder Mächte?“. Weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung findet Ihr hier.
  • Am 8.12 stellt Bertram Lang seine Studie “Addressing the Civil Society Blindspot in European China Policy” vor. Die Veranstaltung wird von Christina Sadeler moderiert. Hier gibt es mehr Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung.