Das 20-jährige militärische und politische Afghanistan-Engagement der U.S.A., Deutschlands und einer großen Zahl anderer Länder erlebt in diesen Tagen ein dramatisches, bitteres Debakel. Die Hauptleidtragenden sind die Menschen in Afghanistan, vor allem die Frauen. Wir stehen vor einer humanitären und strategischen Katastrophe. Die triumphale Rückkehr der Taliban nach Kabul wirft die Frage auf, ob irgendeine der vorzeigbaren Errungenschaften von 20 Jahren Afghanistan-Politik bewahrt werden kann oder ob das Land und die Weltgemeinschaft sich mit der Gefahr befassen müssen, dass Afghanistan wieder Hort wird einer unseligen Allianz zwischen islamistischer Reaktion, tribalistischer Konfusion und terroristischer Aggression.
Die Frage, was wann, wie schief lief, und warum, und wer dafür die Verantwortung trägt, muss uns noch intensiv beschäftigen. Sie darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Der Einschnitt, den diese Erfahrung darstellt, ist zu schwerwiegend dafür. Wir brauchen in der kommenden Legislaturperiode nicht nur den bisher schon von Grünen, FDP und Linkspartei geforderten Untersuchungsausschuss zu dem katastrophalen Management des internationalen Abzugs aus Afghanistan, sondern wir brauchen auch eine breitere Debatte um die Implikationen dieses Geschehens für die generelle Perspektive europäischer Außenpolitik.
Aktuell stehen die hektischen Bemühungen im Vordergrund, doch noch so viel als möglich europäische Bürgerinnen und Bürger sowie gefährdete Afghaninnen und Afghanen über den Flughafen Kabul aus dem Lande in Sicherheit zu bringen. Dabei wissen wir schon, dass wir Tausende, die diesen Schutz erflehen und denen wir ihn auch schulden, werden zurücklassen müssen, weil der Abzug der U.S.-Truppen bis zum 31. August unwiderruflich ist. Es ist eine Schande, dass wir so planlos und konfus in diese Lage hineingestolpert sind. Es war keineswegs unvermeidlich. Eine Mischung aus politisch motivierten Flüchtlingsabwehrreflexen, aus wechselseitiger bürokratischer Behinderung verschiedener zuständiger Behörden und aus mangelnder Vorsorge und Voraussicht, für die in Deutschland das ganze Bundeskabinett und die Mehrheit des Bundestages die Verantwortung tragen, aber insbesondere die Kanzlerin, Vizekanzler Scholz, Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, Außenminister Maas und Innenminister Seehofer, hat dazu geführt, dass Deutschland kollektiv versagte, gegebene Schutzversprechen brach, die oft proklamierten eigenen Werte faktisch mit Füßen trat und so enorm viel Glaubwürdigkeit verspielte. Marcus Grotian vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte hat das zu Recht mit sehr großer Schärfe und Authentizität kritisiert. Dass in Berlin bisher niemand bereit ist, dafür politische Verantwortung zu übernehmen und nicht nur Ausreden vor sich herzutragen wie eine tibetanische Gebetsmühle, ist belämmernd.
Nachdenken müssen wir allerdings auch darüber, dass, als die Dringlichkeit, Tausende Menschen auszufliegen, bei der Berliner Regierung schließlich angekommen war, die Handlungsmöglichkeiten unverrückbar dadurch bestimmt wurden, was unser Bündnispartner U.S.A. militärisch zu gewährleisten willens war. Ich will an dieser Stelle nicht streiten, ob Präsident Biden seine Truppen unbedingt eine oder zwei Wochen länger den Kabuler Flughafen hätte sichern lassen müssen. Vielleicht war das de facto angesichts der Gesamtumstände gar nicht möglich. Aber die böse Tatsache ist, dass Europas Regierungen, einschließlich der deutschen, darüber gar nicht rechten mussten, weil Biden eben entschied und Europa die Kraft nicht hatte, auf eigene Verantwortung eine Alternative zu präsentieren. Europa, das so gern über den französischen Lieblingsbegriff der strategischen Autonomie philosophiert, war nicht nur nicht autonom, sondern schlicht gar nicht handlungsfähig. Das Wort autonom beinhaltet die griechischen Worte für selbst = autós und Gesetz = nómos. Autonom zu handeln, das bedeutet, nur nach eigenem Gesetz zu handeln. Das ist eine verblasene Illusion, klingt wie ein spätes Echo nationalstaatlicher Selbstherrlichkeit des 19. Jahrhunderts. Das ist in der vielfach verflochtenen Welt von heute eine riskante Ambition. Hohe Handlungsfähigkeit brauchen wir, ja, klar höhere als heute, aber Autonomie nicht. Die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU beginnt übrigens nicht erst am Kabuler Flughafen. Sie drückt sich darin aus, dass es den Mitgliedstaaten nicht gelang, eine gemeinsam organisierte Evakuierungsmission durchzuführen, und dass in Brüssel niemand auf die Idee kam, die seit 20 Jahren gültige Temporary Protection Directive der EU in diesem Krisenfall, für den sie eigentlich gut passte, anzuwenden. Die Europäer agierten, als gehe es um die Demonstration von Kleinstaaterei und Hühnerhofgerenne samt dem entsprechenden Gegacker. Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, hat nun in einer Pressekonferenz daraus die leider wenig überraschende Konsequenz gezogen – weitere Diskussion um strategische Autonomie zu organisieren. Ich fürchte, da geht er in die Irre.
Über Prinzipien und Grundsätze strategischer Autonomie ist in den letzten Jahren eher zu viel als zu wenig diskutiert worden. Tatsächlich ginge es viel mehr um die konkrete Schaffung von europäischer Handlungsfähigkeit, ich wiederhole mich, durch Kooperation und Bündelung der vorhandenen Instrumente und Kapazitäten. Die Theorie europäischer Souveränität ist nichts wert ohne die konkrete Praxis der Organisation von gemeinsamer europäischer Tatkraft. Die Bereitschaft zu dieser praktischen Gemeinsamkeit vermissen zu lassen und dafür dann von Autonomie und Souveränität zu träumen, das ist lächerlich.
Es ist nicht zu verkennen, dass die Rede von Autonomie und europäischer Souveränität nie so viel Konjunktur bekommen hätte, wie das in den letzten Jahren der Fall war, wenn nicht die Zweifel an der Verlässlichkeit der transatlantischen Allianz von Washington aus, vor allem und ganz gezielt durch Präsident Trump, geradezu gezüchtet worden wären. Präsident Biden hatte Trumps rüden Umgang mit den Verbündeten und Alliierten, insbesondere auch den europäischen und gerade den deutschen, scharf kritisiert und die Rückkehr zur Zusammenarbeit mit den Partnern ins Zentrum seiner außenpolitischen Ankündigungen gerückt. Doch was bis vor kurzem noch eher vorsichtig, teilweise auch nur hinter vorgehaltener Hand kritisiert wurde, das hat Biden durch sein Vorgehen beim Afghanistan-Abzug unübersehbar und unumgehbar mitten auf die Agenda gesetzt: Er will schon mit den Partnern arbeiten, aber entschieden wird auch in seiner Politik eben in Washington.
Bei einer Videokonferenz Grüner Außenpolitikerinnen und Außenpolitiker aus zwölf europäischen Ländern, die ich diese Woche zum Afghanistan-Thema zusammen mit dem finnischen Außenminister Pekka Haavisto organisiert habe, wurde diese Kritik besonders von den Kolleginnen und Kollegen aus Großbritannien betont. Nun liegt die Verantwortung dafür, dass wir Europäer nicht die militärischen Fähigkeiten und nicht den Koordinierungswillen haben, um gegebenenfalls einen Flughafen wie den in Kabul sichern zu können, bis eine humanitäre Evakuierung stattgefunden hat, nicht in den U.S.A. Aber die Verantwortung dafür, dass angesichts einer Weltlage, in der nicht nur wir Europäer sicherheitspolitisch und geostrategisch weiterhin auf die U.S.A. angewiesen sind, sondern diese auch in wesentlich höherem Maße als jemals in den letzten sieben Jahrzehnte auf ihre Verbündeten, dass in einer solchen Lage strategische Entscheidungen nicht gemeinsam getroffen werden, sondern die U.S.A. einen Führungsanspruch praktizieren, wie sie ihn in der Zeit vor Trump und Xi Jinping gewohnt waren, diese Verantwortung ist eine der U.S.A.
Ich sehe im Grunde drei Optionen dafür, wie Europa im transatlantischen Verhältnis mit den geostrategischen Gegebenheiten umgehen und Schlussfolgerungen aus dem ziehen kann, was wir ja nicht nur im afghanischen Fall erleben. Wir können, erstens, uns auf Prinzip und Praxis einer erneuerten Partnerschaft verständigen, welche europäischen Gestaltungswillen und U.S.-amerikanische Bereitschaft zu „Partnership in Leadership“ einschließt. Oder wir können, zweitens, als Europäer in Kleinstaaterei verharren und geostrategisch resignieren, vielleicht ein bisschen Schaukelpolitik betreiben und im Wesentlichen abwarten, was der hegemoniale Wettlauf zwischen den U.S.A. und China uns so bringt. Oder wir können, drittens, der Illusion strategischer Autonomie oder einer Supermacht Europa hinterherlaufen, um irgendwann dann doch, nach hinreichend vielen kostspieligen Erfahrungen, einzugestehen, dass es diese Perspektive realiter nicht gibt. Ich bin entschieden für die erste Variante.
Wohlmeinende verstehen höhere europäische Handlungsfähigkeit als den realistischen Kern der Autonomiedebatte. Entscheidend ist dabei aber, dass diese nicht als Alternative zu strategischer Kooperation über den Atlantik oder aus Frust darüber, dass es diese nicht hinreichend gibt, sondern als Teil davon entwickelt wird. Allerdings muss auch Washington seinen Teil beitragen, damit dieser Weg funktioniert. Ich habe mich in der Vergangenheit mehrfach daran gerieben, dass die Kanzlerin und der französische Präsident Macron Bidens Werben um transatlantischen Schulterschluss eher die kalte Schulter gezeigt haben. Ich bleibe dabei. Aber gleichzeitig ist richtig, dass diese Haltung, die oft in die Sorge vor der Rückkehr von Trump gekleidet wird, letztlich nicht wirksam überwunden werden kann, wenn die U.S.A. nicht besser verstehen, wie sie in der Welt von heute ihre Führungsrolle spielen müssen.
Afghanistan bietet genug Anlass, diese Fragen zu reflektieren. Wir sollten das transatlantisch nicht versäumen. Eine ganz praktische Gelegenheit, diesen Weg aktiv einzuschlagen, bestünde in der Causa Afghanistan darin, eine internationale humanitäre Afghanistan-Konferenz zusammen zu organisieren, die sich um weitere Ausreisemöglichkeiten aus dem Land, um stabilisierende Unterstützung für die Nachbarstaaten, um fortdauernde Hilfe für die Millionen Binnenvertriebenen in Afghanistan, um ein ernsthaftes Menschenrechts-Monitoring und um die Verabredung von Resettlement-Kontingenten verständigte.
Sonst noch
- Meine Pressemitteilung zur Evakuierung gefährdeter Personen aus Afghanistan findet Ihr hier und zur außerordentlichen Sitzung der AFET- und DEVE-Ausschüsse zu Afghanistan am 19. August hier.
- Mein Gespräch mit dem SWR zu Afghanistan könnt Ihr hier nachhören.
- Merkels China-Politik ist eigentümlich veraltet – mein Interview in der Augsburger Allgemeinen.
- Nord Stream 2 unterliegt vor Gericht – meine Pressemitteilung zur Entscheidung des OLG Düsseldorf.
- Am 29.8. nehme ich an der Veranstaltung „30 Jahre Weimarer Dreieck“ in Weimar teil. Die Veranstaltung wird per Livestream übertragen.