#201 StandWithHongKong | BÜTIS WOCHE

Dass Hongkong fundamentale Einschränkungen in seiner politischen Ordnung bevorstehen würden, das musste man annehmen, als vor einem Jahr das sogenannte nationale Sicherheitsgesetz über die Stadt verhängt wurde. Um den Charakter dieses Gesetzes zu verstehen, sollte man es wohl besser als Staatssicherheitsgesetz bezeichnen, als Stasi-Gesetz. Es hat sich tatsächlich in der Praxis als Allzweckwaffe erwiesen, um jegliche kritische Meinung zu unterdrücken. Charakteristisch für ein Unrechtsregime, wie China es ist, war schon das Zustandekommen des Gesetzes. Es wurde als Geheimsache behandelt, bis es verabschiedet war. Es wurde von Peking verabschiedet, obwohl nach dem Hongkonger Grundgesetz Peking dafür gar nicht zuständig war. Und es wurde ohne die nach Hongkonger Recht vorgesehenen öffentlichen Anhörungen durchgepeitscht. Die offizielle Propaganda verkündete unterdessen, es gehe nur darum, einigen besonders schlimmen „terroristischen“ Übeltätern das Handwerk zu legen. Allerdings musste schon zu jenem Zeitpunkt auffallen, dass die KP-Medien die Hongkonger Demokratiebewegung insgesamt als terroristisch diffamierten.

In einem berühmten Lied aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heißt es: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei.“ Der Freund der Gedankenfreiheit, der da sprach, bezog sich auf ein Repressionssystem, in dem Gedanken nur so lange frei waren, wie sie nicht öffentlich artikuliert wurden: „Ich denke, was ich will und was mich beglücket, doch alles in der Still, und wie es sich schicket.“ Eine solche Realität will die KP Chinas in Hongkong auch etablieren: Gedanken, die völlig privatisiert werden; die um ihre Wirkung gebracht werden, weil keiner sie äußern darf. Frei geäußerte freie Gedanken aber gefährden die Staatssicherheit und müssen deswegen rabiat verfolgt werden. Es darf keinen öffentlichen Platz geben für Gedanken, die nicht von der Partei vorgekaut und dann zum Nachsprechen vorgegeben sind. 

Dieses Prinzip der Unfreiheit wird in Hongkong heute flächendeckend durchgesetzt. Demonstrationen werden verboten, wobei die Lächerlichkeit der Ausreden Teil des Systems ist: Die Menschen sollen daran gewöhnt werden, dass staatliche Willkür nicht begründungspflichtig ist. Transparente werden verboten. Flugblätter werden verboten. Lehrerinnen und Lehrern wird vorgeschrieben, was sie im Unterricht noch sagen dürfen. Es werden Denunziationstelefone eingerichtet, damit der Nachbar die Nachbarin verpfeifen kann, wenn sie sich keck äußern sollte. Das freie Wort hat in der Legislativversammlung keinen Raum mehr. Die Demokraten sind hinausgesäubert. Und für die Zukunft wird sichergestellt, dass niemand, die oder der je ein freies Wort geäußert hat oder im Verdacht steht, ein solches möglicherweise formulieren zu wollen, überhaupt zur Kandidatur vordringen darf. Richtern, die nach Recht und Gesetz entscheiden wollen, wird klar gemacht, dass ein solches Vorgehen nun der Vergangenheit angehören müsse. Und jetzt hat pünktlich zum Jahrestag der Unterdrückung die Pekinger Führung entschieden, dass die einzige übrig gebliebene demokratische Zeitung Hongkongs, Apple Daily, die ungefähr 600.000 Abonnentinnen und Abonnenten hatte, nicht weiter existieren darf. Ihr Besitzer, Jimmy Lai, sitzt schon eine ganze Weile im Gefängnis und wird zu immer weiteren Strafen verurteilt. Alle führenden Köpfe der Zeitung wurden festgenommen, zuletzt ihr Chefkommentator. Die Konten sind gesperrt. Am Donnerstag, 24. Juni 2021 ist Apple Daily zum letzten Mal erschienen.

Wenn das freie Wort verboten ist und die Regierung bestimmt, was als Wahrheit zu gelten habe, heißt das natürlich nicht, dass die Menschen die Wahrheit nicht mehr kennen und erkennen. Deswegen ist völlig absehbar, dass es große Propagandakampagnen geben wird, um die Köpfe zu vernebeln, um die jungen Menschen zum Vergessen dessen zu erziehen, was in Hongkong z. B. seit 1989 immer wieder zur Erinnerung an das Tiananmen-Massaker in Peking öffentlich gesagt worden war. Hongkong soll eine Stadt werden mit genauso wenig Freiheiten wie jede andere auf dem chinesischen Festland. Die Versprechen, die bei der Übergabe Hongkongs an die Volksrepublik China 1997 gemacht worden waren, dass bestimmte klar definierte Freiheiten wie die Pressefreiheit auf 50 Jahre garantiert sein würden, die werden behandelt wie der Kehricht aus einer dreckigen Stube.

Diese Erfahrung macht traurig und wütend zugleich. Doch hilft weder hochfahrende Rhetorik noch der 137. Appell an die vermeintliche Vernunft der Pekinger Führung, die doch unbedingt ihre Versprechungen aus der chinesisch-britischen Erklärung von 1984 und aus dem Hongkonger Grundgesetz erfüllen müsse. Peking hat sich entschieden, sich um die Stimme des Auslandes und um internationales Recht nicht zu scheren. Und trotzdem wäre es ganz falsch, jetzt einfach das Buch zuzuklappen, die Sache für verloren zu geben, die Hongkonger Demokratinnen und Demokraten in Vergessenheit geraten zu lassen, und wenn das Thema zur Sprache kommt, müde mit den Schultern zu zucken. Auf drei Ebenen können wir handeln und China Grenzen aufzeigen, auch wenn keine der denkbaren Maßnahmen eine baldige Umkehr der Verhältnisse in Hongkong ermöglichen wird. 

Wir können und müssen den heroischen Kampf Hongkongs um Demokratie, die die Stadt noch nie voll besaß, in Erinnerung halten, so wie Europa nach 1956 den Kampf der Ungarn um ihre Freiheit auch im Angesicht der Sowjet-Panzer in lebendiger Erinnerung hielt. Hongkong ist wie Tibet, wie Xinjiang, wie die Unterdrückung von Christen und anderen Religionen, wie die Verweigerung zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation in China ein Fanal für den Charakter des chinesischen Systems. Die Normalisierung der systematischen Unterdrückung in den Augen der kritischen Weltöffentlichkeit darf den Pekinger Machthabern nicht gelingen. Dazu müssen z. B. auch die Hongkonger Stimmen, die es geschafft haben, nach Europa, nach Taiwan oder in die U.S.A. zu gelangen, hörbar bleiben. Zum Zweiten muss Chinas internationaler Rechtsbruch auf der Agenda bleiben. Hongkong ist ja nicht der einzige Fall, in dem das KP-Regime unter Beweis gestellt hat, dass es sich an Rechtsverpflichtungen internationaler Art nur so lange und so weit hält, wie diese als nützlich erscheinen oder die Machtmittel noch nicht gegeben sind, diese zu ignorieren. Es ist nicht egal, ob darüber auf diplomatischer Ebene geredet wird oder nicht. Die Hohe Pforte in Istanbul hat in osmanischer Zeit viele Jahre lang immer wieder bei diplomatischen Empfängen daran erinnert, dass die Auslöschung der polnischen Adelsrepublik Ende des 18. Jahrhunderts durch die reaktionäre Allianz von Russland, Preußen und Österreich nicht vergessen wird. Die U.S.A. haben nach der Annexion der baltischen Länder durch die Sowjetunion Anfang der 1940er Jahre dies nie anerkannt. In der Diplomatie gelten Worte viel. Die internationale Gemeinschaft muss diese Worte immer wieder finden. Und drittens sollten wir uns darum kümmern, dass keine neue Komplizenschaft entsteht zwischen den Unterdrückern der Freiheit und denjenigen, die über diese Unterdrückung gerne hinwegsehen möchten, solange jedenfalls die Gewinne stimmen. Wenn der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie sagt, deutsche Unternehmen sollten bei ihren Geschäften in China die Menschenrechte nicht vergessen, dann hat er Recht und gilt das auch für Hongkong.

Übrigens erteilt uns die Geschichte der Zerstörung der Freiheiten Hongkongs eine wichtige Lektion im künftigen Umgang mit China. Die Politik der Unterdrückung, des Nichteinhaltens von Versprechungen begann in Hongkong nicht erst vor zwei Jahren als Reaktion auf die demokratische Bewegung, sondern die demokratische Bewegung war Resultat der Enttäuschung über einen langjährigen Kurs Pekings in dem Stück für Stück, Schritt für Schritt, Steinchen für Steinchen die Basis gelegt wurde für eine immer stärkere Kontrolle der Kommunistischen Partei über die Stadt. Chinas Führung besitzt eine große Expertise darin fundamentale Veränderungen mit langem Atem und einem gradualistischen Herangehen herbeizuführen. Jeder einzelne Schritt ist für sich genommen nicht provokativ genug um große Reaktionen auszulösen, aber das Ausbleiben von Reaktionen erlaubt es Peking immer wieder die Maßstäbe zu verschieben, die Provokationen von gestern zur selbstverständlichen Realität von Heute zu erklären und zum Ausgangspunkt für neue Provokationen. Genauso ist es auch im südchinesischen Meer gelaufen, genauso betreibt China es mit seiner Seidenstraßen-Strategie oder mit seinem Vorgehen im UN-System. Dieser chinesischen Salamitaktik müssen wir angemessen zu antworten lernen. Wir brauchen einen Gradualismus der Verteidigung gegen chinesische Übergriffe. Jeder einzelne chinesische Übergriff muss Kosten für Peking verursachen. Es ist im Nachhinein müßig sich an der Frage abzuarbeiten was seit 2019 hätte getan werden können, um eine andere Entwicklung in Hongkong zu ermöglichen. Aber es ist wohl unbestreitbar, dass die Europäer und die USA nicht rechtzeitig angefangen haben überhaupt Chinas langfristige Strategie ernstzunehmen. Zu viele wollten glauben, dass China strategisch auf einem Kompromisskurs sei. Das wenigstens wissen wir jetzt. Peking folgt einer imperialen Logik. 


Dieser 1. Juli ist für Hongkong ein trauriger Jahrestag. Aber ein Regime, das sogar das freie Wort fürchten muss, ist nicht auf ewig festgefügt. So, wie es ist, bleibt es nicht.

Sonst noch

  • In einem gemeinsamen Statement mit weiteren VertreterInnen aus dem Ostseeraum bringe ich meine Ablehnung des Pipeline-Projekts Nord Stream 2 zum Ausdruck.
  • Ernsthafte Sanktionen statt symbolischer Nadelstiche – meine Pressemitteilung zum neuen Paket von Sanktionen gegen Belarus.
  • Gemeinsam mit Bernhard Stengele, Landessprecher von Bündnis 90/Die Grünen Thüringen, habe ich eine Pressemitteilung zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion herausgegeben.
  • Die gemeinsame Pressemitteilung mit meinem Grünen Kollegen Sergey Lagodinsky zu den EU-Russland-Beziehungen im Vorfeld des Gipfeltreffens der EU-Staats- und Regierungschefs findet Ihr hier.
  • Am 26. und 27.6. nehme ich an der Landesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen Thüringen teil. Wir werden u. a. die Landesliste zur Bundestagswahl aufstellen und das Landtagswahlprogramm verabschieden. Hiergibt es weitere Informationen und einen Link zum Live-Stream. 
  • Am 28.6. spreche ich bei der Online-Veranstaltung „NATO for Trade“ der „China Research Group“. Nähere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung sind hier zu finden.
  • Am 29.6. nehme ich an „POLITICO’S Competitive Europe Summit“ teil und werde zum Thema „EU-China dream strategy: What does the future hold?“ diskutieren. Weitere Informationen, die Möglichkeit zur Anmeldung und den Live-Stream findet Ihr hier.