#200 Standardisierung | BÜTIS WOCHE

Viele Menschen, die Standardisierung im Bereich der Wirtschaft für ein überaus spannendes, ja sogar für ein Thema mit politischem Sex-Appeal halten, gibt es bisher wahrscheinlich nicht. Standardisierungsfragen sind für Spezialisten, für technische Nerds oder für DIN-Beamte. Oder? Ich glaube aber, die radikale Gegenposition zu diesem Vorurteil bekommt gerade wachsenden Zulauf. Sie heißt: Standardisierungsfragen sind Machtfragen, sind Fragen von geostrategischer Bedeutung, Fragen, bei denen es ums große Ganze geht; sie betreffen den Kern des Technologiewettlaufes, der die nächsten 20 bis 30 Jahre prägen wird und für die Verteilung von Einfluss und Wohlstand in der Zukunft zentral ist. Wir müssen uns energisch um diese Fragen kümmern.

Der Siemens-Gründer Werner von Siemens soll einmal gesagt haben: „Wer die Standards setzt, der kontrolliert den Markt.“ Mir fiel das ein, als ich kürzlich in Neustadt an der Weinstraße an der Außenmauer der Stiftskirche zwei Brezelmaße eingeritzt fand. (Für alle Bayern sei gesagt: Die Brezel ist ursprünglich eine pfälzische Errungenschaft. Dass sie heute gerne bayerisch daherkommt, hat mit der verwirrenden Geschichte der Wittelsbacher Dynastie zu tun, ändert am pfälzischen Brezel-Primat aber gar nichts.) Eingeritzt worden waren die Brezelformate, eines für die Alltagsbrezel und eines für die Sonntagsbrezel, weil direkt an der Kirche der mittelalterliche Markt stattfand und weil es auf diese transparente Weise für die Bäckerkundschaft möglich war, zu kontrollieren, ob sie standardgemäßes Handwerk angeboten bekam. Siemens sprach zu einer ganz anderen Zeit in der Phase der deutschen Industrialisierung von weit größeren, nicht mehr nur lokalen Märkten. Die Festsetzung von Standards wurde nationales Geschäft und die Industrien, die bei der Definition von Standards Einfluss nehmen konnten, gewannen damit offensichtlich Durchsetzungsmacht am Markt. Im Zuge der vielphasigen Globalisierung blieb es nicht bei nationalen Standards. Wer offene globale Märkte will, tut gut daran, sich um multilateral verabredete Standardsetzung zu bemühen. Die Länder Europas waren in diesem Bereich insgesamt besonders erfolgreich, doch heute gibt es Tendenzen für Entwicklung von Neonationalismus bei industriellen Standards und Tendenzen der Nutzung von Standardisierung als Waffe im sich entwickelnden Technologie- und Systemkonflikt.

Europas Standardisierungswelt ist eine ganz eigene. An ihrer Basis stehen industriebasierte nationale Standardisierungsorganisationen wie in Deutschland etwa das DIN, das Deutsche Institut für Normung. DIN-Normen kennt ja jeder. Auf der Basis nationaler Standards werden wiederum industriegeführt gemeinsame europäische Standards entwickelt, wobei die Standardisierungsorganisationen CEN-CENELEC und ETSI darauf achten, dass bei der Standardisierung auch Gesichtspunkte der kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie Anliegen von ArbeitnehmerInnen, VerbraucherInnen und ökologische Gesichtspunkte einbezogen werden. Der vielfältige, inklusive Charakter des europäischen Standardisierungssystems gilt als seine Stärke. Andererseits wird seit langem geklagt, dass die Prozesse zur Standarderarbeitung in Europa zu langsam seien. Das ist eine Art von Urteil, wie es sie in allen gesellschaftlichen Bereichen gibt: Mit Fakten ist manchmal der Kritik schwer beizukommen. Fakt ist z. B., dass im vergangenen Jahr annähernd 300 neue gemeinsame europäische Standards entwickelt wurden, was durchaus beachtlich ist. Doch will ich nicht abstreiten, dass wir sicher auch öfter mal nicht flink genug sind. Europäische oder auch nationale Standards werden dann vielfach genutzt, um auf ihrer Basis im Rahmen der International Organization for Standardization (ISO) und der International Electrotechnical Commission (IEC) internationale Standards zu entwickeln. Weil Europa traditionell industriestark gewesen ist, haben europäische Standards bei der globalen Standardisierung eine besonders starke Rolle gespielt. Zum Nachteil europäischer Wirtschaft war das natürlich nicht.

Die U.S.A. haben traditionell ein ganz anderes Standardisierungssystem, das ich hier nicht beschreiben will. Aber während der TTIP-Verhandlungen z. B. sorgten die großen Unterschiede zwischen den U.S.A. und der EU dafür, dass man bei Standardisierungsfragen sehr schnell nicht mehr vorankam. China seinerseits hat sich, als das Land sich aufmachte, Industrienation zu werden, stark vom europäischen Standardisierungssystem beeinflussen lassen. Und China hat sich auch energisch darum bemüht, in internationalen Standardisierungsorganisationen eine immer aktivere Rolle zu spielen, bis hin dazu, dass der ISO-Präsident dann ein Chinese war. Inzwischen allerdings hat das Land seine Strategie verändert. China ist nach wie vor in internationalen Standardisierungsorganisationen engagiert, aber Peking versucht gleichzeitig, Organisationen, in denen es sich eine starke Stellung erkämpft hat, wie die International Telecommunication Union (ITU), zu nutzen, um Standards nach eigener politischer Prioritätensetzung zu forcieren. Bei Telekommunikationsstandards z. B. war jetzt einige Zeit international heftig umstritten, ob entsprechend einem vor allem von Huawei und der chinesischen Regierung favorisierten Modell für ein Internet 2.0 Regelungen getroffen werden sollen, die einen Abschaltknopf für Zensurbehörden zum integralen Bestandteil internationaler Standardisierung machen. Standards, das merkt man an einem solchen Beispiel, sind keine rein technische Angelegenheit. Fragen der Wertorientierung spielen bei der Entwicklung von Standards durchaus eine Rolle. Dazu gehört ja auch, wie oben erwähnt, die Frage, ob man darauf besteht, dass Gesichtspunkte des Schutzes von ArbeitnehmerInnen durch deren systematische Einbeziehung bei der Standardsetzung einen Wert zugeteilt bekommen. Eine zweite Pekinger Strategie entwickelt sich im Zusammenhang mit Chinas sogenanntem Seidenstraßenprojekt. Nationale chinesische Standards werden teilweise selbst dort, wo sie zu anderen internationalen Standards in Konkurrenz treten, in Kooperationsabkommen festgeschrieben, sodass sich daraus eine Kontrolle chinesischer Firmen über die entsprechenden Märkte ableiten lässt. Wenn ein Flughafen nach chinesischen Standards gebaut wurde, wird wahrscheinlich selbst bei der Renovierung die nicht-chinesische Konkurrenz kaum zum Zug kommen. Werner von Siemens lässt grüßen.

War die Entwicklung von lokalen über nationale zu internationalen Standards ingesamt eine positive Entwicklung, so ist die Renationalisierung von Standards oder aber auch die Durchsetzung von firmeneigenen Standards besonders mächtiger Konzerne ein Schritt rückwärts und geht einher mit Politiken, die auf die Abgrenzung hegemonial beherrschter Einflusszonen zielen. Gegen die Wirkungen solcher Veränderungen sind wir in Europa nicht einfach gefeit. Man kann sich z. B. die Perspektive europäischer Häfen einmal näher anschauen. Container, die einen großen Teil des Hafengeschäftes ausmachen, sind seit 1961 standardisiert. Aber ansonsten ist das Standardisierungsniveau eher gering. Nachdem nun aber China vor allem über die Staatsfirma COSCO versucht, in möglichst vielen europäischen Häfen Fuß zu fassen, werden in der „Terminal Industry“ Sorgen laut. COSCO, das ist die chinesische Firma, die gerade ihre Kontrolle über den Hafen von Piräus ausweitet und der die Hamburger Hafengesellschaft in einem ihrer Tochterunternehmen eine Minderheitsbeteiligung anbietet, um sie an Hamburg zu binden. Europäische Industrievertreter haben aber zur Kenntnis genommen, dass China eine nationale Strategie entwickelt hat, um weltweit möglichst viel Hafeninfrastruktur zu kontrollieren oder jedenfalls teilweise zu kontrollieren, und überlegen sich neuerdings in einem Terminal Industry Committee, was sie tun können, um zu vermeiden, dass chinesische Infrastrukturinvestitionen und chinesische Standards sie zunehmend verdrängen.

Das European Telecommunications Standards Institute (ETSI) hatte vor zwei Jahren eine Arbeitsgruppe zur künftigen europäischen Standardisierungspolitik zusammengestellt, die sogenannte „Bildt-Kommission“, die im Oktober 2019 unter der Überschrift „Calling the shots“ ein Strategiepapier publizierte. Ich habe damals an dieser Arbeit teilgenommen. Seither ist vor allem durch den exekutiven Vizepräsidenten Dombrovskis und den EU-Kommissar Breton eine Aufwertung des Themas Standardisierung in der Arbeit der Europäischen Kommission zu vermerken. Dabei schlägt sicher auch zu Buche, dass die Pandemie-Erfahrung des letzten Jahres erkenntnisfördernd war. Sie zeigte etwa, wie wichtig gemeinsame Standards waren, um schnell viele medizinische Schutzgüter zu produzieren. Sie zeigte, welch wichtige Rolle internationale Standards spielten, als europäische Märkte und Wertschöpfungsketten durch Grenzschließungen unter Druck kamen. Heute formuliert die Europäische Kommission: „Global leadership in technologies goes hand-in-hand with leadership in standard-setting and ensuring interoperability.“ Die Kommission hat in diesem Zusammenhang angekündigt, im dritten Quartal des laufenden Jahres eine Standardisierungsstrategie zu publizieren. Sie will zusammen mit den europäischen Standardisierungsorganisationen eine gemeinsame Taskforce gründen, bessere Vorausschau für kommende Standardisierungsfragen entwickeln und prüfen, ob die Standardisierungsgesetzgebung der EU überarbeitet werden muss. Zu dem letzten Punkt gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Aus der Wirtschaft etwa von Orgalim, dem Organisme de Liaison des Industries Métalliques Européennes, gibt es eine deutliche Positionierung gegen Gesetzesänderungen. Im Zentrum der Debatte steht die Frage, wie die Public-private-Partnership zwischen Industrie und Regulierung bei Standardisierungsthemen weiterentwickelt werden soll. In der Europäischen Kommission gibt es durchaus die starke Meinung, dass die EU es sich nicht leisten könne, gegenüber der staatlich koordinierten Herausforderung Chinas im bisherigen Maße industriebasierte Standardisierungspolitik fortzusetzen. Ich bin da von einem fundamentalen Kurswechsel noch nicht überzeugt. Aber die Diskussion muss ja öffentlich erst noch anfangen.

Einen Fehler übrigens sollte die EU nicht machen: sich bei Standardisierungsfragen von der grundsätzlich positiven Haltung zu internationaler Zusammenarbeit zurückziehen. Nein! Deswegen finde ich es übrigens sehr gut, dass beim EU-U.S.A.-Gipfel wenigstens grundsätzliche Übereinstimmung dazu erzielt wurde, dass mit dem von der EU-Kommission zuerst vorgeschlagenen Trade and Technology Council (TTC) bei allen transatlantischen Schwierigkeiten Anstrengungen zur Kooperation bei der Entwicklung von Standards insbesondere bei modernen Technologiebereichen wie Künstlicher Intelligenz, Wasserstofftechnologien, Batterien, Offshore-Wind, Cyber Security usw. unternommen werden sollen. Übrigens hat sich die EU auch gegenüber China um verstärkte Zusammenarbeit bei Standardisierung bemüht. Im Entwurf des EU-China-Investitionsabkommens ist vorgesehen, dass europäische Unternehmen in Zukunft in China Zugang zu Standardisierungsprozessen haben sollen. Allerdings enttäuscht dann der Blick aufs Kleingedruckte. China räumt Mitarbeit nur ein in Standardisierungsgremien auf nationaler Ebene, nicht auf regionaler Ebene und nicht bei Standardisierungsprozessen nichtstaatlicher Art, die zwischen verschiedenen chinesischen Unternehmen ausgekungelt werden. Wie wichtig das Thema Standardisierung gerade gegenüber China ist, zeigt sich auch darin, dass die Europäische Handelskammer in China derzeit an einer Studie zu Standardisierung in China sitzt.

Es gibt meines Erachtens etliche Hinweise dafür, dass die chinesische Führung eine Wirtschaftsstrategie verfolgt, die zum Ziel hat, selber maximal autark zu werden, aber andere Länder von China ökonomisch abhängig zu machen. Das ist nicht eine Partnerschaftsperspektive, sondern zeigt eine Dominanzabsicht. China entwickelt dazu verschiedene Instrumente, u. a. ist gerade ein neues Sanktionsgesetz verabschiedet worden, das dazu genutzt werden könnte, ausländische Firmen in China dafür zu verklagen, dass sie sich z. B. im amerikanischen oder europäischen Markt an Sanktionen halten, die gegen China verhängt worden sind. Ein chinesischer Kommentator soll dazu gesagt haben: Wir werden die Firmen zwingen, eine Wette zu platzieren auf die Richtung der Entwicklung der Globalisierung. Wenn man dazunimmt, dass nach einer Analyse der Europäischen Kommission mehr als 50 Prozent der Produkte, bei denen es einseitige europäische Abhängigkeiten gibt, aus China kommen, dann spätestens sollten alle Verantwortlichen verstehen, dass wir nicht viel Zeit zu verlieren haben. BusinessEurope hat schon im Januar letzten Jahres in seiner China-Strategie der Standardisierungsfrage große Bedeutung beigemessen. Standardisierungsfragen spielen auch eine große Rolle, wenn es darum geht, die internationale Infrastruktur-Investitionsinitiative (I4) zu realisieren, von der die G7-Länder gerade beim Gipfel gesprochen haben. Ich finde, Standardisierung ist ein absolut heißes politisches Thema.  


Sonst noch

  • Traditionell berichte ich in meinen Plenarnotizen über die Plenartagung der vergangenen Woche. Ich habe zu den Vorbereitungen für den G7 und den EU-U.S.A.-Gipfel gesprochen.
  • Meine Pressemitteilung im Vorfeld der drei Gipfel mit Präsident Biden – G7, Nato, EU-U.S.A. – findet Ihr hier. Meine  Pressemitteilungen im Nachgang des G7-Gipfels und des EU-U.S.A.-Gipfels könnt Ihr hier bzw. hier nachlesen.
  • Gemeinsam mit dem FDP-Bundestagsabgeordneten Olaf in der Beek habe ich den Gastbeitrag „Wie man einen Rivalen zähmt – Neun Thesen von Grünen und FDP zum Umgang mit China“ für den Tagesspiegel verfasst.
  • Biden wird für Putin ein härterer Gegner und Partner als Trump – mein Interview mit dem SWR. 
  • Am 19.06. nehme ich am Diskussionsforum „Macht und Menschenrechte – Europas Rolle in der Welt“ im Rahmen der 47. Paneuropa-Tage in Trier teil.
  • Am 25.06. spreche ich bei der Online-Podiumsdiskussion „Strengthening Transatlantic Economic Relations in 2021 and Beyond: Perspectives from the Political and Business Community“ im Rahmen des 117. Annual Membership Meeting der Amerikanischen Handelskammer in Deutschland. Weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung gibt es hier.
  • In der nächsten Woche findet das Miniplenum des Europäischen Parlaments statt, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.