In seiner Berichterstattung über den heftigen Konflikt in der Führung der CDU Deutschlands über die Unions-Kanzlerkandidatur schrieb der in dem politischen Milieu extrem gut verdrahtete Welt-Journalist Robin Alexander: „Debatte im CDU-Vorstand ist auch Lehrbeispiel für Konflikt klassische repräsentative Demokratie vs moderne Stimmungs-/Demoskopiedemokratie“.
Debatte im CDU-Vorstand ist auch Lehrbeispiel für Konflikt klassische repräsentative Demokratie vs moderne Stimmungs-/Demoskopiedemokratie: Strobl u Althusmann, Vorsitzende großer Verbände, bleiben bei Laschet, obwohl es bei ihnen große Söder-Aufwallung ab. #LaschetvsSoeder @welt
— Robin Alexander (@robinalexander_) April 19, 2021
In einem sehr wichtigen Punkt wenigstens hat Robin Alexander recht. Im Laschet-Söder-Streit wurde viel Fundamentaleres sichtbar, als es hämische Kommentatoren, die nur von Hahnenkampf sprachen, wahrnehmen wollten. Es ging tatsächlich um Grundfragen der politischen Formation, die in den letzten mehr als 70 Jahren in der Bundesrepublik am meisten Stabilität bewirkte: der Christdemokratie.
Markus Söder hat mit seinem Verhalten die Grundsatzdebatte, die da geführt wurde, nicht verursacht, aber deren Sichtbarkeit erzwungen. Ist die CDU, so die Frage, die ihr Bundesvorstand in der Nacht von Montag auf Dienstag zu entscheiden hatte, ein von nach dem Repräsentationsprinzip gewählten Politikern/Funktionären geführter Laden oder ist sie eine Organisation, die sich durch Umfragen und populäre Meinungen ihre Orientierung vorgeben lässt? Zum Vorschein kam dabei die Krise des Repräsentationsprinzips.
Die CDU ist einmal erfunden worden als eine „Partei neuen Typs“, als eine Partei, die nicht auf der Basis enger weltanschaulicher Überzeugungen agierte, keine steinerne Bekenntniskirche war, sondern als weit erstreckter, im Innern durchaus von Widersprüchen geprägter Verband, der sich dadurch auszeichnet, dass er als eine Art Zugewinngemeinschaft aller Beteiligten funktioniert. Vom Erfolg einer solchen Partei sollten und konnten lange Jahre ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen profitieren, wenn auch nicht unbedingt gleichermaßen. In Deutschland nannte sich das Volkspartei. In den U.S.A. hieß es „big tent“. Zur Funktionsweise der Volkspartei gehörte auch, dass ihre aktiven Mitglieder durchaus auf verschiedenen Seiten eines wichtigen politischen Konfliktes kämpfen konnten, die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) etwa für Arbeitszeitverkürzung und die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) dagegen, die Frauen Union für mehr Gleichberechtigung und die WerteUnion dagegen. Die SPD, die sich Ende der 1940er Jahre noch als herkömmliche klassenpolitische und marxistische Partei verstand, schloss sich nach dem Godesberger Parteitag 1959 dem Modell Volkspartei an, weil es sich als politisch überlegen erwies, und vollendete ihre Entwicklung zur Volkspartei mit dem Wahlsieg von Willy Brandt 1969.
Ich habe die Volksparteien als Zugewinngemeinschaften für komplexe, zum Teil widersprüchliche Interessen beschrieben. Als solche können sie aber nur stabil bleiben, solange für alle Beteiligten jedenfalls irgendetwas dazuzugewinnen ist. Sofern es z. B. gelingt, große Wirtschaftsverbände zu befriedigen, und zugleich organisierte Arbeitnehmerinteressen nicht völlig unter die Räder geraten zu lassen, kann das klappen. Sobald aber ein Teil der vorhandenen Anliegen und Interessen allzu oft oder gar regelmäßig unter die Räder kommt, zerstört das das Integrationsprinzip einer Volkspartei. Sie braucht Verteilungsspielräume. Diese Verteilungsspielräume beziehen sich nicht nur auf materielle Verteilungsfragen, sondern auch auf die Verteilung bzw. die Teilhabe an der Macht und die Zumessung von Respekt.
Gerade weil Volksparteien widersprüchliche Gebilde sind und nicht statische, müssen sie immer wieder versuchen, sich aus ihren eigenen Wurzeln heraus zu erneuern, um auf der Höhe der gesellschaftlichen Herausforderungen zu bleiben. Das ist, kann man heute sagen, weder der Volkspartei SPD noch der Volkspartei CDU gelungen. Die CSU lasse ich hier mal zur Seite, die wäre einer eigenen Erörterung wert. Indem Verteilungsspielräume schrumpften, entweder da objektiv weniger zu verteilen war oder weil bestimmte Interessen sich einen dauerhaften Vorrang erstritten hatten, wäre die Erneuerung aus den eigenen Wurzeln umso dringlicher gewesen. Denn jedes Nullsummenspiel muss für dieses Politikmodell als Gefahr gesehen werden. Die SPD verlor ihren Volksparteicharakter in der Ära Schröder, in der CDU kommt das jetzt als das Erbe der Ära Merkel.
Schröder verstand nicht, anders als in den 1990er Jahren die schwedischen Sozialdemokraten, die arbeitsmarktpolitische Erneuerung, die notwendig war, als Geschichte der Erneuerung sozialer Solidarität zu erzählen. Er war gar nicht daran interessiert. Er bediente sich einer neoliberalen Sprache und Argumentation, die auf die sozialdemokratische Tradition nur verächtlich herabblickte, ersetzte Orientierungsdebatte durch Oktroi und spaltete so seine Partei in zwei Lager: das derer, die vor allem die eigenen Werte betonten, und das derer, die vor allem die notwendige Erneuerung ins Zentrum rücken wollten. Sein Slogan „Innovation und soziale Gerechtigkeit“ hatte sich als Trugbild erwiesen, das „und“ funktionierte nicht. Diese existenzielle Desorientierung artikulierte sich auch im Niedergang der organisatorischen Strukturen der Partei. Ich erinnere mich gut, wie die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in den rot-grünen Jahren vom Kanzleramt höhnisch abgetan wurde, woran auch nichts änderte, dass ihr Anführer so tat, als sei der Kanzler der Klassenfeind. Eigentlich ist für eine Volkspartei die innere Organisationsvielfalt ein unverzichtbares Element. Wenn sich die verschiedenen Interessen nicht organisieren können, können sie auch nicht systematisch zusammengeführt werden. Doch werden diese Strukturen leer, wenn sie nicht mehr geeignet erscheinen, dem Charakter der Zugewinngemeinschaft entsprechende Ergebnisse zu erzielen. Im Ergebnis weiß die SPD heute nicht mehr, wer sie ist und wofür sie eigentlich steht. Wenn sie zurück will in frühere Phasen ihrer eigenen Geschichte, wie es manche Parteilinke erträumen, dann gibt sie den inklusiven Anspruch auf, den sie als Volkspartei hatte, und wird für allzu viele Unterstützerinnen und Unterstützer unattraktiv. Wenn sie aber im bloßen Sowohl-als-auch verharrt, wie das für die vorherrschende SPD-Parteirechte charakteristisch ist, dann wird sie zum bloßen Abbild des Status quo, dem gestaltende Kraft fehlt.
Lange schien es so, als könne die CDU einem entsprechenden Schicksal entgehen. Das, was Konservative in der CDU als die Sozialdemokratisierung oder gar Vergrünung ihrer eigenen Partei durch Kanzlerin Merkel heftig kritisierten, war tatsächlich die Basis für den zeitweiligen Erfolg bei der Verteidigung des Volksparteicharakters der CDU. Frau Merkel machte die CDU viel attraktiver für Frauen, als sie vordem gewesen war. CDU-Mitglieder konnten nun auch offen schwul und lesbisch sein, für oder gegen Atomkraft oder erneuerbare Energien. Damit erweiterte die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende die Reichweite ihrer Politik. Damit machte sie es der politischen Konkurrenz unendlich schwer. Doch war der Erfolg, wie sich heute zeigt, nicht von Dauer, weil Merkel und ihre verschworene Truppe es versäumt hatten, die unverzichtbaren Modernisierungsbemühungen innerhalb der Union christdemokratisch zu begründen, etwa im christlichen Menschenbild zu fundieren. So ergab sich auch hier, quasi spiegelbildlich zur SPD, eine Spaltung zwischen Parteierneuerern, denen unterstellt wurde, sie handelten im Sinne einer feindlichen Übernahme der CDU durch „Grüne Ideologie“, und Traditionalisten, die sich vorhalten lassen mussten, dass sie bereit waren, den Anschluss an unsere sich modernisierende Gesellschaft zu verlieren. Merkel interessierte sich dafür nicht und regierte „unideologisch“. Aber die Demokratie, auch die parteiinterne Demokratie, lebt nicht vom Wahlerfolg allein, sondern von jeder Kohäsion schaffenden Gemeinsamkeit in der politischen Orientierung, die sie zustande bringt. Kohäsion ist heute in der Union offensichtlich Mangelware. Das Volksparteimodell war eine Antwort auf die Herausforderung des Grundgesetzes, das den politischen Parteien die Rolle zuweist, „bei der politischen Willensbildung des Volkes“ mitzuwirken. Durch ihre komplexe innere Struktur ermöglichten sie dies. Wo allerdings eine frühere Volkspartei nicht mehr als solche funktioniert, ist sie auch nicht mehr Transmissionsriemen aus dem Volk in die politischen Institutionen, sondern es bleibt nur noch die andere Kommunikationsrichtung übrig aus den politischen Institutionen ins Volk. Die Dialektik zwischen Führung und Anhängerschaft geht verloren, die Gandhi einmal mit dem bekannten Satz formuliert hatte: „Ich bin Euer Führer, ich muss Euch folgen.“ Der CDU-Bundesvorstand sagte seinen Mitgliedern und Wählerinnen und Wählern vor einer Woche: „Wir sind die Führung, Ihr müsst uns folgen.“ Weil sie aber den Inhalt ihrer Führungsentscheidung nicht mit den Anliegen und Interessen derer abgeglichen hatten, die sie führen wollten, ernteten sie Rebellion und Desavouierung. Diese nutze dann Markus Söder, um nach dem Vorbild von Sebastian Kurz in Österreich putschartig eine personalisierte Führung für ihn selbst zu errichten. Das wurde nun in der zweiten Entscheidung des CDU-Bundesvorstands unter Führung des alten parlamentarischen Kämpen Schäuble mit Müh und Not zurückgeschlagen, aber das Dilemma bleibt.
Manche schrieben in der Kommentierung der Vorgänge, die CDU könne ihren Volksparteicharakter nur mit der Entscheidung für Markus Söder verteidigen. Das ist ein grundlegendes Missverständnis. Richtig daran ist so viel, dass für die These, Söder hätte vielleicht ein besseres Wahlergebnis erzielen können, eine erhebliche Plausibiliät spricht. Aber tatsächlich bestand die Wahl im CDU-Bundesvorstand zwischen der Option der Verteidigung der Strukturen und Ansprüche einer trotz Volksparteianspruch zur Funktionärskaste herabgesunkenen Partei, die vor allem daran leidet, dass ihr mehr und mehr das Volk abhanden kommt, und der Option der Ausrufung eines Unions-Selbstherrschers Söder, der schon, indem er die gesamte CDU-Führung als „Hinterzimmer“ herabwürdigte, demonstrierte, dass es unter seiner Ägide im Unionslager nur einen Willen geben werde: seinen. Was der eingangs zitierte Robin Alexander als „Demoskopiedemokratie“ schön redete, wäre einfach nur die modern-populistische Variante des alten Bonapartismus, in dem der Anführer bestimmt, selbst wenn formale Regeln bestehen. Der Verweis auf Umfragen ersetzt demokratische Mitentscheidungen durch willkürliche Berufung auf flüchtige Stimmungen. Schon römische Kaiser kannten dieses Prinzip. Sie ließen republikanische Formen lange überdauern, auch wenn sie von jeder praktischen Relevanz befreit und vollständig dem imperialen Willen unterworfen waren. Und deren „Demoskopie“ fand damals im Circus statt: Panem et circenses, Brot und Spiele.
Die im Moment siegreiche Partei Laschet innerhalb der Union hat vielleicht einen Pyrrhussieg errungen. Schifft die Partei in der Bundestagswahl so ab, wie das jetzt viele prognostizieren, dann ist, denke ich, doch die Partei Söder der Gewinner. Ich behaupte nicht, dass dieses unausweichlich sei. Aber ohne umfassende Erneuerung auf der Höhe der heutigen Herausforderungen kann es nicht abgehen, wenn die CDU als klassisch repräsentative Struktur, wie Robin Alexander das formulierte, eine Zukunft haben will. Die CDU in Baden-Württemberg ist auf ihrem Weg ins Verderben schon weiter vorangekommen als die CDU Deutschlands. Sie klammert sich jetzt, wenn ich das recht sehe, dort an die Kretschmann-Grünen als Seniorpartner in der Hoffnung, daraus einen Erneuerungsimpuls gewinnen zu können. Das hatte uns übrigens schon 1992 ein Mitglied des Kabinetts Teufel gesagt, als wir Grüne bundesweit zum ersten Mal eine schwarz-grüne Koalition sondierten: Die CDU-Befürworter von Schwarz-Grün wollten diese Kooperation, um sich auf diese Art und Weise eine „Bluttransfusion“ von den Grünen zu besorgen. Einen Preis wollten sie dafür nicht wirklich zahlen. Und die Vorstellung, im Kern zu gesunden, indem man vampiermäßig von den Lebenskräften anderer sich ernährt, funktioniert natürlich auch nicht. Wer nicht aus eigenen Wurzeln und Werten mehr als Angsttriebe zustande bringt, der verwelkt.
Keineswegs will ich behaupten, dass das Projekt der Erneuerung der Dialektik von Führung und Volk, der Erneuerung der Repräsentativität der Demokratie nur ein Problem der CDU und der SPD wäre. Aus meiner Sicht spricht viel dafür, dieses Thema zum Bestandteil zu machen einer sehr intensiven, weit ausgreifenden Debatte um unser Gemein- und Staatswesen, wie sie, glaube ich, der Fraktionsvorsitzende Brinkhaus im Auge hatte, als er von der Notwendigkeit einer „Revolution“ sprach. Ohne eine solche Revolution geht es nicht voran. Nur „Veränderung schafft Halt“.
Sonst noch
- In der letzten Woche war ich Gastgeber der Online-Diskussion „Transatlantic Cooperation on Connectivity Strategy“. Hier die Aufzeichnung.
- Zum Investitionsabkommen zwischen der EU und China habe ich eine Studie beim polnischen Thinktank PISM in Auftrag gegeben, der eine erste Analyse der Vereinbarung erstellt hat. Diese haben wir in einer Online-Veranstaltung vorgestellt. Hier die Aufzeichnung. Über die Studie wurde auch in einem Artikel der Welt berichtet.
- Die EU-Außenminister haben Schlussfolgerungen zu einer EU-Indopazifik-Strategie verabschiedet. Meine Pressemitteilung.
- Die Aufzeichnung der von mir organisierten Online-Veranstaltung „Kreislaufwirtschaft – Wie geht das?“ sowie weiterführende Informationen findet Ihr hier.
- Am 21.4. veranstalte ich eine Online-Diskussion zum Thema „EU-US trade relations: How realistic are the high expectations?“. Hier gibt es nähere Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung.
- Am 22.4. spreche ich bei der Online-Veranstaltung „Germany’s Pivotal Role in Global Democracy: Will China and Russia dictate Germany’s future?“ von „FiReSide – Future in Review“. Weitere Informationen und ein Link zur Anmeldung sind hier zu finden.
- In der nächsten Woche tagt das Europäische Parlament, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.