Das Jahr 2020 neigt sich seinem Ende zu. Es sei ein annus horribilis gewesen, ein schreckliches Jahr, las ich kürzlich. Das kann man mit guten Gründen sagen. 1992, im Jahr ihres 40. Thronjubiläums, hatte Queen Elizabeth II. von einem annus horribilis gesprochen, weil in dem Jahr ihre Familie mit zahlreichen Skandalen von sich reden gemacht hatte. Hundert Jahre vorher hatte die Anglikanische Kirche 1870 als annus horribilis bezeichnet, weil damals die römischen Katholiken das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes erfunden hatten. Na ja, wird man sagen, da hatte 2020 doch an Schrecken mehr zu verzeichnen. Die Corona-Pandemie alleine reicht ja schon aus, um von einem besonders schlimmen Jahr zu sprechen. Dazu die sich schnell verschärfende Klimakrise, die wieder neue Extremwetterrekorde mit sich brachte: vier der fünf größten Waldfeuer, die es in Kalifornien jemals gab, mit Rauch bis an die amerikanische Ostküste; eine neue Rekordzahl von Stürmen in der Atlantischen Hurrikansaison; tödliche Überschwemmungen ohne Zahl. 2020, das ist auch das Jahr, in dem die Volksrepublik China den sieben Millionen Bürgerinnen und Bürgern von Hongkong mit einem Federstrich aus Beijing sämtliche vorher auf 50 Jahre zugesicherten Freiheiten nahm und damit ein Fanal schuf für die Ausbreitung autoritärer Herrschaft. Das Jahr, in dem Schergen der russischen Autokratie den führenden Oppositionspolitiker ihres Landes vor aller Augen und zu aller Abschreckung vergifteten, um hinterher zu behaupten, in Wirklichkeit seien entweder die Amis oder die Deutschen schuld. Das Jahr, in dem der 45. amerikanische Präsident völlig verrückt spielte und die ehrwürdige Demokratie seines Landes einem gefährlicheren Zerreißtest aussetzte als irgendein anderer seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg vor über 150 Jahren. Das Jahr, in dem die Herren Orbán und Kaczyński sich dafür entschieden, die gesamte EU zu erpressen, um sich nicht an Rechtsstaatsprinzipien halten zu müssen, während sich zugleich das Gift nationalistischer Selbstherrlichkeit auch anderwärts in der Europäischen Union ausbreitete. Das Jahr, in dem der vermaledeite Brexit durchgezogen wurde. Das Jahr, in dem Sultan Erdogan I. seine neoosmanischen Provokationen gefährlich steigerte. Soll ich mit der Liste weitermachen?
Ich will aufhören mit dieser Monotonie der Schrecken. Trotz all dem Negativen und Bedauernswerten, das wir alle aufzählen können, gab es in diesem Jahr auch wichtige progressive Durchbrüche. Es wurden manche imminenten Katastrophen abgewendet. Und es wurden Bedingungen dafür geschaffen, den Kampf für eine bessere Zukunft wirksamer führen zu können.
Gleich zwei wichtige Veränderungen hat es in der EU gegeben. Da war zum Einen die strategisch unendlich wertvolle, für die gemeinsame Perspektive der EU unverzichtbare Entscheidung, die Antwort auf die großen Verwerfungen im Gefolge der aktuellen Pandemie solidarisch zwischen den Mitgliedsländern zu organisieren. Ich glaube, dass ohne diese durchaus mutige Entscheidung die EU wohl keine Zukunft gehabt hätte. Denn das erschreckende Auseinanderfallen in national-eigensinnig handelnde Akteure ohne Sinn fürs Gemeinsame, das in den ersten Monaten der Pandemie zu verzeichnen war, drohte dem ganzen Projekt der europäischen Einigung die Plausibilität zu entziehen. Denn warum soll man sich um ein Integrationsprojekt bemühen, wenn man in der Stunde der größten Not doch alleine bleibt? Da hat die EU die Kurve gekriegt. Der zweite wichtige Durchbruch besteht darin, dass der Green Deal auf Ebene der EU zum Leitbild der gemeinsamen Politikentwicklung wurde. Im Einzelnen ist enorm viel zu kritisieren. Die Ambition ist nicht groß genug. Die Landwirtschaft bleibt außen vor. Wie das mit einem CO2-bezogenen Grenzausgleichsmechanismus funktionieren könnte, der eine auf grüne Innovation setzende europäische Industrie gegen ökologisch schädliche externe Schmutzkonkurrenz schützen soll, wissen wir noch nicht. Und so weiter und so fort. Doch die Überschrift stimmt. Die Richtung ist angegeben. Wer zögert, muss das begründen, und nicht nur der, der vorantreiben will. Dieser neue Rahmen erleichtert es für Klimabewegungen, ob sie nun auf der Straße oder in einer IHK-Vollversammlung stattfinden, Raum und Durchschlagskraft zu gewinnen. Zu meinem grundsätzlichen europäischen Optimismus kommt übrigens noch ein Drittes hinzu: Die Bäume der Populisten und Rechtsradikalen wachsen nicht in den Himmel.
Unbedingt positiv betonen will ich auch, dass es den demokratischen Kräften in den U.S.A., einschließlich etlicher Republikaner, gelungen ist, Donald Trumps populistisch-autoritären Fundamentalangriff abzuwehren. Trump wurde besiegt, wenn auch der Trumpismus fortlebt. Doch es ist eine riesengroße Ermutigung, dass auch 2021 gehofft werden darf, was Abraham Lincoln 1863 in seiner berühmten Gettysburg Address formulierte. Es gibt eine Wiedergeburt der Freiheit. Und „government of the people, by the people, for the people shall not perish from the earth.“
Die Herausforderungen mögen größer sein als die Siege, die Gefahren zahlreicher als die Momente glücklichen Gelingens. Mir scheint aber, dass in all den Krisen und Katastrophen in dialektischer Weise sich machtvoll die Einsicht vorbereitet, dass ein Aufbruch nötig, ja unvermeidlich wird, weil der Status quo unerträglich und zugleich unhaltbar ist. Nicht nur der Populismus lehrt uns, dass Status quo-Verteidigung keine Perspektive bietet. Auch die Fridays for Future-Jugendbewegung mit ihrer Unbedingtheit, die so gerne eine fast theologische Verklärung der Wissenschaft ins Feld führt, wendet sich – zu Recht! – gegen jede Haltung, die nicht grundsätzliche Veränderung als Notwendigkeit akzeptiert. Angesichts des Klimawandels, der, wenn er ungehindert fortschreitet, die ganze menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, zu zerstören droht, und angesichts einer weltweiten autoritären Welle sind die ökologische Verantwortung und der Wille zur Freiheit die zwei Hauptmotive, von denen die große kommende Umgestaltung geleitet sein muss.
Das Jahr 2020 ist ein schweres gewesen. Doch vielleicht werden wir im Rückblick sagen können, dass es eben deswegen ein Jahr war, in dem die Entschlossenheit wuchs, sich auf den Weg zu machen, und die Kräfte gesammelt wurden für ein grundsätzliches Building Back Better.
Sonst noch
- Europa darf nicht schweigen – meine Pressemitteilung zu den Diskussionen der EU-Außenminister über Hongkong.
- Meine Pressemitteilung zum neuen EU-Sanktionsmechanismus gegen schwere Menschenrechtsverletzungen findet Ihr hier.
- Gemeinsam mit Kolleg*innen verschiedener Fraktionen des Europäischen Parlaments fordere ich EU-Kommissar Simson und EU-Kommissar Várhelyi in einem Offenen Brief auf, sich zu den häufigen Notfällen im Atomkraftwerk in Astravyets, Weißrussland, zu äußern.
- In der nächsten Woche tagt das Europäische Parlament, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.
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Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern bis zur nächsten Ausgabe meiner Bütis Woche eine gesunde, fröhliche und hinreichend politikfreie Zeit sowie einen guten Rutsch.