Zu den Assoziationen, die sich mit Hummer verbinden, gehört meines Wissens nicht, dass er in besonderer Weise ein Symbol für den Abbau von Spannungen und zur Verständigung sei. Aber was nicht ist, kann immer noch werden. Der Abbau der EU-Zollbelastung für Hummer von der U.S.-amerikanischen Neuenglandküste, den der vor kurzem zurückgetretene EU-Handelskommissar Phil Hogan als sein letztes und einziges Vermächtnis aushandelte, soll nämlich in erster Linie dazu beitragen, den in der Amtszeit von Präsident Trump massiv angestiegenen europäisch-U.S.-amerikanischen Handelskonflikten eine konstruktivere Perspektive zu weisen.
Der Export von Hummer aus Neuengland nach Europa war zusammengebrochen, weil im Rahmen des Handelsabkommens zwischen der EU und Kanada – CETA! – die Zollbelastung für das kanadische Konkurrenzprodukt so deutlich gesenkt worden war, dass die kanadischen Exporteure den europäischen Markt weitgehend übernehmen konnten. Für Neuengland bedeutete das nicht nur einen massiven Rückschlag für eine wichtige Industrie, sondern auch quasi eine Beschädigung regionalen Stolzes, denn Hummer gehört dort ganz selbstverständlich zur regionalen Kultur. Lobster, lobster chowder, lobster cake, lobster bisque oder lobster rolls, sie gehören ganz selbstverständlich zur New England cuisine. Von „lobster meat on a hot dog bun with mayonnaise and seasoning“ waren auch viele europäische Besucher von Maine schon begeistert. In Massachusetts, zu dem Maine zwischen 1647 und 1820 gehörte, gibt es sogar heute noch, so erzählte mir vor Jahren ein Freund in Boston, ein Gesetz, wonach man Hausangestellten pro Woche nicht öfter als, glaube ich, dreimal lobster vorsetzen darf. An den anderen Tagen wenigstens, das war die Idee, müssten sie auch ein richtiges Essen bekommen. Das lässt uns heute schmunzeln, aber verweist eben darauf, dass lobster genauso wie clam chowder oder der Sacred Cod im Massachusetts State House zum Kern der kulturellen Tradition in diesem Teil Amerikas gehört.
Mit der Propaganda, die bösen Europäer würden durch ihre Handelspolitik in Kollusion mit Maines nördlichem Nachbarn offenkundig zentrale amerikanische Interessen verletzten, versuchte übrigens im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf Donald Trump in dem einen Wahlkreis von Maine, der zwischen Republikanern und Demokraten traditionell umstritten ist, eine möglicherweise entscheidende Stimme im Electoral College zu sichern. Ob die Zustimmung der EU zu dem Hummer-Handelsabkommen dieser Agitation nun den Boden entzieht oder als Sieg für Präsident Gelbhaar ausgeschlachtet werden wird, wissen wir noch nicht. Die Europäische Kommission hat immerhin versprochen, sich zusammen mit der Europäischem Botschaft in Washington Gedanken darüber zu machen, wie man kommunikativ darauf hinwirken könnte, dass die EU nicht als Wahlhelferin einer Seite erscheint. Das Abkommen soll, was ungewöhnlich ist, rückwirkend in Kraft treten. Ob es allerdings der Hummerindustrie in Neuengland dieses Jahr oder für die Zukunft wirklich hilft, nachdem die Märkte einmal weg waren, bleibt abzuwarten.
Wohlgemerkt, die EU bietet den USA in diesem kleinen Handelsabkommen keine einseitige Vergünstigung an. Erstens wird die Absenkung der Zölle auf importierten Hummer WTO-kompatibel nach der Most-favored-nation-Regel auch für andere Hummerexporteure gelten. Und zum Zweiten bieten die USA der EU im Gegenzug vergleichbare Zollsenkungen für andere Produkte an, sodass die Sache insgesamt ausgewogen ist.
In der Debatte im Handelsausschuss des Europäischen Parlaments bemerkte ein Abgeordneter, es handele sich hier um die erste effektive Zollsenkung im transatlantischen Verhältnis zwischen USA und Europa seit etwa zwei Jahrzehnten. Man kann das doppelt lesen. Sicherlich spricht die Intensität des transatlantischen Handels trotz der Abwesenheit relevanter Zollsenkungen in jüngerer Zeit dafür, dass diese jedenfalls nicht das Hauptaugenmerk bei dem Handelsstreit mit den USA verdienen. Tatsächlich hat die EU den USA schon mehrfach weitergehende, sogar vollständige gegenseitige Zollsenkungen für Industriegüter vorgeschlagen. Dass es dazu nicht kam, liegt daran, und das ist die zweite Seite der Medaille, dass ganz andere Konflikte, nämlich Konflikte um Regulierungsstandards und Konflikte um die großen Agrarmärkte, zwischen der EU und den USA stehen. Deswegen wird der transatlantische Hummerfrieden wohl auch nur als kleines, bescheidenes Zeichen guten Willens betrachtet werden können. Der Auftakt zu einem Durchbruch bei den großen Streitfragen ist das nicht.
Europa sollte im Übrigen auch nicht darauf rechnen, dass sich diese Lage vollständig ändern würde, sollte Präsident Trump die Wahl verlieren und, was ja nicht unbedingt das Gleiche ist, tatsächlich auch das Weiße Haus verlassen müssen. Ich nehme an, dass ein Deal zwischen den USA und der EU im jahrzehntelangen Streit über illegale Subventionen für Airbus auf der einen und Boeing auf der anderen Seite in absehbarer Zeit zustande kommen wird, egal wer Präsident ist. Es ist schlicht für keine Seite plausibel, sich in diesem handelspolitischen Schlammcatchen gegenseitig zu beschädigen, während China gerade dabei ist, als mächtiger dritter Wettbewerber sich den Markt der großen Flugzeughersteller vorzunehmen. Umgekehrt erwarte ich allerdings auch, dass sich die Konflikte um amerikanische Agrarexporte nicht auflösen werden, sollte Biden gewinnen. 37 der 50 amerikanischen Staaten verstehen sich als agriculture states. Das macht im Senat 74 von 100 Senatoren aus. Gegen deren Interessen ist ein großes Handelsabkommen nicht durchzusetzen. Auch die Konflikte um unterschiedliche Standards, die sogenannten nichttarifären Handelshemmnisse, die die TTIP-Verhandlungen zwischen 2013 und 2016 so unerfreulich gemacht hatten, lösten sich, falls Biden ins Amt käme, nicht in Luft auf. Vorstellbar ist allerdings, dass beide Seiten des Atlantiks gegenüber China stärker an einem Strang ziehen würden, statt, wie derzeit oft, auf verschiedenen Seiten vom Schwebebalken herunterzufallen: die USA, geführt von Trump, auf der Seite der selbstbeschädigend harten Konfrontation, die Europäer, geführt von Merkel, auf der Seite der selbstverzwergend begütigenden Akkommodation. Was natürlich ein großer Fortschritt wäre. Und immerhin zwei Hoffnungen würde ich im Falle eines Biden-Erfolges haben: Von einer Biden-Administration kann man erwarten, dass sie, weil sie den Wert von Partnerschaft schätzt, anders als Trump dies tut, sich ernsthaft um Verständigung und Ausgleich bemüht, so schwierig das auch sein mag. Und von einer Biden-Administration kann man auch erwarten, dass der Diskurs über die ganz große Frage der ökologischen Dimensionen unserer Wirtschaft, einschließlich der Ökologisierung von Handelsbeziehungen, für sie nicht irgendeine unverständliche Fremdsprache bedeuten würde, sondern dass sie den Dialog dazu suchte.
Dass es dazu kommt, das würde ich gerne nächsten Januar, vielleicht bei einem Abstecher von Washington D.C. nach Maine, mit einem fetten Hummerbrötchen feiern.
Sonst noch
- „Wir können Nord Stream 2 noch stoppen“ – ein Gastbeitrag von Annalena Baerbock und mir in der FAZ.
- Gemeinsam mit vielen weiteren Abgeordneten aus zahlreichen Ländern und Parlamenten habe ich einen Offenen Brief an Alexander Lukashenko geschickt.
- In der letzten Woche kam der Außenausschuss des Europäischen Parlaments zu einer gemeinsamen Sitzung mit der China-Delegation zusammen. Unser Gast war Botschafter Zhang Ming. Hier findet Ihr meine Redebeiträge.
- „Huawei ist Nord Stream 2 im Quadrat“ – mein Interview im Cicero anlässlich des EU-China-Videogipfels.
- In der nächsten Woche tagt das Europäische Parlament erneut in Brüssel, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.
- Am 30.09. diskutiere ich von 18 bis 19 Uhr mit Dr. Janka Oertel (ECFR), Dr. Angela Stanzel (SWP) und Dr. Stefan Mair (BDI) online über Grüne Außen-, Außenhandels- und Sicherheitspolitik. Hier könnt Ihr Euch noch anmelden.