#162 Die Corona-Krise und die Präsidentschaftswahl in den USA | BÜTIS WOCHE

Feuer verbraucht Sauerstoff. Ein riesiger Brand verbraucht extrem viel Sauerstoff. Die Corona-Krise wirkt politisch wie ein infernalisches Feuer, das keine Luft übrig lässt für andere Themen, auch wenn die vor kurzem noch unumgehbar im Zentrum standen.

In Europa scheint das auf die große Debatte um den Green Deal zuzutreffen, die am Leben zu halten im Moment extrem schwierig ist. Die Gegner des Green Deal möchten das, das wird überaus deutlich, gerne nutzen, um diesem, wenn sie denn könnten, den Garaus zu machen. Das ist für uns Grüne ein entscheidendes strategisches Thema, doch das will ich mir für eine andere Bütis Woche aufheben.

Heute möchte ich die Aufmerksamkeit auf die amerikanische Präsidentschaftswahl richten, die am ersten Novemberdienstag 2020 stattfinden wird. Wenn 2020 ein normales Jahr wäre, wenn die Corona-Krise nicht auch die USA gefangen hielte, dann gäbe es derzeit dort kaum etwas, das auch nur halbwegs so wichtig genommen würde, wie die nach wie vor stattfindenden Primaries, der Kampf um Delegierte, die Ausarbeitung von Argumentationslinien und Wahlkampfstrategien, die Vorbereitung des Showdown zwischen Präsident Trump und dem Kandidaten, den die Demokraten aufstellen werden. Doch die Corona-Krise hat all diese parteipolitischen Fragen längst überdeckt. Es geht um die Zukunft des Landes. Es geht um Hunderttausende Tote, die wahrscheinlich zu beklagen sein werden. Es geht um einen tiefen Einbruch der Wirtschaft. Es geht auch um die Frage, ob das amerikanische Regierungssystem mit seinen ehrwürdigen Traditionen und schlimmen Verkrustungen, mit seinen demokratischen Idealen und seiner in vielerlei Hinsicht wenig demokratischen Realität überhaupt in der Lage ist, einer solchen Krise Herr zu werden.

Auch in den USA ist Krisenzeit die Zeit der Exekutive. Das begünstigt Donald Trump und benachteiligt die Demokraten. Trump, der sonst über lange Zeiträume hinweg Pressekonferenzen mied wie der Teufel das Weihwasser, kann derzeit gar nicht genug davon kriegen. Joe Biden dagegen, der Spitzenreiter im demokratischen Wettlauf um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat, muss froh sein, wenn ab und zu ein kleines Video aus seiner selbst auferlegten Quarantäne den Weg in die Medien findet. Und Senator Sanders, der Held der progressiv denkenden jungen Generation und der Liebling großer Massenversammlungen im Wahlkampf, muss sich damit begnügen, seine Thesen zum grundlegenden Umbau des amerikanischen Gesundheitssystems per Social Media zu spielen, während das große Publikum mit Alltagssorgen beschäftigt ist und nicht mit fundamentalen Umbauplänen. Trump dominiert die Szene, auch wenn sein Krisenmanagement verheerend schlecht ist. Viele Wochen lang hatte er die Krise heruntergespielt, bevor er dann erklärte, er habe es ja schon immer gewusst, dass es sich um eine Pandemie handele. Aus distanzierter Sicht kann man eigentlich gar nicht bestreiten, dass er sich damit lächerlich gemacht und um jede Glaubwürdigkeit gebracht hat. Der Satiriker des New Yorkers, Borowitz, hat Trump kürzlich mit der These veralbert, er habe eine neue Form des Distancing erfunden: Er distanziere sich jetzt radikal von allem, was er in den ersten drei Monaten des Jahres zur Corona-Krise gesagt habe.

Doch zum Spott des New Yorkers und zur Verzweiflung zahlreicher Beobachter, denen sich jedes Mal der Magen zusammenzieht, wenn Trump wieder eine seiner selbstverliebten Dummheiten loslässt, passen die Umfragezahlen überhaupt nicht, die aus den USA berichtet werden. Nach Umfragezahlen steht Trump gegenwärtig besser da als jemals zuvor in seiner ganzen Amtszeit. In elf Umfragen renommierter Pollster aus dem März erreichte Trump zwischen 46 und 50 Prozent Zustimmungsrate. In drei Umfragen hatte er mehr Zustimmung als Ablehnung und in drei weiteren hielten sich Ja- und Nein-Stimmen die Waage. Auch in den hypothetischen Umfragevergleichen von Trump und Biden, in denen Letzterer eine ganze Weile stolz auf ein deutliches Plus gegenüber dem Amtsinhaber verweisen konnte, sind die Margen geschrumpft. Biden liegt noch vorne, aber knapp.

Gerne wird über die US-Amerikaner gesagt, in Zeiten der Krise schlössen sie sich immer eng um ihren Präsidenten zusammen. Das sei eben auch jetzt wieder so. Man könne ja Trump zutiefst ablehnen, aber man müsse hoffen, dass er in seinem Krisenmanagement nicht völlig schief liege, und diese Hoffnung komme eben indirekt in den Umfragen zum Ausdruck. Ich bin mir nicht sicher, ob das die Zahlen ausreichend erklärt. Mir geht noch eine andere These im Kopf herum. Trump macht zwar drastische Fehler. Sogar sein wichtigster Epidemiologe, Dr. Fauci, widerspricht ihm immer wieder. Doch was immer Trump sagt, er sagt es mit einer Entschiedenheit, mit einer Entschlossenheit, mit einer so unverbrüchlichen Selbstgewissheit, dass es denjenigen, die emotional auf ihn setzen, geradezu ein irres Gefühl der Geborgenheit anbietet. Trump spielt den, der zu jedem Moment genau weiß, was er will, selbst wenn es gerade das Gegenteil ist von dem, was er am vorigen Tag oder im vorigen Tweet gesagt hat.

Natürlich kann auch Donald Trump nicht über Wasser gehen, selbst wenn es seinen loyalen Fans so vorkommt und manchen seiner erbitterten Gegnern vielleicht manchmal auch. Wenn die Opferzahlen so explodieren, wie das vorausgesagt wird, könnte das einen Stimmungsumschwung bewirken, vielleicht. Doch vielleicht auch nicht. Denn die Opferzahlen wachsen vor allem in den großen Städten dramatisch, in denen Trump ohnehin nicht viele Wähler zu verlieren hat, während sie im Rural America, auf das er sich sehr stark stützt, keineswegs genauso nach oben gehen. Trump hat es bis zu einem gewissen Grad geschafft, für seine Anhängerinnen und Anhänger ein Narrativ zu entwickeln, mit dem er die Corona-Krise in den Zusammenhang seiner allgemeinen Politik einfügt. Dass er bis vor kurzem hartnäckig und offen rassistisch von einem „chinesischen Virus“ sprach, das war schon mehr als „Dog whistling“, wie es die amerikanischen Politologen nennen. Damit mobilisierte er vorhandene Vorurteile. Dass er die USA rabiat für uns Europäer verschloss, passte auch in die Geschichte von den bösen Ausländern, die den armen Amerikanern das Unheil bringen.

Auf der anderen Seite aber sehen wir auch die Wiederholung eines Elements aus seinem 2016er Präsidentschaftswahlkampf, das in der Zwischenzeit verloren gegangen war. Nämlich die Geschichte vom starken Staat, den er unter Verletzung heiligster republikanischer Dogmen bereit ist zur Verteidigung der Bürgerinnen und Bürger in Marsch zu setzen. So präsentiert er mehrere Krisenprogramme, die ihm der Kongress zum Teil abringen musste, als unwiderleglichen Beweis seiner persönlichen Tatkraft. Das größte davon hat die unvorstellbare Größenordnung von 2200 Milliarden Dollar. So nutzt er auch ein uraltes Gesetz, um General Motors publizitätswirksam zu zwingen, Beatmungsgeräte zu produzieren, obwohl General Motors schon dabei war, das zu tun. So ließ er verkünden, er könne möglicherweise unter Bruch der amerikanischen Verfassung den ganzen Staat New York, das Epizentrum der Pandemie in den USA, absperren. Nicht dass er das getan hätte, aber indem er davon sprach, drückte er bei seinem Auditorium geschickt bestimmte passende Knöpfe. Selbst die Entlassung eines Flugzeugträger-Kapitäns, der in einem fünf Seiten langen Brief an seine Vorgesetzten kritisiert hatte, dass die US-Flotte nicht genug gegen die Verbreitung von Covid-19 auf seinem Schiff tue, passt in die Selbststilisierung als rücksichtslos starker Anführer.

Die Demokraten haben dem bis jetzt nicht wirklich etwas entgegenzusetzen. Sie verlangen auch, dass der Staat die Bürger schützen müsse, aber sie tun das, indem sie für Mechanismen kämpfen, die der Willkür des Präsidenten Grenzen setzen sollen, und Trump, das ewige Opfer, unterstellt, es sei ihnen das Grenzensetzen wichtiger als das Schützen. Nancy Pelosi, die sichtbarste Demokratin, lässt im Abgeordnetenhaus einen Sonderausschuss gründen, um Trump auf die Finger zu schauen. Trumps Lesart dafür heißt: „Die behindern mich. Die wollen gar nicht das Problem lösen, sondern mir ans Leder. Witch hunt!“ Nun sind die Wählerinnen und Wähler der Demokraten und viele selbsterklärte Unabhängige in den USA durch ihre dreieinhalbjährige Erfahrung mit Trump so gegen diesen eingenommen, dass er bei ihnen, fast egal, was er tut, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht landen kann. Aber das ist für Trumps politisches Kalkül für den November weitgehend gleichgültig. Ihm würde es nichts ausmachen, wenn er diesmal unionsweit nicht mit drei Millionen Stimmen hinten liegen würde, sondern mit sechs Millionen Stimmen. Hauptsache er gewinnt wieder die sogenannten Battleground States Florida, North Carolina, Ohio, Pennsylvania, Michigan und Wisconsin. Und in diesen Staaten liegt er derzeit in manchen Umfragen vorne oder erscheint in anderen jedenfalls sehr kompetitiv.

Ein Argument übrigens habe ich bei den Trump-kritischen Demokraten bisher nicht gefunden. Ich glaube nicht, dass ich es übersehen habe: Das ist das Argument von der internationalen Verantwortung der USA. Noch während der Ebola-Krise in Afrika hatten die USA die Führungsrolle übernommen in der Koordinierung internationaler Zusammenarbeit im Kampf gegen jene Krankheit. So weit hat Trumps Präsidentschaft die Grundlinien amerikanischer Außenpolitik neu bestimmt und festgezurrt, dass heute von vergleichbarer Verantwortung nicht die Rede ist. Den Willen, in der Krise global zu führen, überlassen die USA derzeit Xi Jinpings China.

Was können die Demokraten tun, um ihre Chancen zu verbessern für den November? Erstens müssten sie den Wettlauf zwischen Biden und Sanders so schnell wie möglich beenden. Biden ist nach Delegiertenzahlen praktisch uneinholbar davongezogen. Doch sofern Sanders darauf besteht, wird der Kampf im demokratischen Lager noch bis in den Juni weitergehen. Das war schon keine attraktive Perspektive, bevor die Corona-Krise alles überlagerte. Seither kann man nur sagen: Das wäre ein Albtraum. Sanders scheint auch zu überlegen, ob er sich zurückzieht. Vielleicht gibt der erwartbare deutliche Sieg von Biden bei der Primary in Wisconsin diese Woche dafür den Ausschlag. Doch ganz einfach ist die Sache nicht. Auch Biden müsste seinen Teil beitragen. Er müsste den enorm engagierten überwiegend jungen Menschen, die hinter Sanders stehen, mehr signalisieren als nur die bisherige großväterliche Zuneigung gegenüber allzu radikalem Veränderungswillen. Biden müsste signalisieren, dass er wesentliche Elemente der Agenda, für die Sanders geliebt wird, aufgreifen wird. Ob das demokratische Establishment und Biden diese Klugheit besitzen? Vielleicht verlassen sie sich ja auch darauf, dass am Ende jeder halbwegs progressive Mensch, und schon gar die besonders progressiven, gar nicht umhin können werde, gegen Trump den zu wählen, der nun einmal als Alternative neben ihm auf dem Stimmzettel steht. Diese Stimmung ist durchaus weit verbreitet. Doch man darf nicht vergessen, dass vor vier Jahren Hillary Clinton in den drei ausschlaggebenden Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin insgesamt nur 80.000 Stimmen fehlten, um im Electoral College zu obsiegen. Sie hatte damals den Sanderistas zu wenig geboten. Wenn Biden das nicht besser macht, droht die Wiederholung einer bitteren Erfahrung.

Zum anderen müssen die Demokraten von ihrer Priorisierung für jegliche Art von Trump-Kritik Abstand nehmen. Um es zuzuspitzen: Sowohl bei den Obama-Wahlen 2008 und 2012 wie auch bei Trumps Wahl 2016 wurde jeweils derjenige gewählt, der eindeutiger vermitteln konnte, was er tun werde, selbst wenn ansonsten die Wähler erhebliche Vorbehalte hatten. Obama wurde 2008 gewählt, obwohl eine Mehrheit ihn für zu links hielt. Aber man traute ihm zu, zu wissen, wie man der Krise begegnet, und McCain traute man das nicht zu. Trump hielt 2016 eine deutliche Mehrheit der US-Wählerinnen und -Wähler für nicht qualifiziert für das Präsidentenamt, aber man traute ihm zu, Washington aufzumischen, und wählte ihn dafür. Und in der Tat sah in der Hinsicht die ansonsten total qualifizierte Hillary Clinton sehr alt aus, denn sie gab sich als die ultimative Insiderin.

Die Abgeordnetenhauswahl 2018 gewannen die Demokraten im Wesentlichen mit einer durchgängigen Propagandakampagne zugunsten von Obamas Gesundheitspolitik. Ich bezweifle, dass das 2020 noch einmal reicht, aber die Krise bietet den Demokraten, wenn sie denn die konzeptionelle Stärke aufbringen, die Chance, auf einem anderen Feld zu reüssieren, das Trump bis vor wenigen Monaten gepachtet zu haben schien, auf dem Feld der Wirtschaft. Die Börsen-Rekorde, mit denen Trump anzugeben pflegte, sind alle Geschichte. Die Börse steht ungefähr da, wo sie zu seinem Amtsantritt stand, oder liegt sogar darunter. In zwei Monaten sind 6,6 Millionen US-Amerikaner arbeitslos geworden und der Höhepunkt der Krise ist noch nicht einmal erreicht. Allerdings müssen sich die Demokraten wohl hüten, mit einer Wirtschaftspolitik anzutreten, die sie nur als Vertreter des kleinen Mannes/der kleinen Frau präsentieren würde. Das wäre zu bescheiden. Sie dürfen nicht nur die überaus berechtigten Partikularinteressen der ärmeren Bevölkerungskreise thematisieren. Sie müssen, wie Obama das 2008 tat, mit großem Bogen die Rettung der Wirtschaft insgesamt sich aufs Panier schreiben.

Es wäre sicherlich falsch, den Eindruck zu erwecken, dass die Präsidentenwahl im November schon gelaufen wäre. Ich glaube, sie ist offen. Aber Trump steht heute stärker da, als man noch vor zwei Monaten erwartet hätte. Und deswegen müssen die Demokraten viel besser werden, als sie bisher sind. Sanders muss Biden den Vortritt lassen. Biden aber muss die Energie von Sanders aufgreifen, sonst wird ihn der Bulldozer Trump einfach zur Seite schieben. Die Demokraten müssen aufhören, vor allem über Trump zu reden und ihn zu kritisieren, und bei Obama und Clinton in die Schule gehen: It‘s the economy, stupid. Sie müssen Trump besiegen im Hauptfach der amerikanischen Politik, in der Auseinandersetzung darum, welcher Kandidat sich glaubwürdiger mit Amerika identifiziert. Sie dürfen nicht selbstgefällig darauf verweisen, dass sie ja ohnehin das gute Amerika repräsentieren. Sie müssen in dieser Krise und dieser Präsidentschaftswahl über sich, ihre Selbstzweifel und ihre Selbstgewissheiten hinauswachsen.


Sonst noch
  • Am 09.04. veranstalte ich gemeinsam mit meinem Kollegen Rasmus Andresen das Webinar „US elections and the Corona crisis – what impact for the world economy and future relations?“. Hier könnt Ihr Euch für die Veranstaltung anmelden.
  • Das Misstrauensvotum gegen Kosovos Ministerpräsident Kurti gefährdet die politische Stabilität auf dem Westbalkan. Gemeinsam mit meinen Kolleg*innen Thomas Waitz, Viola von Cramon-Taubadel und Romeo Franz habe ich einem Brief an Präsident Thaçi geschickt.
  • Am 14.04. findet die nächste Sitzung der Grünen/EFA-Fraktion per Videokonferenz statt.
  • Am 16. und 17.04. tagt das Europäische Parlament erneut, um über wichtige Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise zu beraten und abzustimmen.
  • Gemeinsam mit vielen weiteren Grünen Abgeordneten appelliere ich an die Bundesregierung: Corona fordert uns auf, Europas Versprechen auf Solidarität einzulösen!
  • Es ist nicht ganz so schön wie im Freien, aber Ostereier verstecken für die Kinder kann man auch in der Wohnung. Viel Spaß beim Verstecken und beim Suchen. Schöne Osterfeiertage.