In Brüssel herrscht Brexit fatigue, auf Deutsch: Das Thema Brexit hängt inzwischen allen zum Hals heraus. Aber Mrs. May, die britische Premierministerin, und das Unterhaus weigern sich, uns zu erlösen. So geht das schreckliche Schauspiel in eine neue Verlängerung. Wenn Shakespeare jemals recht hatte, dann hier: Ist dies auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.
Selbst Stimmen, die lange versucht hatten, den drohenden Brexit ohne verhandeltes Abkommen als höchst unwahrscheinlich zur Seite zu schieben, sagen heute, dass es so unwahrscheinlich eben doch nicht ist, obwohl er gegen alle Vernunft verstößt. Die taktischen Winkelzüge, die wir in den letzten Wochen und Monaten verfolgen konnten, haben das Vertrauenskapital, das es vielleicht einmal gab, weitestgehend aufgebraucht. Wenn Frau May nun ankündigt, sie wolle mit Labour gemeinsam einen Ausweg finden, für den es dann hoffentlich eine Mehrheit gibt, überwiegt das Misstrauen. Zwar war sie aus Brüssel immer wieder zu genau diesem Schritt aufgefordert worden, doch muss es uns nicht argwöhnisch machen, dass noch keiner der harten Brexit-Extremisten in ihrem Kabinett deswegen zurückgetreten ist, obwohl sie bei diesem Schritt die Verabredung einer Zollunion mit der EU nicht mehr ausschließt? Zollunion ist für die Brexit-Fanatiker doch No-Go-Zone. Wenn sie May trotzdem damit winken lassen, ohne massiv zu rebellieren, spricht das vielleicht dafür, dass das ganze Manöver nur dazu da ist, bei Labour möglichst viel interne Differenzen aufzuführen? Oder sollte Frau May aus lauter Verzweiflung, weil entsprechend den von ihr selbst zur Sicherung des Zusammenhalts der konservativen Partei gezogenen roten Linien gar nichts mehr geht, zuallerletzt doch noch zu dem Schluss gekommen sein, dass sie, ohne in Großbritannien historische Schäden zu verursachen, die sehr lange wirken würden, doch nicht mehr ausschließlich am Parteinutzen einer zerrissenen Tory-Partei agieren kann?
Aus Sicht der EU ist die Lage vergleichsweise einfach. Es kann einen längeren Aufschub vom Brexit geben, entweder durch Vereinbarung oder durch Zurückziehen des Austrittsantrags nach Artikel 50. Dann müssen die Britinnen und Briten sich aber an der Europawahl beteiligen. Und das muss, nach britischen Gesetzen, bis zum 12. April eingeleitet sein. Kommt es dazu nicht, dann wird Großbritannien vor der Europawahl aus der EU ausscheiden, wie auch immer. Vielleicht verhandelt May mit Labour-Führer Corbyn ja doch ernsthaft und bringt ein mehrheitsfähiges Ergebnis zustande. Dafür würde die EU sicherlich noch mal einige Wochen bis maximal zum 22. Mai zur Verfügung stellen. Dass das inzwischen sogar vom britischen Schatzkanzler als eine Möglichkeit befürwortete zweite Referendum in dieser kurzen Zeit abgehalten werden könnte, ist auszuschließen. Nicht auszuschließen ist allerdings, das es eben doch noch zu einem Ausscheiden ohne jeden Deal kommt. Das hätte übrigens nicht nur für Großbritannien erhebliche Kosten. Der Rest der EU würde davon auch in Mitleidenschaft gezogen.
Was man nach der Brexit-Tragikomödie wohl eindeutig sagen kann, ist, dass die Nationalisten, Anti-Europäer und autoritären Populisten aller Art auf absehbare Zeit nirgends in der EU werden viel Heu machen können mit der Forderung nach einem EU-Austritt. Entsprechend haben die FPÖ etwa oder die Partei von Marine Le Pen ihre Propaganda schon geändert. Bei Kaczyński oder Orbán ist nirgendwo von einem EU-Austritt die Rede, bei den korrupten rumänischen Sozialisten und Liberalen, die den Rechtsstaat gerade wieder mit Füßen treten, auch nicht. Die nationalistische Gefahr ist damit natürlich nicht erledigt. Sie nimmt eine andere Form an. Ungarns Ministerpräsident Orbán hat dafür die Richtung benannt, als er sagte: „Die EU war unsere Zukunft. Jetzt sind wir die Zukunft der EU.“ Für uns heißt das, dass wir uns nicht im Staunen oder Entsetzen über die Irrungen und Wirrungen des Brexits verlieren dürfen. Die entscheidenden Fragen sind andere. Schaffen wir es, durch politischen Wandel, zu dem stärkere Grüne gehören und führen müssen, dafür zu sorgen, dass diesen extremistischen Bewegungen der soziale und identitäre Treibstoff ausgeht? Und verhindern wir, dass elektronisch aufgedonnerte Einmischung von außerhalb der EU, sei es aus Putins Russland oder von rechtsradikalen Milliardären aus den USA, unsere demokratischen Prozesse derart korrumpiert, dass sie nicht mehr funktionieren und damit Spielraum entsteht für populistische Verführung?
In einer Hinsicht war Brexit bis jetzt gewiss ein Glück im Unglück: Die oberflächliche Haltung, dass man sich für die EU nicht engagieren müsse, und sich einfach darauf beschränken könne, ihre Vorteile zu genießen, hat erheblich an Plausibilität verloren. Bei jungen Leuten und in der Wirtschaft erlebe ich heute wesentlich mehr Engagement dafür, Europa durch eine hohe Beteiligung bei der Europawahl zu stärken, als das früher der Fall war. Ich bin sicher, die Wahlbeteiligung wird steigen. Der Preis dafür ist natürlich sehr hoch.
Sonst noch
- Die letzte Woche war eine Straßburg-Woche. Traditionell berichte ich darüber in meinen Plenarnotizen. Die Copyright-Reform war eindeutig das beherrschende Thema.
- Am 23. März nahm ich an der Landesdelegiertenkonferenz der Grünen in Mecklenburg-Vorpommern teil. Der NDR war auch vor Ort und hat einen kleinen Beitrag für das Nordmagazin gedreht.
- Am 25. März besuchte ich Bergen auf Rügen und Stralsund. Nach zwei Diskussionsrunden mit Schüler*innen drehte sich alles um das Thema Plastik. Einen Bericht hierzu sowie einen Beitrag von Stralsund TV könnt Ihr Euch hier anschauen. Am 21. März veranstaltete ich im Europäischen Parlament außerdem eine Frühstücksveranstaltung zu diesem Thema. Hier findet Ihr einen Bericht über die Veranstaltung “Postconsumer plastic recycling – the ecophoenixx experience”.
- Cybersicherheit ist eine Existenzfrage für Europa – Meine Pressemitteilung zu den von der Europäischen Kommission vorgestellten 5G-Leitlinien.
- Am 01. April besuchte ich die Hannover Messe. Eindrücke finden sich in meinem Twitter-Feed.
- Am 03. April stellte Korinna Horta bei einer von mir organisierten Frühstücksveranstaltung ihre Studie über die Asiatische Infrastruktur Investitionsbank (AIIB) vor. In der Studie kritisiert sie die Schwächung von Transparenz-, Umwelt- und Sozialstandards durch diese Bank. Die Studie schrieb sie im Auftrag der Heinrich Böll Stiftung und sie ist hier zu finden.
- Am 03. April diskutierte ich mit dem BDI in Brüssel zum Thema „How to deal with China“.
- Am 04. April war ich Redner beim Weltwirtschaftstag 2019 des DIHK zum Thema „Europa in der Welt und 125 Jahre AHK-Netzwerk“ in Berlin.
- Letztes Wochenende sprach ich beim Parteitag der dänischen Grünen in Kolding. Am 05. April spreche ich bei einer Veranstaltung der polnischen Grünen in Warschau.
- Am 11. April diskutiere ich mit weiteren Abgeordneten des Europäischen Parlaments über die letzte sowie die kommende Legislaturperiode an der Universität Rostock. Ich würde mich freuen, viele von Euch dort zu treffen.