#95 Bütis Woche: Die europäische Quadratur des Kreises

Dass die EU vor einer inneren Neuordnung steht, diese Erkenntnis hat die ganzen letzten eineinhalb Jahre seit dem britischen Brexit-Referendum geprägt. Manche würden vielleicht eher formulieren, dass die EU mindestens vor einer inneren Neuorientierung stehe, um auszudrücken, dass diese, ja vielleicht auch allerlei Versuchen zu trotz, scheitern könne. Die Zeit seit dem Juni 2016 lässt sich in sieben Phasen unterteilen. Erst der Brexit-Schock selbst. Dann ein gewisses Spiel auf Zeit, so verabredet beim Bratislava-Gipfel. Danach der größere Schock – die Wahl von Trump. Dem folgte die Phase der Angst, dass die populistische Welle die ganze EU verschlingen könnte. Die Präsidentenwahl in Österreich, die Wahl in den Niederlanden und die Wahlen in Frankreich brachten eine Phase der Stabilisierung. Es folgte, von Jupiter-Fanfaren begleitet, die Zeit der stolzen französischen Vision, und zuletzt hatten wir über ein halbes Jahr die Phase des Wartens auf Berlin. Parallel zu diesen Etappen wechselten auch die vorherrschenden Gefühlslagen. Großes Erschrecken; Beschwichtigung; fundamentale Erschütterung; Panik; Trotz; Hoffnung; Überdruss. Jetzt, da in Berlin gerade die kleinste große Koalition zu Stande kommt, die es je gab, jetzt gibt es keine Ausrede und keinen Aufschub mehr. Jetzt muss Europa zeigen, wozu wir fähig sind.

Die entscheidende Musik spielt in den Mitgliedsländern, deren Orchester hat den gemeinsamen Kammerton offenkundig noch nicht gefunden. Frankreich propagiert eine Kerneuropa-Vision, die gegenüber Mittel- und Osteuropa Rücksichtslosigkeit an den Tag legt, die Eurozone bedroht, aber in Wirklichkeit noch nicht einmal von der Vorstellung eines gemeinsamen Aufbruchs der Eurozone geprägt ist, sondern vom Traum eines französisch-deutschen Kondominiums im Pariser Takt. In Ungarn, Polen, zum Teil auch Tschechien oder der Slowakei ringen gleich zwei verschiedene Konzepte für Europas Zukunft miteinander. Eines ist konservativ-national, das andere ist national-revolutionär. Wenn sich alle Seiten Mühe geben, lässt sich ersteres vielleicht in die für einen Konsens über die Richtung der EU erforderliche Kompromissbildung einbeziehen. Die national-revolutionäre Variante, die stolz mit dem Bekenntnis zur illiberalen Demokratie zu Felde zieht, ist mit der Wertorientierung, der sich die EU bisher verpflichtet hatte, nicht vereinbar. In Italien haben die Wählerinnen und Wähler bei der Parlamentswahl das Kuddelmuddel zur Orientierung erkoren. In Deutschland ist, wenn man die Koalitionsvereinbarung von Schwarz-Rot genau liest, bisher nur klar, dass man zu großen Taten entschlossen ist; welche das sein sollen, ist dagegen noch ein weitgehend gehütetes Geheimnis. Es gibt Formulierungen, die recht Macron-freundlich klingen, andere Sätze orientieren sich eher an der Rede des Kommissionspräsidenten Juncker vom letzten September zur Lage der Europäischen Union. Zur bisherigen – vor allem von Wolfgang Schäuble geprägten – deutschen Europapolitik werden die angedeuteten Vorhaben nicht in ein klares Verhältnis gesetzt. Man weiß nicht so recht, ob aus Scham, oder weil man erfolgreich verdrängt hat, welche Peitsche der Hohepriester des Europas der Austerität noch vor kurzem schwang. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Koalitionsverabredung an einer Stelle ziemlich deutlich wird, dort nämlich, wo nicht die Ziele, sondern die Methoden der Erarbeitung der deutschen Beiträge zur Neuorientierung Europas besprochen werden. Dort heißt es sinngemäß: alles mit Frankreich besprechen, alles mit Frankreich klären, alles mit Frankreich konzipieren, alles mit Frankreich betreiben. Es ist geradezu grotesk, wie scharf dieses Versprechen von Zweisamkeit damit kontrastiert, dass die Unverzichtbarkeit eines integrativen Kurses gegenüber allen europäischen Partnern noch nicht einmal formelhaft beteuert wird.

In dem halben Jahr, in dem ganz Europa zunehmend entnervt auf die Beendigung der Berliner Neuaufstellungswirren wartete, hat Deutschlands Gewicht in der EU gehörig abgenommen. Erinnert sich noch jemand, dass bis kurz vor der Bundestagswahl Frau Merkel als der Führerin der freien Welt Kränze gewunden wurden? Deutschland sei jetzt offenkundig auch instabil. Das war in den letzten Monaten die – in Brüssel immer wieder voll Schadenfreude vorgetragene – Beschreibung von Seiten vieler Politiker aus Nachbarländern. Der Mut, gegen deutsche Prädominanz aufzustehen, geht inzwischen so weit, dass nicht nur die hopplahopp vollzogene Beförderung eines deutschen Kabinettschefs des Kommissionspräsidenten zum Kommissions-Generalsekretär, sondern sogar die mögliche Wahl des hessischen SPD-Linken Bullmann zum sozialistischen Fraktionsvorsitzenden mit allgemeinen Tiraden gegen ungerechtfertigte deutsche Vorherrschaft vehement bekämpft werden. Die demnächst wiedergewählte Kanzlerin sowie die neuen Minister für Außen und Finanzen werden sich anstrengen müssen, um nicht mit arg verminderter Statur in das anstehende Ringen um die Zukunftsorientierung der EU zu gehen.

Mit zwei Konfliktlinien in diesem Ringen konnte und musste man nach den Entwicklungen der letzten Zeit rechnen. Mit der südlichen Konfliktlinie, an der – unter der Parole der Solidarität – die Forderung nach dem Ende verheerender Austeritätstheorien mit allfälligem Verlangen nach einer generellen Absage an jegliche Stabilitätskultur verbunden würde. Mit der östlichen Konfliktlinie, an der – unter der Parole der Souveränität – die Ablehnung einer „Ever Closer Union“ mit einer außerordentlich eigenwilligen Interpretation, tatsächlich einer völligen Fehlinterpretation dessen, was an freiheitlichen und rechtsstaatlichen Werten die EU zusammenhält, verknüpft würde. Nun ist eine dritte Kampfeslinie entstanden, ich nenne sie die nördliche Konfliktlinie, und an ihr herrscht die Parole der Stabilität. Acht Mitgliedsländer haben unter der Führung der Niederlande ihre eigene Vorstellung von der Zukunft der EU unter besonderer Betonung der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion vorgelegt. Mit dabei sind Dänemark, Finnland und Schweden, Estland, Lettland, Litauen sowie Irland. Ein niederländischer Diplomat, den die Süddeutsche Zeitung zitierte, erklärte dazu: „Wir können uns nicht mehr hinter dem breiten Rücken anderer verstecken. Wir müssen proaktiv für uns selbst einstehen und uns an der Diskussion beteiligen.“ In der Sache machen sich diese acht Staaten, da hat die Süddeutsche Recht, zum „Erbhüter“ von Wolfgang Schäuble. Sie verbinden die Betonung struktureller nationaler Reformen und die Respektierung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit der Fortsetzung des Sparkurses, für den weder die Südländer noch die Mittel- und Osteuropäer noch Frankreich zu haben sind. Vorgezeichnet worden ist diese Position im Koalitionsvertrag der Regierung Rutte in den Niederlanden. Den hatte in der letzten Phase der Jamaika-Sondierungen FDP-Chef Lindner, zur schwarz-grünen Überraschung, als seiner Weisheit letzten Schluss eingebracht. Wie man damit die EU voranbringen kann, ist völlig unerfindlich. Doch dass die acht Länder sich nun gemeinsam zu Wort melden, darf man auch als Ausdruck der Sorge lesen, dass Frankreich und Deutschland, wenn sie denn demnächst gemeinsam loslegen, alle anderen Länder mit ihren Vorstellungen überrollen könnten. Die Zukunftsdiskussionen müssten in einem „inklusiven Format“ stattfinden, so betonen diese acht Länder.

Insgesamt wäre die Lage zum Verzweifeln, wenn sie nicht so ernst wäre. Die Begriffe Solidarität, Souveränität und Stabilität werden gegeneinander gestellt. Der eine Begriff, den es unbedingt bräuchte, um Brücken zu schlagen, wo hier Fronten errichtet werden, der Begriff mit dem vierten „S“, Sustainability, Nachhaltigkeit, kommt nicht vor. Und mittendrin der geschwächte deutsche Halbhegemon und der modern bonapartisierende französische Jupiter-Präsident. Derweil streiten Juncker und Tusk, wer den anderen zur Seite schiebt und das Europäische Parlament zur Seite schiebt. Und das Europäische Parlament? Das muss erstmal die Hubschrauber-Karriere des Juncker-Adlatus Selmayr bewältigen (sehr schön spottetet Politico: „Buymayr or Selmayr“).

Es müssen verfahrene Situationen wie diese gewesen sein, welche die von Winfried Kretschmann so viel zitierte Hannah Arendt im Blick hatte, als sie sinngemäß davon sprach, dass die Politik auch der Raum für Wunder sei. Um ein bisschen dazu beizutragen, dass ein solches Wunder hier möglich wird, müssen wir, glaube ich, sehr streng darauf achten, zu differenzieren, was an den Positionen der verschiedenen Akteure noch geeignet ist, zum Teil eines schwierigen Kompromisses zu werden, und wo die Grenze der Kompromissfähigkeit gezogen werden muss. Klar scheint mir jedenfalls zu sein, dass weder die südliche noch die östliche noch die nördliche Konfliktlinie einfach ignoriert werden kann, und dass wir ihnen auch nicht erfolgreich begegnen können, wenn wir unterstellen, sie hätten insgesamt schlicht nur Unrecht.

Schade, dass in dieser Situation nicht wir mit in der Bundesregierung sitzen. So werden wir aus der Opposition heraus versuchen müssen, unser Scherflein beizutragen. Spannend genug wird’s, zumal der Außendruck von Seiten Russlands, der USA, Chinas und anderer, zweitrangiger Akteure ständig steigt. Aber vielleicht ist es ja gerade dieser Außendruck, der die Chance mit schafft dafür, die erforderliche Quadratur des Kreises zustande zu bringen. Denn das ist ja klar: Wenn die EU nicht zu neuer Handlungsfähigkeit findet, im Innern und dann auch nach Außen, werden alle EU-Mitgliedsländer mehr oder weniger schnell zu Objekten der historischen Entwicklung werden, statt diese zusammen mitzuprägen.


Sonst noch
  • Nächste Woche ist Straßburg-Woche. Dabei geht es um das kommende Budget der EU, und mit dem portugiesischen Premier António Costa wird ein weiterer Regierungschef im EP zur Zukunft der EU sprechen.
  • In dieser Woche war ich in Polen und hatte spannende Gespräche mit Ministern, Journalisten und den polnischen Grünen. Vor allem Nordstream 2, Investmentscreening  und die Europawahl waren dabei von Bedeutung.
  • Diese Woche veranstaltete ich mit Kerstin Andreae und Katharina Dröge ein interessantes Fachgespräch zu Investmentscreening in Berlin (Meinen Tweet dazu hier und hier der von Katharina Dröge). Ich bin als Berichterstatter im ITRE-Ausschuß weiter an dem Thema dran.
  • Donald Trump versucht, die Europäer zu provozieren und sich wirtschaftlich weiter abzuschotten. Meine Pressemitteilung zur jüngsten Ankündigung von Donald Trump über Strafzölle findet ihr hier.
  • Vom 01.- 03. März fand zum zweiten Mal das European Ideas Lab in Brüssel statt. Unter dem Motto „Grüne treffen Changemakers“ tauschten wir uns in Workshops und anderen Formaten zu sozialen, ökologischen und demokratischen Themen aus. Ich veranstaltete den Workshop „Let’s invest in our privacy“ und lud dazu zwei „Changemaker“ aus dem digitalen Bereich ein. Das war eine tolle und zukunftsweisende Veranstaltung!