Von Manfred Weber (CSU), Reinhard Bütikofer (Bündnis 90/Die Grünen), Nadja Hirsch (FDP) und Elmar Brok (CDU), Mitglieder des Europäischen Parlaments, sowie Norbert Röttgen (CDU), Oliver Krischer (Bündnis 90/Die Grünen) und Michael Link (FDP), Abgeordnete des Bundestags.
Ohne Solidarität kommt Europa nicht voran. Dem Satz würde so generell kein Realist widersprechen. Und doch hat die Forderung nach europäischer Solidarität nicht nur einen guten Ruf. Wenn sie aus Südeuropa kommt und sich auf die Wirtschaftspolitik der Eurozone bezieht, dann fürchten nicht wenige Deutsche um ihren Geldbeutel. Wenn Stimmen aus Deutschland von Polen, Ungarn oder Tschechien verlangen, ihren Anteil zur Linderung der Not der Flüchtlinge beizutragen, dann regt sich dort zum Teil rabiate Empörung. Bei der Frage möglicher sicherheitspolitischer Solidarität gegenüber den baltischen Ländern, die sich wegen der Politik ihres östlichen Nachbarn um ihre Sicherheit sorgen, sind die Ergebnisse von Umfragen in Westeuropa zum Teil außerordentlich beschämend. Solidarität muss sein, aber sollen wir uns das wirklich etwas kosten lassen?
In der europäischen Energiepolitik geht es ebenfalls um Solidarität, und Nord Stream 2 ist ein Projekt, bei dem der Streit darüber besonders drastisch hervortritt. Der Plan, eine zweite russische Gaspipeline durch die Ostsee nach Deutschland zu bauen, spaltet die EU politisch und stellt unsere Solidarität mit Polen, unseren baltischen Nachbarn, der Slowakei und der Ukraine, aber auch mit Dänemark und Schweden in Frage. Die Länder sehen ihre (Energieversorgungs-)Sicherheit von diesem russischen Vorhaben direkt oder indirekt bedroht. In Deutschland ist über Nord Stream 2 schon viel gestritten worden. Jetzt aber, da das Projekt in eine entscheidende Phase tritt, muss sich die deutsche Politik entscheiden. Was ist uns dieses Projekt wert? Was sind uns die Anliegen unserer Nachbarn wert?
Die EU-Kommission hat sich nach anfänglichem Zögern klar positioniert. Nord Stream 2 steht im Widerspruch zu den Zielen der europäischen Energieunion. Diese will nämlich Europa energiepolitisch unabhängiger machen, während Nord Stream 2 die Abhängigkeit von einem Lieferland, Russland, und von einer Lieferroute durch die Ostsee deutlich steigern würde. Ob Europa in Zukunft, wenn es wie geplant auf erneuerbare Energien und mehr Energieeffizienz setzt, überhaupt Bedarf für so hohen Gasimport hat, ist umstritten. Unbestreitbar ist dagegen, dass Russland dank Nord Stream 2 auf die Nutzung bisheriger Gasleitungen, insbesondere der durch die Ukraine und Polen, ganz oder zu großen Teilen verzichten könnte. Kritische Beobachter sehen in diesem Zusammenhang das eigentliche Motiv für die Investition in die Ostseepipeline. Die Ukraine nimmt derzeit jährlich etwa zwei Milliarden Euro an Durchleitegebühren ein. Darauf verzichten zu müssen bedeutete einen schweren Schlag für die dortige Wirtschaft; es wäre ein Schritt zur Destabilisierung der Ukraine. Sie wäre stärker russischem Druck ausgeliefert. Durch die Schwächung der Ukraine und eine stärkere direkte Anbindung Deutschlands an Russland sähe wiederum Polen und sähen die baltischen Länder ihre Sicherheitsinteressen berührt. Das ist nicht schwer zu verstehen. Übrigens sorgen sich auch die Ostseeanrainer Schweden und Dänemark mit Blick auf die russische Politik im Ostseeraum. Dänemark hat deshalb vor kurzem ein Gesetz beschlossen, wonach die Regierung bei Sicherheitsbedenken den Bau einer Pipeline durch dänische Gewässer untersagen kann. Das war eindeutig eine Lex Nord Stream 2, und wahrscheinlich wird sich das Betreiberkonsortium der Pipeline demnächst eine neue Route suchen müssen.
In Deutschland gibt es Befürworter und Gegner von Nord Stream 2. Soweit es diese auch in der vorigen Bundesregierung gab, wurde der Konflikt mit der Sprachregelung überdeckt, Nord Stream 2 sei kein politisches, sondern ein rein geschäftliches Projekt. Das mag für manchen Nord-Stream-2-Lobbyisten zutreffen, aber das Projekt selbst ist hoch politisch. Auch die Mehrheit der EU-Staaten und die EU-Kommission halten das Projekt für politisch, und zwar politisch schädlich. Die Kommission versucht derzeit durch eine Revision der EU-Gasrichtlinie, auf den weiteren Gang des Vorhabens Einfluss zu gewinnen. Im Europaparlament hat sie dafür eine satte Mehrheit.
Zusammenarbeit mit Russland ist wichtig, das gilt auch und gerade für gemeinsame Wirtschaftsprojekte, die Russland und die EU miteinander verbinden. Doch echte Zusammenarbeit kann nicht heißen, dass Deutsche und Russen über die Köpfe unserer EU-Partner hinweg etwas vereinbaren. So wird die EU gespalten, und Vertrauen geht verloren. Wer es wirklich ernst meint mit einer gemeinsamen EU-Energiepolitik, der muss die EU-Partner von Anfang an in die Projektentwicklung einbinden und dann gemeinsam mit einer Stimme mit Russland reden.
Die neue Bundesregierung muss Farbe bekennen. Europäische Energiepolitik und Solidarität mit unseren Nachbarn sprechen gegen Nord Stream 2. Dies sei insbesondere der SPD gesagt, die rhetorisch Europa gar nicht genug hochleben lassen kann, aber an dieser Stelle, wo es konkret wird, europäische Solidarität verweigert. Dass so etwas ohne Folgekosten wäre, kann niemand glauben. Wer europäische Solidarität selbst nicht übt, wird es schwer haben, sie bei anderer Gelegenheit einzufordern. Ohne Solidarität kommt Europa nicht voran.
20 February 2018, Frankfurter Allgemeine Zeitung