Ich weiß nicht, ob der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy und sein Widersacher, der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont, zusahen und zuhörten oder wenigstens zusehen und zuhören ließen, als das Europäische Parlament am 4. Oktober über die politische Krise diskutierte, welche diese beiden Herren mit Verbissenheit heraufbeschworen haben und immer noch weitertreiben. Sie hätten es auf jeden Fall tun sollen. Sie hätten dann von den allermeisten Rednern eine klare gemeinsame Botschaft gehört: Dialog, Dialog, Dialog!
An Dialogbereitschaft mangelt es derzeit in der politischen Landschaft Spaniens in gefährlicher Weise. Die gewaltsamen Polizeieinsätze am Sonntag, mit denen die verfassungswidrige Volksabstimmung in Katalonien über eine Unabhängigkeit der Region unterdrückt werden sollte, haben europaweit und darüber hinaus zu berechtigter Empörung geführt. Dem Vernehmen nach gab es über 800 Verletzte. Die Polizeieinsätze waren unverhältnismäßig, oft offenkundig brutal und nutzlos. Die Abstimmung fand statt. Etwa 42 % der Stimmberechtigten beteiligten sich daran, von denen angeblich 90 % für die Unabhängigkeit stimmten. Eine Mehrheit, auf die sich die katalanische Regionalregierung zur Erklärung der Unabhängigkeit sicher gern berufen hätte, war das nicht. Zudem konnte das Referendum nach spanischem Recht sowieso keine Legitimität für die Lostrennung Kataloniens schaffen, weil es gegen die Verfassung verstößt, die Spanien als einen unteilbaren Staat definiert. Trotzdem ist Katalonien seit dem Sonntag stärker und tiefer vom Rest Spaniens getrennt, als es davor war. Die Kluft ist außerordentlich emotional. Ein anonymer Brüsseler Diplomat soll am Sonntag mit Blick auf die Polizeieinsätze gesagt haben: „Rajoy macht alles falsch, was er falsch machen kann.“ Man kann es auch zynischer formulieren: Wäre es die Absicht von Rajoy gewesen, dem Feuer des katalanischen Nationalismus möglichst viel Nahrung zu bieten, um sich dann im Kampf dagegen zum Helden des spanischen Nationalismus aufzuwerfen, er hätte es nicht besser machen können. Doch zur Eskalation trugen ganz wesentlich auch die katalanischen Separatisten bei. Sie entschieden sich dafür, Demokratie – „Wir wollen in einer Volksabstimmung selbst entscheiden dürfen!“ – gegen den Rechtsstaat auszuspielen – „Dass das spanische Recht eine solche einseitige Loslösung nicht zulässt, schert uns nicht!“. Zudem wird nach Berichten verschiedener Freunde aus Katalonien dort inzwischen zum Teil außerordentlich heftiger sozialer Druck bis hin zur Bedrohung gegenüber solchen Bürgerinnen und Bürgern ausgeübt, die sich nicht für die katalanische Unabhängigkeit erwärmen wollen. Provokatorisch war es auch, für die nicht rechtmäßige Volksabstimmung noch nicht einmal ein Gültigkeitsquorum einzuführen. Herr Puigdemont behauptet nun allen Ernstes, 90 % Ja-Stimmen bei 42 % Wahlbeteiligung – von Unregelmäßigkeiten bei der Wahl wurde übrigens auch berichtet – verschafften ihm eine Berechtigung zur Unabhängigkeitserklärung. Die Mehrheit im katalanischen Parlament will die Unabhängigkeit ausrufen. Die spanische Justiz verbietet die Parlamentssitzung. Spanische Hardliner kritisieren Rajoy, er griffe noch nicht scharf genug durch. Die Eskalation geht weiter.
Man kann fragen, ob es nicht Alternativen gegeben hätte. Aber das nützt nichts. Hätte Rajoy die verfassungswidrige Abstimmung durchführen lassen sollen, um anschließend darauf zu bestehen, dass sie ohne Bedeutung sei? Hätten die spanische Zentralregierung und die Regionalregierung nach britischem Muster eine Verabredung über ein legales und für beide Seiten verbindliches Referendum treffen können? Hätte Madrid schon vor Jahren dem katalanischen Autonomiestreben mehr entgegenkommen müssen? Man kann die Frageliste verlängern. Doch hätte, wäre, wenn ist hilflos. Was nun, da die Krise brennt?
Ada Colau, die Bürgermeisterin von Barcelona, die selbst keine Anhängerin der katalanischen Unabhängigkeit ist, aber auf dem Recht der Katalanen besteht, darüber zu entscheiden, hat einen Vorschlag gemacht, wie beide Seiten jeweils einen Schritt zurücktreten könnten, um überhaupt Platz zu schaffen für einen politischen Prozess. Sie hat gefordert, dass die katalanische Regionalregierung darauf verzichten soll, die Unabhängigkeit zu erklären, und dass die spanische Zentralregierung darauf verzichten soll, die Autonomie Kataloniens aufzuheben. Das wären nur erste Schritte, aber extrem wichtige. Angesichts der brutalen Vorkommnisse des 1. Oktober könnte ein weiterer Schritt vielleicht darin liegen, die Venedig-Kommission des Europarates aufzufordern, die Vorgänge zu untersuchen und dazu eine öffentliche Stellungnahme abzugeben. Die Venedig-Kommission ist unabhängig und ihr Wort hätte Autorität. Zum dritten müssten zwei europäische Parteifamilien in Aktion treten, um die Heißsporne in Madrid und Barcelona besser zu beraten. Rajoy gehört der Europäischen Volkspartei an, der Partei Merkels. Warum beruft die Europäische Volkspartei keine Vorstandssitzung ein, um Rajoy das direkt zu sagen, was viele Christdemokraten im Europäischen Parlament hinter vorgehaltener Hand flüstern: Dass sie seine Vorgehensweise für unverantwortlich, gefährlich, Europas unwürdig und kontraproduktiv halten. Auch die spanischen Regionalisten gehören einer europäischen Parteifamilie an, der EFA – der Europäischen Freien Allianz, mit der wir Grüne seit Jahren eine gemeinsame Fraktion im Europäischen Parlament bilden. Zur EFA gehören etwa auch die schottischen Nationalisten, die einen viel klügeren Weg gewählt haben als die Kollegen im Süden. Auch sie müssten verstehen, dass die Zuspitzung in Spanien nicht in ihrem Interesse sein kann. Regionalistische Parteien, die für Autonomie und den Schutz ihrer Sprachen eintreten, können kein Interesse daran haben, dass als Nachwirkung zur spanischen Konflikteskalation ihre Bemühungen in vielen verschiedenen europäischen Ländern von zentralistischen Nationalisten unter den Verdacht gestellt werden, nur die erste Vorstufe zu Separatismus zu sein.
Nicht sehr klar in Erscheinung getreten ist bisher die spanische Linke. PSOE steht gegen die Unabhängigkeit Kataloniens, aber weiß nicht wie es weitergehen soll. Manche Kräfte aus der PSOE sind nicht weit von Rajoy entfernt. Podemos hat in dieser Woche zu einer Beratung in Madrid eingeladen, um nach einem Weg nach vorne zu suchen. PSOE war nicht dabei. Podemos ist, wie unsere spanischen Grünen Freunde von Equo und unsere spanisch-katalanischen Freunde von ICV, nicht für die katalanische Unabhängigkeit. Sie hoffen geradezu darauf, dass ein progressives Katalonien ein wichtiger Stützpfeiler ist und bleibt für progressive Politik in ganz Spanien; sie fürchten auch, Spanien ohne Katalonien geht dauerhaft nach rechts. Sie müssen jetzt sicher ihre Stimme erheben. Ihr Angebot an die Katalanen kann heißen: Wir sind solidarisch mit euch gegen die Repression und wollen, dass ihr über eure Zukunft abstimmen dürft. Das vertreten Equo und ICV schon seit längerer Zeit. Das Angebot an Madrid kann lauten: Wir streiten dafür, dass eine gestärkte Autonomielösung möglich wird, ein föderales Spanien, das nicht zerfällt, und dass, falls die Katalanen über ihre Unabhängigkeit abstimmen wollen, das im Rahmen der spanischen Verfassung geregelt wird.
In der Debatte des Europäischen Parlaments zur Situation in der Katalonien-Krise hat sich für die Kommission ihr erster Vizepräsident Frans Timmermans sehr vorsichtig geäußert. Von ganz rechts erntete er dafür den Vorwurf mit zweierlei Maß zu messen, weil die Kommission gegenüber Polen und Ungarn entschiedener auftrete. Ich halte diesen Vergleich für völlig daneben. Man sollte vielleicht doch nicht ganz ignorieren, dass Rajoy die spanische Verfassung auf seiner Seite hat, während Kaczyński die polnische Verfassung demontiert. Timmermans machte deutlich, dass die Kommission in beide Richtungen Kritik hat, versuchte aber unbedingt, den Vorwurf der Einmischung zu vermeiden. Formal war das richtig. Politisch reicht das nicht. Die Krise in Spanien hat Auswirkungen auf die ganze EU und ist daher Sache der ganzen EU. Die führenden Politiker der EU-Länder müssen sich respektvoll äußern, aber sie müssen sich äußern. Nur zwei Regierungschefs, die von Belgien und Slowenien, haben das bisher getan. Wo sind die Stimmen aus der deutschen Union? Äußern müssen sich auch die Schriftsteller, die Intellektuellen, die Wissenschaftler, die Sportler – alle, die eine Stimme haben und nicht wollen, dass der Widerstreit zweier Nationalismen Europas spanische Flanke verzehrt. Zeit ist noch, aber die Lunte ist nicht gelöscht. Einfach nach einer Vermittlung ”der EU” zu rufen ist nicht wirklich ein praktischer Vorschlag, aber mindestens müsste sich die EU daran beteiligen einen oder mehrere Vermittler zu finden, die von beiden Seiten in Spanien akzeptiert werden können.
Die beste Rede zur Situation in Spanien hielt am 4. Oktober übrigens Ska Keller, die dafür von vielen Seiten Beifall bekam.
Sonst noch
- Hier finden Sie die Rede von Ska Keller zur Situation in Spanien.
- Auch ich habe mich in einer Presseerklärung zum Unabhängigkeitsreferendum bzw. zur Krise in Katalonien geäußert.
- Das Europäische Parlament hat Einspruch eingelegt gegen die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Kriterien für die Bestimmung hormonverändernder Stoffe (Endokrine Disruptoren). Es folgte damit dem Vorschlag unserer Fraktion. Hier die Presseerklärung dazu.
- Die britische Zeitung „Express“ hat mich zum Brexit wie folgt zitiert: „Brexiteers didn’t believe the tiniest little bit in their own propaganda and they were surprised that they were so successful in fooling the British people and unprepared as they had, they’re now in the mess that they created.“
- EU-Parlament, EU-Kommission und EU-Mitgliedstaaten einigten sich am 3. Oktober auf eine neue Vorgehensweise, um europäische Industrien gegen unfaire Dumping-Praktiken aus Drittstaaten wie China zu schützen. Das Verfahren tritt ab dem 20. Dezember 2017 in Kraft. Hier finden Sie meine Presseerklärung dazu.
- Am 3. Oktober wurde mein Bericht „Politische Beziehungen der EU zum ASEAN“ mit 543 Ja-Stimmen, 66 Nein-Stimmen und 46 Enthaltungen angenommen.