An diesem Sonntag entscheiden aller Voraussicht nach die französischen Wählerinnen und Wähler, dass das Projekt der europäischen Einigung nicht nach 60 Jahren mit einem Wahlsieg der rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Marine Le Pen in Frührente geschickt wird. Von allen Enden Europas hört man jetzt schon die Seufzer der Erleichterung, das wird sich wohl von Sonntagabend an noch einmal deutlich verstärken, aber, wie Joschka Fischer in einer Kolumne kürzlich schrieb, „zum Jubeln ist es noch zu früh“. Ein Macron-Sieg vermeidet den katastrophalen Kurzschluss, lässt aber notwendigerweise sehr viele zentrale Fragen offen. Deshalb ist es wichtig, die Debatte über die künftige Ausgestaltung unseres europäischen Einigungsprojektes zu vertiefen. Insbesondere kommt es darauf an, viel mehr Menschen in diese Debatte einzubeziehen.
Diesem Ziel, eine breite Debatte über die Zukunft der Europäischen Union vorzutreiben, dient das Weißbuch zur Zukunft Europas, dass der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März vorstellte. Ich bin gerade dabei zu tun, was ich kann, um diese Diskussion zu befördern. Ich glaube nicht, dass man die europapolitische Debatte wegen des Bundestagswahlkampfes auf Eis legen sollte. Im Gegenteil, der Wahlkampf bietet eine gute Gelegenheit, diesem Thema die angemessene Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aus Frankreich werden vom Präsident Macron, so nehme ich an, bald Initiativen kommen zur Europapolitik. Zu heftig ist dort die Kritik am Status quo und insbesondere auch die Kritik an der deutschen Wirtschaftspolitik und der deutschen Rolle in der Eurozone, als dass Macron sich erlauben könnte, das Thema auch nur bis nach der Bundestagswahl liegenzulassen. Für die wahlkämpfenden Parteien in Deutschland heißt das dann, Stellung zu beziehen dazu, inwieweit sie jeweils bereit sind, mit französischen Anliegen tragfähige Kompromisse zu suchen, um der Europäischen Union, die das so dringend braucht, gemeinsam neue Impulse zu geben. Da kommt Junckers Weißbuch mit seinen fünf Optionen für den Weg nach vorne gerade recht.
Wohl gemerkt, es geht mir nicht darum, nur wieder die üblichen Verdächtigen der Europapolitik zu einem weiteren Stelldichein zu versammeln; es geht mir nicht einfach nur um europäische Bewegungen, Europaunion, die Landesarbeitsgemeinschaften Europa der Grünen usw. Vielmehr kommt es darauf an, die anstehende Europadebatte gerade dort zu führen, wo sie normalerweise nicht selbstverständlich stattfindet, in Verbänden, bei Gewerkschaften, in den Kommunen, an unseren Hochschulen (gemeint ist: auch außerhalb politikwissenschaftlicher Seminare) usw. Natürlich sollten alle aktiven Freunde Europas sich dafür engagieren, diese breitere Debatte anzutreiben. Ich glaube, das Interesse wächst. So berichtete mir gestern erst ein Verbandsvertreter aus der Industrie, er habe in einer Vertreterversammlung seiner Organisation noch nie eine so intensive Europadebatte erlebt, wie erst vor kurzem. Mir scheint, das Gefühl verbreitet sich, dass es in und für Europa um die Wurst geht. Auch die Kundgebungen der #PulseOfEurope-Bewegung sind dafür ein deutliches Zeichen.
Die fünf verschiedenen Wege, die Präsident Juncker in seinem Weißbuch aufgeschrieben hat, sind tatsächlich nicht dazu gedacht, dass man schematisch zwischen ihnen auswählen müsste. Das hat Juncker mehrfach öffentlich erklärt. Junckers Varianten beschreiben unterschiedliche Denkschulen und politische Herangehensweisen. Faktisch wird es ein gemeinsames europäisches Ergebnis nur geben, wenn am Ende eine sechste Option zustande kommt, die die wichtigsten Motive aus den anderen zu integrieren versucht. Ich will an dieser Stelle die verschiedenen Denkansätze nicht diskutieren. So ließe sich z.B. zu dem Model „der verschiedenen Geschwindigkeiten“ etwas sagen – schon die bisherige Debatte hat gezeigt, dass das auf erhebliche Sensibilitäten trifft und keineswegs überall gleich verstanden wird. Nur eine von Junckers fünf Optionen würde ich quasi von vorneherein für ungeeignet erklären. Das ist die zweite, die den Rückbau der Europäischen Union zu einer bloßen Wirtschaftsgemeinschaft thematisiert. Das halte ich für ausgeschlossen. Juncker hat angekündigt, er werde im September bei seiner Rede zur Lage der Europäischen Union Bilanz ziehen wollen über die Debatte über sein Weißbuch. Noch gibt es allerdings diese Debatte höchstens in Ansätzen. Also tun wir etwas dafür, dass er viel Stoff zum Bilanzieren haben wird. Verschiedene Kollegen im Europäischen Parlament, z.B. der EVP-Kollege Othmar Karas aus Österreich, haben schon angefangen in ihrem Gebiet jeweils solche Diskussion anzuregen, wie ich sie hier propagiere. Ich wende mich an diesen Tagen mit entsprechenden Initiativen an Grüne Bürgermeister, an Gewerkschaften, an Verbände mit dem Angebot und der Bitte solche Veranstaltungen zu organisieren. Wenn Ihr, gerade im Bundestagswahlkampf, auch zu solchen Diskussionen beitragen wollt – nicht im Grünen Hinterzimmer, sondern offen für breite Beteiligung – dann lasst hören!
Hier findet ihr das komplette Weißbuch.