“Europa ist die Heimat unserer Heimaten”

Bei der Feierstunde im Europäischen Parlament zum 20. Jahrestag des europäischen Revolutionsjahres 1989 hielt Václav Havel eine große, visionäre Rede.

Nur kurz ging Havel auf die zurückliegenden 20 Jahre ein; er wollte den Jahrestag vor allem nutzen, um Gedanken über die Zukunft zu äußern.

Rückblickend betonte der ehemalige tschechoslowakische Präsident, wie wichtig es war, dass sich NATO und die EU für neue Mitglieder öffneten. Damit sei sowohl verhindert worden, dass diese Länder eine neue europäische Zwischenzone der Unsicherheit wurden, dass sie zum Ziel des Kampfes um Einflusszonen und dass sie zum Tummelplatz für Nationalisten und Chauvinisten wurden. Mit Blick, nicht zuletzt auf sein eigenes Land, sagte Havel: “Es lohnt sich für die EU zu akzeptieren, dass wir Euch ab und zu Sorgen bereiten. Eine demokratische politische Kultur lässt sich nicht über Nacht schaffen. Ich bitte um Verständnis.”

Dann wandte sich Havel der Zukunft zu.

Havel verwies zunächst auf die Erfahrung der neuen Mitgliedsländer mit totalitären und autoritären Regimes: “Da haben wir Europa etwas zu bieten.” Europa müsse sich verlässlich solidarisch zeigen mit allen Menschen, die unter totalitären und autoritären Regimes leben. Selbst gut gemeinte Kompromisse könnten da fatale Konsequenzen haben. Havel wandte sich strikt gegen jedes Appeasement. Er forderte, ohne Russland ausdrücklich zu nennen, dass Europa nicht wegen sicherer Gasversorgung zu Morden an Journalisten leise treten dürfe.

Zu einem zweiten Punkt wandte sich Václav Havel der Frage nach Identitäten zu. Unsere Identitäten hätten jeweils verschiedene Schichten: “Jeder von uns ist bunt.” Deshalb könne es auch auf keiner Ebene eine vollständige Souveränität geben. Havel fasste seine Haltung in dem schönen Satz zusammen: “Europa ist die Heimat unserer Heimaten.” Die europäische Integration müsse weiter gehen, wenn auch den Nationalstaaten insbesondere die Aufgabe bliebe gegen eine “unheilvolle Vereinheitlichung” der Welt zu wirken.

Nicht aufzwingen, sondern inspirieren!

Vielleicht der grünste Teil der Rede Havels kam, als er von einer neuen Rolle Europas in der Welt sprach. Jahrhunderte lang habe Europa wenigstens geglaubt, das Hauptzentrum der globalen Zivilisation zu sein. Europa habe damit auch den gewaltsamen Export seiner Werte legitimiert. Die neue Herausforderung sei jedoch: Nicht Aufzwingen, Inspirieren! Die globale Ordnung der Zukunft liege in der Kooperation überstaatlicher Organisationen auf partnerschaftlicher Basis im Sinne von Gleichheit und Wahrhaftigkeit. Zur Partnerschaft gehörten auch die Abkehr vom Kult des unbedingten Profits, die Abkehr vom Kult des wachsenden Wachstums, die Abkehr von kopfloser Plünderung des Planeten. An sinkendem Konsum solle man künftig Forschritt messen. Dazu müsste sich Europa aber auch auf der spirituellen Ebene grundlegend ändern.

Zur demokratischen Gestalt des künftigen Europa war Havel sehr klar. Er plädierte für ein stärkeres Europäisches Parlament mit mehr Gesetzgebungszuständigkeit, für eine Art Europäischen Senat, in dem jeder Staat mit gleich viel Mitgliedern vertreten und der für drei Dinge zuständig sein solle, die Konsens erfordern; für eine Kommission, die nicht mehr nach nationaler Herkunft bestimmt werde; für einen Europäischen Rat als kollektives europäisches Oberhaupt mit einer Person an der Spitze; für eine kurze europäische Verfassung, “die jedes Schulkind verstehen kann”, deren erster Teil die Charta der Grundrechte sein müsse.

Abschließend kehrte Václav Havel zum Thema der Werte zurück. Die EU müsse sich stärker auf den Bezug zu ihren geistigen Grundlagen orientieren. Das geistige Erbe Europas stamme von Antike, Judentum, Christentum, Islam, Renaissance und Aufklärung. Auf die hierin begründete Moralität müsse sich die Artikulation des Europäertums konzentrieren.

Er sei sicher, sagte Václav Havel, dass sich Europa nie mehr spalten lasse.

Das Parlament dankte Havel mit langem, stehendem Beifall. Die Euroskeptiker hatten immerhin den guten Geschmack wegzubleiben, statt zu stören.


Foto: Martin Kozák via wikimedia commons