Die Legende von der Europäischen Armee

Von Frithjof Schmidt und Reinhard Bütikofer

Legenden werde gerne bemüht, weil sie sich als Projektionsfläche unterschiedlicher Vorstellungen hervorragend eignen. So verhält es sich auch mit der Idee einer Europäischen Armee.  In ihr verbinden sich seit langem die unterschiedlichsten Konzepte und Ziele zu einer schillernden Vision.Doch wer die schöne Seifenblase fassen möchte, wird enttäuscht. Sie entwischt oder zerplatzt.

Große Teile der europäischen Linken und der gaullistisch inspirierten konservativen Rechten sahen und sehen seit Jahrzehnten in einer Europäischen Armee ein Instrument zur Emanzipation von der US-amerikanischen Hegemonie in der NATO beziehungsweise von der NATO insgesamt. Viele europäische Föderalisten hingegen verbinden mit dem selben Vorschlag die Durchsetzung eines europäischen Bundesstaates nach US-amerikanischem Muster.  Wieder andere hoffen, die Europäische Armee könne ein Durchgangsstadium sein auf dem Weg zum pazifistischen Ziel der Abschaffung des Militärs insgesamt. Heute changiert die Idee der Europäischen Armee vor allem zwischen der Vorstellung des militärischen Armes einer neuen „Supermacht“ Europa und der Vorstellung eines wichtigen Instrumentes weltweiter Abrüstung.  Von der Realität der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das aber alles weit entfernt.

Zuletzt haben EU-Kommissions-Präsident Juncker und Bundesverteidigungsministerin von der Leyen der Debatte neuen Schwung verliehen. Er hat die Europäische Armee gefordert als Instrument zur Abschreckung russischer Großmachtpolitik und zur militärischen Selbstbehauptung der EU, also de facto als Ersatz für die NATO. Er hat dann darauf verzichtet, diesen Gedanken irgendwie weiter auszuführen oder konzeptionell zu unterfüttern. Sie nahm den Vorstoß auf, allerdings mit der gegenläufigen Versicherung, es gehe nur darum, den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken. Auch sie hat nicht versucht, dies konzeptionell weiter auszuführen.

Die instrumentelle und unernsthafte Art, in der beide Akteure daher kommen, legt nahe, dass es nicht wirklich um eine langfristige Perspektive geht,  sondern um kurz- und mittelfristige Ziele der europäischen Sicherheitspolitik.

Wer das Stichwort Europäische Armee daraufhin aufgreift, ist schon hereingefallen. Denn es hat nur den Sinn, mit seiner wunderbaren Wagheit als argumentativer Rückzugsraum im Übermorgen zu dienen und den tatsächlichen Absichten von heute als Gleitmittel zu dienen.

Die Einführung einer europäischen Armee ist nicht vorstellbar, ohne dass die  EU-Mitgliedsstaaten bereit sind, ihre nationale sicherheits- und verteidigungspolitische Entscheidungskompetenz weitgehend auf europäischer Ebene zu integrieren. Das würde bedeuten, dass zukünftig in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik genau der Souveränitätsverlust der einzelnen Mitgliedstaaten akzeptiert werden müsste, den diesen bisher konsequent verweigert haben. In Deutschland wäre hierfür eine Änderung des Grundgesetzes notwendig. In Frankreich würde das die Abschaffung des Kerns der Präsidialverfassung bedeuten und auch in Großbritannien und etlichen anderen EU-Mitgliedsstaaten würde das grundlegende verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen.

Wer glaubt, dass das politisch umstrittene Finalitätsziel eines föderalen europäischen Bundesstaates nach amerikanischem Muster über den Weg der militärischen Integration der nationalen Streitkräfte in eine europäische Armee durchgesetzt werden kann, hat anscheinend den aktuellen europäischen Trend zur Renationalisierung schon vergemeinschafteter Kompetenzen nicht mitbekommen. Der Widerstand könnte das europäische Projekt als Ganzes gefährden. Als der britische Vizepremier Nick Clegg nach den Juncker-Plänen einer europäischen Armee gefragt wurden, antwortete er nur trocken: „It’s not going to happen.“ Punkt. Wer die europäische Integration qualitativ voranbringen will, muss Fortschritte im Bereich der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik erreichen und darf nicht den Einstieg über den Versuch der Abschaffung der militärischen Souveränität der Mitgliedsstaaten suchen.

Auch eine Antwort auf die gegenwärtigen sicherheitspolitischen Herausforderungen Europas ist der Vorschlag einer europäischen Armee nicht.  Auf den Krisengürtel in der europäischen „Nachbarschaft“, der von Mauretanien an der afrikanischen Atlantikküste über Libyen, Zentralafrika, den Süd-Sudan bis nach Somalia am Indischen Ozean reicht und sich vom Jemen über den ganzen Nahen und Mittleren Osten bis Zentralasien fortsetzt, ist eine solche Armee ebensowenig eine politische Antwort, wie  auf die neue nationalistische Großmachtpolitik Russlands im Osten Europa. Denn zum einen würde eine Verengung aufs Militärische der Tiefe der Probleme nicht gerecht und zum anderen haben wir die nicht die Zeit, die der „große Wurf“ unvermeidlich bräuchte.

Es ist aktuell eine gemeinsame europäische Stabilisierungs-Strategie mit ziviler und militärischer Kooperation gefragt, die bestehende Unterschiede flexibel und pragmatisch nutzt und mit Partnern wie etwa der Afrikanischen Union auf Augenhöhe zusammenarbeitet.

In der Europäischen Union gibt es unterschiedliche Vorstellungen über den Einsatz von Militär. Die Spannbreite reicht von der Neutralität Österreichs über das Prinzip der militärischen Zurückhaltung und der strikten parlamentarischen Kontrolle in Deutschland bis zu einem Selbstverständnis in Ländern wie Frankreich und Großbritannien, die militärische Machtprojektion als „normales“ Mittel einer durch die Exekutive geprägten Außenpolitik sehen.

Das kann und muss gar nicht durch die Verschmelzung der nationalen Armeen aufgelöst werden. Im Gegenteil, Fortschritte in der Effektivität und Effizienz europäischer Sicherheitspolitik sind nur zu erreichen durch eine Konzentration auf verstärkte sicherheitspolitische Kooperation und den Aufbau gemeinsamer zweckgebundener militärischer Einsatzkräfte. Das ist sicherheitspolitisch etwas anderes als die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee. Aber diese beschränkte Ambition zeigt einen gangbaren und nicht nur imaginierten Weg.

Aus grüner Sicht stellte sich bei einer Europäischen Armee auch die Frage der britischen und französischen Atomwaffen. Eine gemeinsame Armee, deren Einsatzdoktrin durch die Einbeziehung  von Massenvernichtungswaffen geprägt ist, wäre für uns politisch nicht akzeptabel. Die vollständige nukleare Abrüstung als Bedingung für eine europäische Armee bedeutete aber eine Umschreibung für die Vertagung des Projektes in utopische Ferne.

Und ist eine europäische Armee überhaupt wünschenswert, wenn die EU dadurch letztlich ihre  einzigartige Stellung als Zivilmacht verliert, die ein hohes Wirkungspotential als „Softpower“ beinhaltet und die EU bislang deutlich von klassischen Großmächten unterscheidet? Das macht durchaus einen wichtigen Teil ihres internationalen Ansehens aus. Dieser Staatenverbund neuen Typs, der Elemente eines Bundesstaates und Elemente einer Föderation von Nationalstaaten zusammenführt, ist gerade deshalb in vielen Regionen ein Vorbild für Wege der Integration jenseits von Großmachtbildung. Ist die Idee einer europäischen Idee nicht tatsächlich eine Art logischer Widerspruch, in dem  die radikale organisatorische Lösung der sicherheitspolitischen Kooperations- und Koordinierungsprobleme gefordert wird, weil am nötigen politischen Willen zur Kooperation und Koordination Zweifel bestehen, wobei doch ohne diesen politischen Willen die vorgeschlagene organisatorische Lösung völlig verbaut bleibt.

Was ist im übrigen mit der NATO? Kann irgend jemand glauben, die oben genannten widersprüchlichen Erwartungen bezüglich einer Stärkung oder Schwächung der NATO durch die Bildung einer europäischen Armee ließen sich als nachrangige Fragen behandeln?

Es gibt starke Kräfte in der EU, die eine verstärkte Zusammenarbeit mit einem Ausbau der Exekutivrechte im militärischen Bereich verbinden wollen. Die starken militärisch-industriellen-politischen Komplexe in verschiedenen Mitgliedsstaaten sind nicht zu unterschätzen. Die Möglichkeit eines großen Militärapparates, der auf keiner Ebene mehr einer wirkungsvollen parlamentarischen Kontrolle unterliegt, steht durchaus im Raum. Zur Begründung wird seit geraumer Zeit die Behauptung verbreitet, dass der Parlamentsvorbehalt in Deutschland der Effizienz gemeinsamer militärischer Planung und der gebotenen Schnelligkeit bei einem Notfall-Einsatz im Wege stehe. Für diese Behauptungen gibt es zwar kein einziges belegtes Beispiel, aber die Debatte über eine Relativierung des Parlamentsvorbehaltes ist gerade in Deutschland vor diesem Hintergrund schon in vollem Gange.

Hier geht es konkret um diese Weichenstellung für die nächsten Jahre. Ob  eine verstärkte militärische Zusammenarbeit und Integration durch den Erhalt demokratischer parlamentarischer Kontrolle auf der nationalen Ebene, bzw. den Ausbau dieser Kontrolle auf europäischer Ebene begleitet wird, ist für uns Grüne zentral. Die Rolle des Militärischen in unserer Gesellschaft steht dabei zur Debatte. Wer dagegen die Zentralisierung militärischer Fähigkeiten unter Ausnutzung einer Idealisierung der Europäischen Armee in der Mittelpunkt rückt, verschiebt den Diskurs und öffnet anderen Prioritäten politischen Spielraum.

Seit knapp einem Jahr tagt eine Kommission unter dem ehemaligen Verteidigungsminister Rühe, um Vorschläge für die Überarbeitung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes zu erarbeiten. Es ist kein Geheimnis, dass viele Unionspolitiker gerne mehr Flexibilität für die Regierung beim Einsatz der Bundeswehr herausverhandeln möchten. Deshalb dürfte es kein Zufall sein, dass nur wenige Wochen vor Veröffentlichung des Abschlussberichtes der Kommission die Idee einer Europäischen Armee in der deutschen Debatte weite Kreise zieht.

Verteidigungsministerin von der Leyen, eine dezidierte Befürworterin von europäischen Streitkräften, antwortete auf diese Debatten angesprochen nur lapidar: „Es kann sein, dass wir das deutsche Recht ändern müssen.“

Auch von der Leyen wird bewusst sein, dass sie in ihrer aktiven politischen Laufbahn keine Europäische Armee mehr erleben wird. Aber um der Debatte über einen vereinfachten Einsatz deutscher Soldaten im Ausland weiter Auftrieb geben zu können, eignet sich aus ihrer Sicht die Idee der Europäischen Armee hervorragend. Dazu sollten wir Grüne deutlich auf Abstand bleiben.

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Eine englische Übersetzung findet sich hier.

Photo by EU Naval Force Media and Public Information Office