Aufgalopp in Straßburg: Schwierige Mehrheitsbildung im Europaparlament
Ausgerechnet am französischen Nationalfeiertag konstituierte sich am Dienstag das Europäische Parlament. Der Beginn, noch unter dem Vorsitz des scheidenden Parlamentspräsidenten Pöttering (CDU/EVP), sah einen zaghaften Versuch der durch die Europawahl gestärkten Europagegner gegen Europahymne und die ganze hölzern-feierliche Inszenierung zu protestieren. Trotzdem ging zunächst alles glatt. Der ehemalige polnische Ministerpräsident Buzek wurde mit hohem Stimmenergebnis gewählt, einschließlich der Unterstützung unserer Fraktion; die schwedische Gegenkandidatin der linken GUE/NGL bekam etwa 50 Stimmen über diejenigen ihrer Fraktion hinaus, doch das war sozusagen im Rahmen.
Vizepräsidentenwahl macht Mehrheiten sichtbar
Doch dann zeigte sich bei der Wahl der 14 Vizepräsidenten, wie schwierig die Mehrheitsbildung im neuen Europäischen Parlament noch öfter sein wird. In den ersten beiden Wahlgängen erreichten nur drei KandidatInnen die erforderliche absolute Mehrheit. Dabei standen insgesamt nur 15 Personen zur Wahl; es war klar, dass nur eine davon nicht zum Zuge kommen würde. Angesichts vieler Hinweise auf eine neuerliche „Große Koalition“ war das instruktiv, denn es zeigte, dass die EVP-Fraktion ebenso wie die Sozialisten+Demokraten von erheblichen inneren Konflikten geprägt sind.
Spannend bei McMillan-Scott und Koch-Mehrin
Spannend wurde die Wahl an zwei Stellen. Zum einen kandidierte der Tory-Abgeordnete McMillan-Scott, der schon bisher Vizepräsident gewesen war, der europafreundlich ist und von seiner eigenen neuen rechten ECR-Fraktion nicht unterstützt wurde. Die hatte statt dessen den polnischen Rechtsausleger Kaminski nominiert, der sich in der Vergangenheit als Rassist und Schwulenhasser gezeigt hatte. Zum zweiten kandidierte für die Liberalen (ALDE) Frau Koch-Mehrin (FDP), die sich durch unkollegiale Anmaßung, Populismus und mangelnde Arbeitsfreude wenig Freunde gemacht hatte.
Respektables Ergebnis für Isabelle Durant
Für unsere grüne Fraktion kandidierte die ECOLO-Abgeordnete Isabelle Durant, ehemalige belgische Vize-Ministerpräsidentin. Sie lag von vornherein gut im Rennen und wurde im dritten Wahlgang, als es nur noch um relative Stimmenergebnisse ging, mit sehr respektablem Ergebnis gewählt.
Schlechtestes Ergebnis für Koch-Mehrin
McMillan-Scott wurde auch von unserer Grünen/EFA Fraktion mitgewählt. Damit wollten wir ein hartes Stop-Signal setzen gegen Herrn Kaminski. Frau Koch-Mehrin dagegen wählten wir zwei Wahlgänge lang nicht mit. Sie erzielte zwei Mal mit weniger als 150 Stimmen weit abgeschlagen das schlechteste Ergebnis, noch hinter Kaminski. Im dritten Wahlgang ging es aber darum, ob Koch-Mehrin oder Kaminski gewählt würde; eine dritte Alternative gab es nicht. Da entschieden wir Grüne uns dazu, lieber die FDP-Frau zu unterstützen. Damit gaben wir am Ende den Ausschlag: mit acht Stimmen Vorsprung gegenüber Kaminski wurde sie letzte Vizepräsidentin. Ob sie aus der Schlappe lernen kann, die das Ergebnis für sie auf jeden Fall darstellt, werden wir sehen. Unübersehbar war, dass durch ihr Fast-Scheitern, für das vor allem die EVP geworben hatte, der Abstand zwischen EVP und ALDE ein bisschen größer geworden ist.
Grüne nun vierte Kraft im EP
Von erheblicher Konsequenz war der Wahlausgang für die neue rechte ECR-Fraktion. McMillan-Scott wurde nach seinem für die eigene Fraktion unwillkommenden Erfolg noch am selben Tag aus dieser ausgeschlossen. Damit haben ECR jetzt einen Sitz weniger als wir – und es ist klar, dass wir eindeutig die vierte Fraktion sind. Der gescheiterte Kaminski übernahm den ECR-Fraktionsvorsitz und wird diese wohl noch weiter nach rechts führen. Das wird dort zu weiteren Konflikten und Reibungen führen.
Gefahr großkoalitionärer Kungelei ist gesunken
Insgesamt sinkt mit diesem Ausgang zugleich die hypothetische Chance, dass die EVP im Europäischen Parlament auch mal mit ECR und ALDE eine Mehrheit bilden kann. Das ist aus unserer Sicht zu begrüßen. Die europäische Sozialdemokratie, die hier als Sozialisten+Demokraten auftreten, werden damit eine Ausrede weniger haben, sich auf prinzipienlose großkoalitionäre Kungelei mit der EVP einzulassen. Ob Martin Schulz, ihr Fraktionsvorsitzender, das begreift?
Auf Grün kommt es an – auch bei Barroso
Zwei Schlussfolgerungen aus grüner Sicht sind noch hinzuzufügen. Erstens: Die unfreundlichen Kommentare, es käme auf Grün im neuen Parlament nicht an, haben sich als ziemlich voreilig erwiesen. Mit klarer Richtung und kluger Taktik können wir eine ernst zu nehmende Rolle spielen. Zweitens: Die schwierige Mehrheitsbildung wirft einen Schatten voraus auf die immer noch für September geplante Wiederwahl von Kommissionspräsident Barroso. Bei genauer Analyse zeigt sich, dass er sich weniger als je auf eine sichere Mehrheit verlassen kann, wenn, ja wenn die Sozialdemokraten nicht ängstlich einknicken. Damit bleibt die Hoffnung, dass die Kommission einen anderen Präsidenten bekommen wird, einen der für die großen Herausforderungen besser gewappnet ist als Barroso. Die Sache ist keineswegs entschieden.
Bildnachweis: Voting on a resolution during Strasbourg plenary von European Parliament – Lizenz: CC-BY-NC-ND