Mein Papier über den Berliner Grünen Wahlkampf

Nachdem der Berliner Wahlkampf um das Abgeordnetenhaus weniger erfreulich endete als wir Grüne erhofft hatten, habe ich ein internes Diskussionspapier geschrieben, in dem ich mich mit dem Wahlkampf und dem Verhältnis zwischen Grünen und SPD auseinandersetze. Dieses Papier ist, wie Meldungen deutlich machen, Gegenstand der Berichterstattung im nächsten Spiegel. Damit nun nicht Der Spiegel alleine entscheidet, was an Kritik und Überlegung berichtet wird oder nicht, ist hier das Papier im Original.

***

Reinhard Bütikofer

16.10.2011

Nach Berlin

„Ich bin mir sicher, kein Grüner wird das der SPD vergessen.“ Mit diesem Satz fasste Renate Künast gegenüber ihrem Lieblingsmedium, der Leipziger Volkszeitung, unmittelbar nach dem provozierenden Verhandlungsabbruch durch SPD-Bürgermeister Wowereit ihre Gefühle zusammen. Steffi Lemke dagegen, Politische Bundesgeschäftsführerin des Grünen Bundesverbandes, wollte keine Auswirkungen des Berliner Eklats auf eine mögliche Zusammenarbeit von SPD und Grünen auf Bundesebene erkennen können: „Berlin sollte jetzt mal ein bisschen Berlin bleiben.“

Soweit hat Renate Künast ja Recht: Wowereits Entscheidung war kein beiläufiges Ereignis. Nicht nur wartet in Berlin jetzt noch einmal fünf Jahre das harte Brot der Opposition auf uns Grüne. Auch bundesweit wird dieses Erlebnis nicht ganz leicht zu verdauen sein. Aber warum sollten Grüne der SPD bis zum Ende der Zeiten nachtragen, was Wowereit sich geleistet hat? Die Grünen sind  über die hessische Dachlatte hinweggekommen, über manche Demütigung in NRW durch Clement und Steinbrück, über jahrelange Missachtung durch Kurt Beck, über viele Macho-Anmaßungen Schröders; sie werden auch über den Affront des Berliner Regierenden nicht ewig zürnen wollen.

Steffi Lemke andererseits –  sie lässt sich bei Rot-Grün-Bekenntnissen nie überbieten – sollte ihre Freundin Andrea Nahles, die zunächst auch so tat, als sei gar nichts geschehen, mal fragen, wie es wirklich war. Tatsächlich hat Wowereit, bevor er „Nein!“ sagte, sich mit der SPD-Spitze wenigstens so weit abgestimmt, dass Gabriel unmittelbar nach dem Berliner Knall mit einer bundesweit verallgemeinernden Attacke auf die angebliche Infrastrukturfeindschaft der Grünen loslegen konnte. Übrigens: Rot-Grüne Bundesratsmehrheit außer Reichweite – keine Auswirkungen? Rot-Grün fast heftiger verzankt als Schwarz-Gelb, so dass inzwischen die sogenannte Große Koalition eine Meinungs-Mehrheit für sich hat – keine Auswirkungen?

Beides, das Abwiegeln von Lemke wie die Drohgeste von Künast, ist in unterschiedlicher Weise Ausdruck von Schwäche. Wir Grüne haben uns in Berlin eine Niederlage eingefangen. Da hilft es auf Dauer nicht, vor allem darüber zu reden, was die SPD in Berlin veranstaltet hat. Wir müssen anders ansetzen. Ich plädiere dafür, mit der kritischen Analyse mal bei uns selbst anzufangen.

 

Sind wir nicht – zum Teil – selber schuld?

Wie kam es dazu, dass Wowereit und seine SPD eine mögliche Koalition mit Grün platzen ließen?

Dass die Berliner Koalition zwischen SPD und Grünen an der A100 gescheitert sei, das ist in der Tat Dummenfang. Einen Kompromiss hätte es gegeben, wenn Wowereit dazu bereit gewesen wäre. Die Sprache dazu war ja vom stellvertretenden SPD-Landesvorsitzenden schon aufgeschrieben und von der Grünen Seite  akzeptiert.  Ganz am Ende ging die Grüne Verhandlungsgruppe dann noch einmal auf die SPD zu. Es wäre ein fauler Kompromiss gewesen, ja,  aber da schließe ich mich dem feinen Lob des faulen Kompromisses an, das Brigitte Fehrle argumentiert hat. „Lange Bank“ ist nicht grundsätzlich dumm; vor allem, wenn gar nicht klar ist, ob es je genug Geld für ein Projekt geben wird.

Wowereit wollte die Koalition mit den Grünen nicht, jedenfalls nicht, wenn wir nicht bereit waren uns so von ihm kujonieren zu lassen wie vorher Die Linke, sagen viele. Ich glaube das auch. Seine massive Abneigung war schon im Wahlkampf mit Händen zu greifen. Hätte er uns sonst mit dem mehrfachen öffentlichen Hinweis beleidigt, wir würden ja nach der Wahl schon umfallen? Aber wie ist zu erklären, dass die Ablehnung des Regierenden nicht durch andere Einflussfaktoren überlagert wurde? Dass die Rot-Grün-Stimmung in der Stadt Berlin nicht mehr Wirkung hatte?

Wowereit war die eine Stimme Mehrheit zu knapp, die er mit uns Grünen gehabt hätte, heißt es sogar aus der SPD. Sicher stimmt das auch. Doch auch daraus ergibt sich für mich eher eine Frage als eine Antwort. Wie ergab es sich, dass Rot-Grün nur eine Stimme Mehrheit gehabt hätte? Gab es daran nicht auch einen grünen Anteil? Wäre es bei den Sondierungen genauso abgelaufen, wenn wir Grüne über 20% gelegen hätten? Wenn wir und nicht die Piraten den größten Balken nach oben gehabt hätten? Wenn wir bei der Hauptstadtpresse nicht so sehr im Verschiss gewesen wären?

Damit sind wir beim Wahlkampf. Und bei der nötigen kritischen Bestandsaufnahme der Berliner Grünen: Warum wurden wir nicht stärker gewählt? Warum war die öffentliche Meinung nicht stärker auf unserer Seite?

Die grüne Basis war im Wahlkampf nach meinem Erleben hoch motiviert, auch dann noch, als der Wahlkampf schwierig war. Ansonsten aber gibt es viele Gründe für Kritik. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

–       Die Parteiflügel arbeiteten sich in ihrem fast lustvoll kultivierten Streit für meinen Geschmack im Vorfeld des Wahlkampfes deutlich zu lange an einander ab.

–       Die monatelange Unfähigkeit, den Wahlkampf thematisch zu profilieren fällt ein. Erst wenige Wochen vor der Wahl nahm ein Landesausschuss die von der Kampagnenführung ausgearbeitete Liste von 10 Punkten mit jeweils 4-5 Unterpunkten als „Zuspitzung“ an! Diesen Wust aber konnte sich keine Wahlkämpferin merken. Was fehlte, waren klar profilierte Eckpunkte als Antwort auf die Frage: Was wird anders, wenn Grüne regieren? Als ganz zum Schluss des Wahlkampfes die A100 dann zum Leuchtturm grüner Programmatik wurde, war das aus der Not geboren, dass andere erkennbare Kanten nicht entwickelt worden waren.

–       Die bieder-spießigen Wahlplakate: „Renate sorgt für bessere Bildung“ fallen mir ein. (Ihr habt Euch gar nicht bedankt, Piraten!) Das war von der Anmutung her eine matriarchalische Reprise der CDU der sechziger Jahre; Mutter Staat sorgt schon. Was ist daran besonders grün, modern, einladend? Zu plakatieren „Renate nervt“, wie es ein Agentur-Vorschlag vorsah, dazu fehlte die Traute. Ich wette, das hätte mindestens 1% mehr gebracht! ;-)

–       Etliche erfahrene Leute aus der grünen Berliner Landespolitik wurden im Wahlkampf kaum oder gar nicht zu Rate gezogen.  Es war ein Wahlkampf of, for and by Renate. Der Umstand, dass wir Grünen das stärkere Team hätten haben können als die SPD, kam praktisch nicht zum Zug.

–       Der Wahlkampf wurde nicht von irgendeiner Idee davon, was wir Grüne mit der Hauptstadt vorhaben, geprägt, sondern von der zweifelhaften Vorstellung, eine Renate für alle sei genug Angebot. Das von einer Programmpartei, bei der selbst Joschka der Große zu seiner Zeit immer nur ein zusätzlicher Grund war, Grün zu wählen.  Statt einen narrativen Bogen zu spannen, verliefen wir uns in den von einer wunderbaren „Mecker-App“ eingesammelten Einzelheiten.

–       „Da müssen wir ran“ war auch ein merkwürdiger Spruch. Wieso müssen? Ob wir wollen oder nicht? Nicht so aufgeregt! „Nicht alles anders, aber vieles besser!“, wäre eine passendere Tonart gewesen. Und wer ist wir? Wir Grüne? Ganz alleine? Oder wir Berliner? Und wenn ich nicht will? Und was tun wir, wenn man uns „da ran“ läßt?

Doch das alles wäre halb so schlimm gewesen, wenn nicht auch noch die Strategie verkehrt gewesen wäre.

Berlin tickte Rot und Grün. Deswegen konnte die CDU nicht gewinnen und Die Linke auch nicht. Die SPD konnte gewinnen oder wir Grüne, je nachdem, wer dem rotgrünen Gefühl das beste Angebot machte. Eine grüne Sieges-Strategie hätte es darauf anlegen müssen, der SPD den Rang abzulaufen, ohne den Konflikt Rot gegen Grün dabei zum Hindernis werden zu lassen. Es hätte eine „bear hug“- Strategie sein können: Wir wollen gerne zusammen mit der SPD die Stadt nach vorne bringen. Dazu haben wir ein paar besonders wichtige Vorschläge, Beiträge und Forderungen. Weiter wie bisher geht nicht. Wer dabei nach der Wahl die Führung übernimmt, das sollen die WählerInnen entscheiden. Wir trauen uns das durchaus zu. Lasst uns den Wahlkampf als Gelegenheit nutzen zu klären, was die BerlinerInnen wollen. So machen wir das dann.

Manche meinen, man hätte eine CDU-Option von vorneherein ausschließen müssen. (Manche meinen das sowieso immer.) Ich meine das nicht. Aber man hätte wohl sagen sollen: Das schließen wir nicht kategorisch aus, können es uns aber nur für den Fall vorstellen, dass die SPD einen rot-grünen Aufbruch verbockt und wir tatsächlich als führender Koalitionspartner mit der CDU mehr wichtige Inhalte – konkret:  1. …, 2. …, 3. … – realisieren könnten. (Paradox zugespitzt: Mit der CDU geht´s nur, wenn mit der CDU mehr von dem zu holen ist, was das Grün-Rote Berlin will, als mit Wowereit.) Aber es gilt wie in NRW: Wir wollen das nicht, sondern setzen auf Zusammenarbeit mit der SPD, da die uns in vielem näher steht. Und es gilt wie in Bremen: Wir werden nicht nur deswegen mit der CDU gehen, weil wir dann die Bürgermeisterin stellen können.

Stattdessen war unsere Botschaft: Zusammenarbeit von Rot und Grün wollen wir nur in einer Variante, mit stärkeren Grünen, Grün-Rot. Rot-Grün wurde nur hinter vorgehaltener Hand besprochen. Ob dann vielleicht der Ratzmann dem Wowi den Vize macht? Und wenn Grün  wirklich schwächer wird als die SPD,  könnten wir ja noch mit einem Juniorpartner CDU die Bürgermeisterin kriegen. Aber sag das nicht zu laut, sonst rebelliert Friedrichshain-Kreuzberg. Nicht ein einziges Mal hat Renate Künast die CDU-Frage im Wahlkampf unverdruckst und klar thematisiert. Ausgeschlossen wurde nix, aber nix Genaues wusste man auch nicht. Dabei wurde die Frage immer drängender, je klarer Grün hinter Rot zurück fiel. Es wurde zur Spirale: Wir liegen hinter den Roten. Was ist nun mit Schwarz?  Keine Klarheit. Rückstand wird größer. Drängendere Fragen. Mehr Unmut über Unklarheit. Mehr Rückstand. Bis Grün auch hinter Schwarz lag. Dann, tatsächlich zu spät, zog Renate Künast die Reißleine, schloss eine Zusammenarbeit mit der CDU aus und wurde zur Spitzenkandidatin, die zwar noch da war, aber auch schon weg.

Hätte die angewandte Strategie funktionieren können? Vielleicht, wenn Grün vor Rot geblieben wäre. Aber darauf die Kampagne aufzubauen, dass dieser optimale Fall tatsächlich einen ganzen Wahlkampf lang gegeben sein könnte, das war eine Mischung aus Selbstüberschätzung und Fahrlässigkeit.

Nach all dem haben wir am Ende 4,5% Prozent zugelegt, während die SPD um 2,5%Prozent abbaute und Wowereit seinen Sitz im Abgeordnetenhaus an einen CDU-Nobody verlor. Und – ausgerechnet – uns Grünen wurde mehr soziale Kompetenz zugesprochen als der SPD! Wenn das kein Hinweis ist darauf, wie groß die Chance war, die wir vergeben haben! Die Begeisterung, die es zu Beginn der Kandidatur von Renate Künast gab, war ja auch nicht eingebildet gewesen. Da lag viel Hoffnung drin. Beides ist übrigens eine Erklärung dafür, warum die SPD so hart gegen uns vorging. Die Genossen saßen eben nicht sicher im Sattel. Die Herausforderung, die wir ihnen servierten, war eine mit Realitätsgehalt. Sie konnten ja nicht von vornherein darauf rechnen, dass wir solche Fehler machen und damit ermöglichen würden, dass Wowereits matter Stern doch nicht unterging.

 

Strategische Fragen

In Berlin fand zwischen Rot und Grün auch eine Auseinandersetzung von nationaler Bedeutung statt. Hätten wir die SPD in der Hauptstadt geschlagen oder wären wir nahe an sie heran gerückt, dann hätte bei den Roten die beschwichtigende Ausrede, dass Baden-Württemberg eben eine Ausnahme gewesen sei, nicht mehr gezogen. Oh weh! Zeigten die unerhört hohen grünen Umfrage-Ergebnisse den Beginn einer Zeitenwende für die SPD an, in der sie ihre Führungsfähigkeit für unser Land verlieren könnte? Wowereit kämpfte auch um den Rang der Bundes-SPD. Man erinnert sich noch: Jürgen Trittin und Cem Özdemir standen schon im Verdacht, ein Schattenboxen um die grüne Kanzlerkandidatur auszutragen, während Renate Künast, weniger subtil, von sich aus der Springerpresse verkündete, sie könne auch Kanzlerin. In der ganzen Geschichte der Bundesrepublik hatte die SPD  keine solche Herausforderung erlebt. Das hat ihren Stolz verletzt. Die SPD nahm das ernst – und nahm es übel.

Aus letzterem erklärt sich, dass Wowereit, der Schmach entronnen, darauf setzte, uns Grüne dorthin zurück zu stoßen, wo vorher nach sozialdemokratischer Auffassung unser Platz gewesen war: an den Katzentisch, als Junior im „linken Lager“, Aushilfskellner. Klug war das nicht. Nach dem lateinischen Sprichwort „Parcere subjectos et debellare superbos! – Die Unterworfenen schonen, die Stolzen niederkämpfen!“ wollte er nur Unterwerfung als Voraussetzung für Zusammenarbeit akzeptieren. Für´s debellare, für´s Niederkämpfen, fehlte ihm jedoch nach seinem nicht eben brillianten Wahlergebnis die Kraft. Dass er die Variante der Entwicklung einer fairen, neuen Partnerschaft verweigerte, kann für ihn noch zum Eigentor werden. Hat er gut bedacht, worauf er sich einlässt, wenn er in Berlin, wo nur ein Viertel Schwarz-Gelb gewählt hat, mit der CDU koaliert?

Vielleicht hat er ja gezockt und es ermutigte ihn die Einschätzung, dass Renate Künast unbedingt eine Regierungsbeteiligung abliefern wolle, um nicht völlig verloren zu haben; dass wichtige grüne Landes-Akteure schon sehr lange auf dem Sprung in die Exekutive stünden und jetzt ungeduldig würden;  dass die linken Berliner Grünen besonders stark auf Rotgrün orientiert waren; dass es uns Grünen nicht gelungen war, ihn durch guten inhaltlichen Wahlkampf im eigenen Lager unter Druck zu setzen; dass die Berlin-Medien uns kritischer angingen als ihn. Er hat sich verrechnet, wenn er so rechnete.

Vielleicht hatte er tatsächlich Angst vor Berliner Heide-Mördern aus den eigenen Reihen, wollte das aber hinter einem Streit mit Grün verstecken. Wie auch immer, jedenfalls verweigerte er den Berliner Grünen, was Hannelore Kraft in NRW oder auch die SPD in Bremen erfolgreich praktiziert hatten, Fairness. Weil er eine Koalition auf Augenhöhe nicht eingehen wollte, hätten wir Grüne den ganzen Fortschritt der letzten Jahre hin zu größerer Eigenständigkeit opfern müssen, um mit ihm handelseinig zu werden.

Das Symbol für die Eigenständigkeit war die A100. Das hätte man zu Beginn des Wahlkampfes anders einfädeln können, aber nicht mehr an seinem Ende. Da nachzugeben hätte bedeutet ein bundesweit sichtbares Signal zu schaffen für eine Rollenzuweisung, die Wowereit schon im Wahlkampf vorbereitet hatte: um den Anzug eines Senators tragen zu dürfen, knicken Grüne ein – so sind sie eben. Wir hätten uns zur FDP der SPD erniedrigt. Das haben uns Volker Ratzmann und Co. erspart. Bei dem Druck, unter dem sie nach dem verkorksten Wahlkampf standen, ist das keine kleine Leistung. Im Nachhinein betonen nun einige, es hätte lieber statt der A100 ein anderes Symbol für dieses Ringen geben sollen.  Gab es aber nicht. Deshalb ist die Kritik ausgerechnet aus der Kreuzberger Parteilinken an Ratzmann entweder billiges, strömungspolitisches Nachtreten  oder eine interessante Variante der alten Klage über den Verlust der „Fleischtöpfe Ägyptens“.

So, wie die Sache nun ausgegangen ist, kann in Berlin von einem längerfristigen Andauern des Ringens um Hegemonie zwischen SPD und Grünen ausgegangen werden. Wenn wir Grüne uns aufraffen. Wir müssen das als die neue Normalität begreifen. Wowereits hat für Berlin jegliche Illusion über rot-grüne „Projekte“, über progressive Brüderlichkeit oder linke Lager-Gemeinsamkeit zerstört. Wenn sein Björn Böhning jetzt zum Besten gibt, das gemeinsame „Lager“ dürfe nicht gespalten werden, nachdem die SPD im Wesentlichen wegen ihrer Dominanzansprüche gegenüber uns Grünen zu der CDU in´s oder auf´s Lager gehüpft ist, dann ist das nur noch lächerlich. So viel linke Sülze gibt es nicht, so viel Schaum kann niemand schlagen.

Wer um Hegemonie kämpfen will, sollte nicht klagen, dass der, der sie lange inne hatte, nicht freiwillig abtritt. Es gilt zudem zu verstehen, dass der Kampf um Hegemonie nicht als Gezänk und nicht als Erbauseinandersetzung gewonnen wird und auch nicht als Vernichtungskrieg. Das heißt für Berlin: das Feindbild Wowereit ist wertvoll und voll gerechtfertigt, aber es darf einer erfolgversprechenden Grünen Strategie nicht im Weg stehen. Die Stadt tickt weiterhin Rot und Grün. Weil wir im Wahlkampf schief gewickelt waren, hat Wowereit eine Etappe in der Auseinandersetzung um die Hegemonie in diesem Spannungsfeld gewonnen. Jetzt koaliert er mit der CDU – und die nächste Phase im selben Kampf beginnt mit neu verteilten Karten. Ich sehe bei uns Grünen da einige Trümpfe. Fangen wir also das neue Spiel an, statt dem alten zu lange hinterher zu trauern.

Wowereit ist übrigens, so sehr er natürlich ein ganz besonderer Fall ist, nur ein Mosaikstein in einer breiter zu beobachtenden Entwicklung der SPD. Seit Hamburg, Fukushima und Stuttgart stellt sich die SPD neu auf. Olaf Scholz war, zweifellos unter besonderen Bedingungen, der erste SPD-Wahlkämpfer seit Ende der Großen Koalition, der wieder erfolgreich der CDU in der rechten Mitte Paroli bot und dabei gewann. Da hatte die SPD erstmals seit ihrem katastrophalen Ergebnis bei der letzten Bundestagswahl wieder Grund, stolz zu sein auf etwas, was sie aus eigener Kraft erreicht hat. Demgegenüber zeigte die Dynamik nach Fukushima zwei für die SPD bedrohliche Entwicklungen. Zum einen räumte die Union eine Riesenbarrikade gegen uns Grüne weg. Zum anderen profitierten die Sozialdemokraten nicht vom Antiatomkampf, so sehr sich Sigmar Gabriel auch in Menschenketten einreihte; die Leute wählten einfach das Original. Und Stuttgart beweist: Wenn die Person stimmt und die Botschaft stimmt, können Grüne an 25% herankommen und hegemonial werden. In Baden-Württemberg gilt „Kretsch = Kult“ bis ins CDU-Lager hinein.

Wenn die SPD das einfach hinnähme ohne Reaktionen zu zeigen, wäre sie in der Tat der politische Zombie, als den sie oberflächliche Kommentatoren schon wiederholt dargestellt hatten. Ist sie aber nicht. Also sucht sie nach Gelegenheiten, sich von uns Grünen abzugrenzen, eigene Horizonte zu entwickeln, eigenen Appeal aufzubauen. Sigmar Gabriel hat daraus die aus seiner Sicht nahe liegende Schlußfolgerung gezogen, die SPD müsse sich wieder stärker gegen uns Grüne profilieren. Das hat sie früher immer gemacht. Darüber ist keineswegs zu klagen. Aber richtig dagegen halten sollte man.

Gabriel versteht, dass er zweierlei zu leisten hat, wenn er die SPD wieder erfolgreicher machen will: er muss sie profilieren, gerade auch gegen uns Grüne, aber er darf die rot-grüne Möglichkeit dabei nicht leichtfertig zerstören.  Es sei denn, er hätte die Gelegenheit, in einer Koalition von SPD und Union der stärkere Partner zu sein. Hätte Wowereit wählen müssen zwischen harten Zugeständnissen an uns und einer Juniorpartnerschaft bei Henkel, hätte er anders agiert. Das ist aber die Wahl, die Gabriel nach derzeitigen Anzeichen voraussichtlich auf Bundesebene haben wird.

Schon länger sucht Gabriel nach Formeln und Rastern, mit denen er eine rot-grüne Kooperation so thematisieren kann, dass die SPD dabei möglichst gut aussieht. Mehrfach hat er vor diesem Hintergrund versucht, uns Grüne als Liberale zu kategorisieren und von sozial-liberal statt von rot-grün zu reden. Er tut das, scheint mir, um uns das Soziale abzusprechen und subtil zu signalisieren, wir entstammten einer Geistesströmung, die nicht moderner ist als die Sozialdemokratie, sondern älter. (Es ist nicht hilfreich, wenn einzelne Grüne selber das „liberale“ Etikett für unsere Partei hochleben lassen. Wahr ist: wir haben liberale Erbschaften angetreten, ebenso wie linke und wertkonservative; aber auf keine dieser Dimensionen kann man „Grün“ verkürzen.)

Jetzt denkt der SPD-Vorsitzende offenbar, mit dem Infrastrukturthema eine zweite Schiene gefunden zu haben, auf der seine Truppe voran kommt. Nach der klassischen politischen Gesäßgeographie  greift er uns damit „von rechts“ an, also von dort her, wo Olaf Scholz erfolgreich war und wo Unzufriedenheit über Merkels „bürgerliche“ Chaotentruppe besonders virulent ist. Da man nun schlechterdings nicht verlangen kann, die SPD solle völlig darauf verzichten, sich an uns zu reiben, scheint mir wichtiger, dies festzuhalten: Das muss unser Schade als Grüne nicht sein. Viel hängt davon ab, wie wir antworten.

In der Debatte über den Atomausstieg fing die SPD schon an, als Sprachrohr industriepolitischer Bedenken großer Konzerne aufzutreten, die mit der atom-verräterischen Kanzlerin Merkel gründlich zerstritten waren. Während Gabriel als Umweltminister unter dem Einfluss von Matthias Machnig noch auf ökologische Industriepolitik gesetzt hatte, im Bundestagswahlkampf noch Steinmeier dabei unterstützt hatte, allerdings erfolglos, mit dessen „Deutschland-Plan“ eine gewisse Antwort auf den ökologisch-innovatorischen Green New Deal zu entwickeln, scheint er sich nun entschieden zu haben, wieder stärker an den klassischen Industrialismus der SPD anzuknüpfen.  Als Clement-Nachfolger sozusagen. Ganz fix sind alle herkömmlichen Klischees gegen uns Grüne wieder bei der Hand. Manchen SPD-Rechten ist keine Anmache ist zu billig; als seien Grüne selbstverständlich und generell gegen Autobahnen, Bahnlinien, Stromtrassen, Kraftwerke und was sonst noch so an Infrastruktur umstritten sein kann. Frank-Walter Steinmeier verhält sich da bedachter. Hat Gabriel  analysiert, was er anrührt, oder war er nur mal wieder von einem eigenen Gedanken begeistert?

Gabriel spielt ein bisschen, wie meistens, glaube ich. Er ist so selbstverständlich sprunghaft, dass er vielleicht sogar glaubt, die unterschiedlichen Signale in unterschiedliche Richtungen seiner SPD zumuten und zugleich unter Kontrolle behalten zu können. Doch für die SPD hat diese neue Akzentuierung auch Risiken. Ich sehe vor allem zwei. Infrastruktur-Traditionalismus darf, das zum einen, eigentlich nicht das Einzige sein, das der SPD zum Thema Profil einfällt, um sich von uns abzugrenzen. Natürlich kann sie mit den Themen, bei denen sie uns seit der Rotgrün-Zeit mehr oder weniger konsequent hinterher gelaufen ist, nicht so viele Blumentöpfe gewinnen. Und was Neues fällt ihr anscheinend bisher nicht ein. Dabei wird bis 2013 die Zeit knapp. Zweitens kann so eine schöne Auseinandersetzung um Untergrund-Bahnhöfe und Autobahnkilometer und Kohlekraftwerke schnell zu einer Anbahnung von großkoalitionärem Petting ausarten. Es zeigt sich bereits in der aktuellen öffentlichen Diskussion, dass die strategische Botschaft der SPD wieder unklarer wird. Will sie nun Merkel ablösen oder doch lieber anbändeln? So lange die SPD nicht eine richtig gute Chance hat, stärkste Partei zu werden, gibt es außer ein paar SPD-Rechten nur eine Person, der das wirklich gefallen kann – die Bundeskanzlerin.

Merkels strategische Lage ist denkbar übersichtlich. Sie kann auf eine Wiederwahl der gegenwärtigen Koalition nicht rechnen. Damit ist sie eigentlich für die Regierungsbildung 2013 aus dem Spiel, es sei denn es gelänge, Rot-Grün gegeneinander auszuspielen und um eine gemeinsame Mehrheit zu bringen. Dann blüht ihr Weizen vielleicht wieder. Was in Berlin geschehen ist, kann sie deshalb nicht unfroh gemacht haben.

Blick voraus

Seit Mai haben wir Grüne in Umfragen erheblich an Zustimmung eingebüßt. Da könnte die SPD durchaus auf den Gedanken kommen zu prüfen, wie weit sie diese schwächere Phase nutzen kann, um uns Resonanz abzujagen und uns gegenüber wieder stärker zu dominieren. Doch mit einem Schwenk zur „Großen“ Koalition scheint mir das wenig aussichtsreich. Selbst Stimmen wie die von Olav Scholz, der meinte, seine Partei solle sich nicht auf Rot-Grün für 2013 festlegen, sprechen nicht für einen solchen Schwenk. Für die SPD ist wie für uns Grüne für 2013 bisher eine attraktivere Alternative zu Rot-Grün nicht in Sicht. Sollten SPD und Grüne tatsächlich ab 2013 zusammen im Bund regieren wollen, dann müssen sie sich allerdings nicht nur jeweils profilieren, auch gegeneinander, sondern bis dahin auch heraus arbeiten, wie mögliche Lösungen für mehr oder weniger absehbare Kontroversen und Konflikte aussehen könnten. Sonst geht es Rot-Grün dann gegebenenfalls ähnlich wie Schwarz-Gelb nach der letzten Bundestagswahl. Dazu ist mir allerdings die Aufforderung der Financial Times Deutschland, SPD und Grüne sollten jetzt das Schmusen ein bisschen zurückstellen und lieber streiten, viel sympathischer als die Einrichtung gemeinsamer Arbeitskreise.

Auf Bundesebene ist es mit Blick auf die Wahl 2013 nicht realistisch, als Grüne mit der SPD in einen Wettbewerb um Hegemonie eintreten zu wollen. Einen Kanzlerkandidaten werden wir nicht brauchen. Aber eine Rückkehr zu einem Kräfteverhältnis, wie es in der Schröder-Fischer-Zeit galt, ist eben so wenig aussichtsreich. Wenn es zwischen SPD und Grünen 2013 etwas werden soll, muss es etwas Neues werden.

Von grüner Seite müssen wir verhindern, dass wir unsere thematische Breite wieder zusammen schnurren lassen; im Gegenteil, wir sollten uns breiter aufstellen. Zum anderen müssen wir darauf achten, uns nicht in einen reaktiven Politik-Modus drängen zu lassen, sondern proaktives Profil als Partei der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Erneuerung zu behalten.  Dass es bisweilen mit der Konkurrenz , SPD eingeschlossen, etwas härter zur Sache gehen wird, liegt auch an einem für uns Grüne durchaus positiven Grund: Wir sind zu einem politischen Faktor geworden, der stärker bekämpft wird, weil er stärker die Position anderer in Frage stellt.

Gar nichts nützen formelhafte Bekenntnisse zu Rot-Grün, Ausschließeritis-Orgien und dergleichen mehr. Kurz bevor Klaus Wowereit in Berlin die Grünen vor die Tür beförderte, hatten Jürgen Trittin und Renate Künast die Grünen aller Ebenen aufgefordert bzw. dazu verdonnern wollen, der SPD für alle kommenden Wahlen vorauseilende Koalitionstreue zu schwören. Das stieß zu Recht auf gehörigen Protest aus den Landesverbänden, die sich solche Ansagen aus Berlin klar verbaten. (Das war in der Weise auch neu, wie da zwei Berliner Obergrüne aus der Provinz zurecht gewiesen wurden. Es bringt neue grüne Kräfteverhältnisse zwischen Bund und Land zum Ausdruck.) Es wäre geradezu lächerlich, den Wowereit-Affront, der von der Bundes-SPD durch publizistischen Feuerschutz gedeckt wurde, jetzt durch Rot-Grünes-Lager-Romantik zu belohnen. Wenn ich, ganz ähnlich wie Kretschmann, mir nicht vorstellen kann, dass es 2013 eine Schwarz-Grüne Koalition geben könnte, sehe ich doch keinen Grund, für Rot-Grün in den Kampf zu ziehen, statt für Grün. Olav Scholz verlangt von der SPD, für Rot zu kämpfen, um so stark wie möglich zu werden. Warum sollten wir unsererseits nicht genau so entschieden sagen: Unser Ziel sind möglichst starke Grüne, um möglichst viel von unseren Zielen durchsetzen zu können!

Der seit 2005 entwickelte Kurs grüner Eigenständigkeit ist die beste strategische Option, die wir haben. Aber das Wort Eigenständigkeit ist keine Zauberformel, die konkrete Politik ersetzt. (Karo Linnert ist, soweit ich weiß, in Bremen in einer festen rot-grünen Verbindung höchst eigenständig.) Dass Eigenständigkeit keine inhaltliche Äquidistanz zu SPD und Union bedeutet, gilt auch immer noch. Eigenständigkeit heißt in erster Linie zu klären, was wir politisch konkret realisieren wollen und warum und wie, und dann potentielle Bündnispartner daran zu messen, wie viel davon mit ihnen zu machen ist. Dagegen keine Debatten zu führen, die so tun, als würden wir uns über eine Koalitionsaussage definieren. Ein Bindestrich-Etikett sagt einfach zu wenig.

Wir werden nach der Berlin-Erfahrung noch mal genauer darüber reden müssen, was wir mit Eigenständigkeit nicht meinen. Berlin war kein Beispiel für erfolgreiche Politik der Eigenständigkeit. Immerhin hat die Führung den Stolz und die Klugheit gehabt, am Ende nicht unter Aufgabe der Eigenständigkeit in den Senat zu stolpern. Ins Koch-Kellner-Schema gehen wir nicht zurück. Als Oppositionsführer können wir in den nächsten fünf Jahren in Berlin einen neuen Anlauf machen. Das Verhalten der SPD in Berlin spornt uns dabei an. Aber den Angriff gegen ihre Führungsrolle, der diesmal nicht erfolgreich war, werden wir nicht deshalb fortsetzen, weil sie bös mit uns umgesprungen sind, sondern weil wir überzeugt sind, besser als sie zu wissen, wo es hingehen soll.

Auf Bundesebene ist Rot-Grün, das zeigen aktuelle Zahlen, nicht so selbstverständlich, wie es viele gerne hätten. Man kann nicht so tun, als wäre eine grüne Regierungsbeteiligung 2013 schon fast unvermeidlich. Die Konsequenz daraus ist einfach. Wir müssen in der vor uns liegenden Zeit hauptsächlich das machen, was in Berlin zu kurz kam: grüne Vorhaben, grüne Projekte, grüne Reformen ins Zentrum rücken! Dafür die Trommel rühren, landauf, landab!

Eine grüne Koalitionsaussage für den Bund kommt 2013 früh genug.