Europas Rolle in der Welt: Die EU-Handelspolitik neu aufstellen

Angesichts der Bedeutung der Handelspolitik der Europäischen Union und ihrer derzeitigen Schwierigkeiten wächst gleichzeitig die Notwendigkeit, auch die politische Basis zu verbreitern, auf der wir sie betreiben. Ein Überblick über die derzeitigen Herausforderungen und ein Plädoyer für mehr zivilgesellschaftliche Beteiligung.

Die Handelspolitik der Europäischen Union hat sich in den zurückliegenden fünf Jahren mit drei großen Veränderungen auseinandersetzen müssen. Erstens: Europas Gewicht in den internationalen Handelsbeziehungen ist insbesondere aufgrund des Aufsteigens von mehr und mehr Ländern des Globalen Südens relativ zurückgegangen. Zweitens: Bei der Handelspolitik geht es zunehmend – jenseits von ökonomischer Logik – um Machtpolitik mit anderen Mitteln, und damit auch um Fragen der nationalen Sicherheit. Drittens: Die Handelspolitik kann sich gerade mit Blick auf die international vereinbarten Nachhaltigkeitsziele der Anforderung nicht mehr entziehen, gestaltend zur grünen Transformation des weltweiten Wirtschaftens beizutragen. Die Handelspolitik der EU muss diese Verschiebungen ernst nehmen und eine entsprechende Flexibilität an den Tag legen. Sie kann sich nicht auf lange eingeübte Orthodoxien aus vergangener Zeit zurückziehen. 

Mit Blick auf die beiden größten Handelspartner der EU, nämlich China und die Vereinigten Staaten von Amerika, herrscht weitgehend Ernüchterung vor. Die chinesische Win-win-Rhetorik passt immer offensichtlicher nicht zur unfairen Realität. Mit Handelsschutzinstrumenten wie dem Anti-Dumping Instrument, dem Investment Screening, dem Foreign Subsidies Instrument, dem International Procurement Instrument, dem Anti-Coercion Instrument, dem Importverbot für Produkte aus Zwangsarbeit und dem Lieferkettengesetz hat die EU sich relativ erfolgreich um Möglichkeiten der Gegenwehr bemüht, wo die Regeln der WTO leider nicht ausreichend für ein „level playing field“ sorgen. Chinas langfristige Strategie setzt nicht auf internationale Partnerschaft, sondern auf Dominanz. Darüber kann sich nur täuschen, wer dafür bezahlt wird, die Realität zu verkennen. 

Risiko-Minimierung durch „De-Risking“ 

In zahlreichen Sektoren der Industrie drohen in den nächsten Jahren massive Exportschwemmen hochsubventionierter chinesischer Überkapazitäten auf den europäischen Markt. Wer keine teilweise De-Industrialisierung Europas erleiden will, wird dem nicht einfach zusehen können. Unsere Parole heißt dabei nicht „Abkoppeln von China“, sondern Risiko-Minimierung, also „De-Risking“. 

Es geht, wohlgemerkt, nicht nur um einige wenige Nischen: Über die Solarindustrie diskutieren wir gerade, wegen der Elektromobilität macht sich die Europäische Kommission zu Recht Sorgen (auch, wenn manche kurzsichtigen Lobbies meinen, man müsse vor der Feuerwehr warnen und nicht vor dem Feuer). Darüber hinaus ließe sich die Vitaminindustrie nennen, von der ziemlich direkt auch unsere europäische Lebensmittelsicherheit abhängt. Ferner sind Stahlüberkapazitäten ein altes Ärgernis und die ursprünglich von Europa durch freiwilligen und geklauten Technologietransfer groß gemachte chinesische Bahnindustrie demonstriert eine interessante Geschichte. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Nicht nur der europäische Markt selbst erfordert da unsere Aufmerksamkeit, sondern die Rückschläge in Drittmärkten angesichts von chinesischen Überkapazitäts-Exporten machen europäischen Unternehmen ebenfalls schwer zu schaffen. In China selbst hat sich die kommunistische Partei offensichtlich zum Ziel gesetzt, ausländische Investoren entweder zu zwingen, sich Pekings machtpolitischen Ambitionen dienstbar zu erweisen oder aber auf Standortsicherheit zu verzichten.

Die transatlantische Wirtschaftspartnerschaft

Anders – aber keineswegs leicht – zu meistern, sind die handelspolitischen Probleme im transatlantischen Verhältnis. Die USA haben sich (und zwar, soweit ich sehen kann, in beiden politischen Lagern) dafür entschieden, der Grundsatzorientierung am Handelsmultilateralismus und der WTO Adieu zu sagen. Die WTO in ihrer heutigen Verfassung wird dort weithin als eine Institution eingeschätzt, die von China einseitig zum Nachteil marktwirtschaftlich organisierter Länder ausgenutzt wird. 

Die politische Basis für gemeinsame Reformanstrengungen von USA und EU zur Überwindung tatsächlicher Mängel des multilateralen Systems ist nicht gegeben. Während wir Europäer:innen versuchen, unsere Handelspolitik im Rahmen des WTO-Rechts weiter zu entwickeln, schert sich weder die Biden-Administration um einen solchen Maßstab noch würde es eine republikanische US-Regierung tun, falls sie im November ins Amt gewählt würde. 

Beispiele gibt es zuhauf: Der Boeing-Airbus-Streit ist nur vertagt, dasselbe gilt für die illegalen amerikanischen Sonderzölle auf europäischen Stahl und europäisches Aluminium. Die Begrenzung der Wettbewerbsnachteile für europäische Unternehmen, die sich aus dem Inflation Reduction Act ergeben, nämlich über ein Abkommen über kritische Rohstoffe, hat sich bisher als vergebliche Hoffnung erwiesen. Bei für Europa ziemlich einschneidenden amerikanischen Exportrestriktionen scheint überwiegend das Prinzip zu gelten: Handle erst, konsultiere später.

Offiziell wird ständig betont, wie wichtig es sei, zwischen den USA und der EU gerade für Zukunftstechnologien gemeinsame Standards zu setzen, aber wer mit Standardisierungsorganisationen redet, erfährt, dass diese in entsprechende Beratungen im Rahmen des Trade and Technology Council (TTC) kaum eingebunden sind. Immerhin gibt es den TTC, doch handelspolitisch muss man seine Erfolge mit der Lupe suchen, und ob er nach der Präsidentschaftswahl weitergeführt wird, weiß nur Gott Merkur. 

Auch zeigen die USA kein Interesse daran, dort, wo der Multilateralismus nicht vorankommt, wenigstens gleichgesinnte marktwirtschaftlich orientierte Länder plurilateral unter einen Hut zu bringen. Vielmehr ziehen sie systematisch minilaterale Formate vor, in denen sie leichter dominieren können. Dass die USA im Rahmen ihrer „China Containment“-Strategie darauf verzichten würden, weitere Exportbeschränkungen und z.B. auch das Outbound Investment Screening voranzutreiben, darüber sollte sich Europa keinerlei Illusionen machen. Wir werden uns solchen Entwicklungen auch nicht einfach entziehen können. Denn gegenüber den USA gilt der Satz, dass Europa sich nicht abkoppeln kann, noch vielfach stärker als gegenüber China. 

Handelsbeziehungen mit gleichgesinnten Partnern

Auf der Positivliste der europäischen Handelspolitik stehen verstärkte Bemühungen darum, mit möglichst vielen, vor allem mit einigermaßen gleichgesinnten Partnern weltweit die Handelsbeziehungen fair zu vertiefen. Die Bandbreite der Abkommen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, reicht von dem Mercosur-Abkommen, einer Art „Handelsdinosaurier“, der aus der Vorzeit ins Jetzt hineinragt, bis zu dem jüngst verabredeten Freihandelsabkommen mit Neuseeland, das gerade auch von vielen kritischen Zeitgenoss:innen als eine Art Goldstandard künftiger EU-Handelspolitik apostrophiert wird. 

Doch wer etwa annähme, man könnte vielleicht mit Indien ein Freihandelsabkommen erreichen wie mit Neuseeland, oder mit Indonesien eines wie mit Singapur, wäre völlig auf dem Holzweg. Hier kann es keine Schablonen geben. Indien z.B. will nicht nur Marktöffnung für Marktöffnung, sondern auch vermehrt ausländische Investitionen für den Aufbau der eigenen Industrienation. Im Falle Chiles hat sich gezeigt, dass wir den für Europas Wirtschaft elementar wichtigen Zugang zu Industrierohstoffen eher sichern können, wenn wir dem Interesse unseres Partners Rechnung tragen, auch selbst einen größeren Anteil an der Wertschöpfung zu gewinnen. Dieselbe Einsicht muss gegenüber Indonesien und anderen ASEAN-Ländern zum Tragen gebracht werden.

Gerade weil die USA nach dem Rückzug aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) den von vielen Partnerländern dringend gesuchten Marktzugang nicht gewähren, muss die EU an dieser Stelle proaktiv handeln. Und, ich wiederhole, flexibel sein. Dazu könnten z.B. neue Instrumente gehören, wie ein regionales Freihandelsabkommen zwischen der EU und der ASEAN-Staatengruppe oder sektorale Abreden im Sinne der Sicherung resilienter Lieferketten, so wie wir Grüne das etwa gegenüber Taiwan vorgeschlagen haben.

Wer die Infrastrukturbedürfnisse der Länder Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas ignoriert, braucht sich nicht wundern, wenn China mit seiner Hegemonialambition in diese Lücke stößt.

Für die EU ist (weil die handelspolitische Gemeinschaftskompetenz uns in diesem Bereich zu einem Schwergewicht macht, während wir in anderen Dimensionen der internationalen Beziehungen allzu oft national zersplittert auftreten) die Handelspolitik in der vor uns liegenden Zeit ein zentrales Instrument, sich als geopolitischer Akteur zu bewähren. Dabei sollten wir übrigens mit einbeziehen, dass die chinesische Belt and Road-Strategie uns eine gründliche Lektion erteilt hat: Wer die Infrastrukturbedürfnisse der Länder Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas ignoriert, braucht sich nicht wundern, wenn China mit seiner Hegemonialambition in diese Lücke stößt und darüber Abhängigkeiten schafft. Wir Europäer:innen müssen den Ehrgeiz haben, in diesem Infrastrukturentwicklungswettbewerb bessere Angebote zu machen. Die Überschrift dafür hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit der Global Gateway-Initiative gesetzt. Einige herausragende Leitprojekte, wie etwa der Indien-Nahost-Europa-Entwicklungskorridor (IMEC) oder das High North Fiber Cable Project, zeigen die grandiosen Möglichkeiten. Mangelndes Interesse bei unseren Partnern für Europas Beiträge zur Entwicklung eines Netzes vertrauenswürdiger Konnektivität ist auch nicht zu beklagen. Now we must walk the talk. 

Beitrag der Handelspolitik zur Klimatransformation

Vielleicht am schwierigsten wird es sein, den Beitrag der Handelspolitik zur grünen Klimatransformation richtig zu vermessen. Das ist auch deswegen der Fall, weil an dieser Stelle Politikbereiche frühzeitig miteinander in Verbindung gebracht und koordiniert werden müssen, die traditionellerweise als politische Silos behandelt wurden.

Ein Beispiel ist der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM): Dieser wurde entwickelt, weil wir unsere Industrie nicht internationaler Schmutz-Konkurrenz aussetzen wollen, wenn sie sich darum bemüht, mit erheblichen Investitionen die grüne Transformation voranzutreiben. Selbstverständlich wird, wer die ökologische Innovation anführt, langfristig davon auch ökonomisch profitieren, allerdings nur, wenn er bis dahin seine Stellung am Markt verteidigt hat. Deswegen ist der Grundgedanke ja richtig, dass in der Übergangsphase entstehende Kostennachteile für europäische Unternehmen ausgeglichen werden müssen, um diesen nicht den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Aus der Sicht unserer Handelspartner andererseits wird diese Politik gern als „Öko-Protektionismus“ denunziert. Etwas Ähnliches gilt etwa bei der Entwaldungsrichtlinie oder schon länger bei der Regulierung zu Palmöl. Es wird auf Dauer nicht erfolgreich sein, solche Instrumente erstmal für uns zu entwickeln und uns erst danach die Frage zu stellen, wie das mit den Handelspartnerschaften, die wir wollen und brauchen, vereinbar gemacht werden kann. Da steht uns noch ein gehöriges Stück konzeptioneller Arbeit und diplomatischer Bemühung ins Haus. 

Fazit

Ich bin fest davon überzeugt, dass angesichts der Bedeutung der Handelspolitik und ihrer hier nur skizzierten Schwierigkeiten die Notwendigkeit wächst, die politische Basis zu verbreitern, auf der wir sie betreiben. Ich bin dafür, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes direkt in die Verhandlungen einbezogen werden, so wie es sich unsere Kolleg:innen im US-Kongress in der Vergangenheit schon erkämpft hatten. Zudem müssen die nationalen Parlamente sich viel stärker um Handelspolitik kümmern und dürfen diese Themen nicht nur der jeweiligen Exekutive überlassen. Insbesondere muss diskutiert werden, wie die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Strategie der „economic security“ unter den drei Leitbegriffen „protect, promote, partner“ konkret und konsequent umgesetzt wird. Und schließlich gehört Handelspolitik mitten auf die Agenda unserer zivilgesellschaftlichen Debatten. Eigentlich ist das seit TTIP, dem 2013 begonnenen und 2016 gescheiterten Verhandlungen über ein EU-USA-Handelsabkommen, klar: Handel ist nicht mehr die arkane Geheimwissenschaft, die man ein paar exzellenten Vertreter:innen der Juristerei und der Bürokratie anvertraut. Handelspolitik geht uns alle gemeinsam an. 

Erschienen am 15. Mai 2024 im ICC Magazin.