Am 15. Oktober findet in Polen eine Parlamentswahl statt, von der kritische BeobachterInnen der politischen Landschaft in Warschau zum Teil sagen, sie könnte so wichtig und weichenstellend werden wie die ersten freien Parlamentswahlen in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1989. Ging es damals darum, ob Polen die Kraft aufbringen werde, die erzwungene Vorherrschaft der Kommunisten zu beenden, so werde es jetzt darum gehen, ob Polen durch den dritten aufeinander folgenden Wahlsieg der PiS-Partei ganz in den Autoritarismus kippt.
Einzelne der GesprächspartnerInnen, die ich diese Woche in Warschau traf, meinten, sie könnten ganz leise den Wind des Wandels hören; die Opposition habe die Chance, das Regime der PiS abzulösen. Aber insgesamt überwog die Unsicherheit. Beide Wahlausgänge, so die vorherrschende Meinung, seien im Bereich des Möglichen; die Wahl werde erst auf den letzten Metern entschieden. 50 Prozent der OppositionswählerInnen rechneten mit einem PiS-Sieg, ergab kürzlich eine Umfrage. Eine andere Befragung legte nahe, die Wählerinnen und Wähler, die derzeit noch unentschlossen seien, seien in besonderer Weise empfänglich für hässliche Polemik von rechts gegen MitgrantInnen und konfrontative Angriffe gegen Berlin. Andererseits wurden die außerordentlich großen Demonstrationen der kooperierenden polnischen Opposition vom letzten Wochenende als Markstein für einen Stimmungswechsel und als Grund für Optimismus der Opposition bezeichnet.
Polen ist, das hörte ich immer wieder, in zwei außerordentlich feindselige Lager geteilt, die sich gegenseitig mit heftigen Beschuldigungen überziehen. Dabei scheint PiS, die Regierungspartei, nicht davor zurückzuschrecken, die Kontrolle über den Staatsapparat, viele Medien und viele Unternehmen rücksichtslos auszuschlachten. Bei einer der wenigen Fernsehdiskussionen im öffentlichen Fernsehen zwischen PiS und OppositionsvertreterInnen sei Letzteren immer nach kurzer Zeit von einem PiS-geneigten Moderator das Mikrofon abgestellt worden, während die PiS-Seite sich länglich hätte ausmären dürfen. Auch die polnische Post wird parteipolitisch instrumentalisiert; sie ist offenbar dabei, jeden einzelnen polnischen Haushalt noch kurz vor der Wahl mit PiS-Propaganda zugunsten eines Anti-Migrationsreferendums zu versorgen, welches die Regierung auf den Wahltag gelegt hat.
In Warschau sah ich während meines Besuches viele große Wahlplakate, alle von der Opposition. Das sei auch in anderen größeren Städten so, in Danzig zum Beispiel, erfuhr ich. Auf dem flachen Land dagegen und insbesondere in der östlichen Hälfte Polens dominiere fast uneingeschränkt die PiS das öffentliche Bild. PiS habe sehr viele WählerInnen in höheren Altersgruppen und fast gar keine bei der Jugend, wurde mir gesagt. Auch die Besitz- und Einkommensverhältnisse trennten die beiden politischen Lager sehr deutlich. Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Vielfalt, Frauenrechte – das sind Eckpfeiler im Wahlkampf der Opposition. Mehr Kindergeld, mehr Rente, weniger Flüchtlinge, mehr Ohrfeigen für Berlin, mehr Betonung polnischer nationaler Souveränität, weniger Brüssel – darauf reimt sich der Wahlkampf der PiS. Eine ihr nahestehende Zeitung brachte diese Woche sogar die Möglichkeit eines „Polexit“ in eine Schlagzeile.
Genau studieren konnte ich den Wahlkampf der Opposition nicht. Sie besteht aus drei Kräften, die allesamt ihre Absicht erklärt haben, gemeinsam zu regieren, wenn das denn möglich ist. Da ist zum einen, mit annähernd 30 Prozent in den Umfragen, die Partei Donald Tusks, Platforma Obywatelska (PO). Sie wird von der PiS wechselweise als fünfte Kolonne Moskaus oder Berlins diffamiert. Weil Donald Tusk einen deutschen Großvater hatte, wird ihm eine angebliche Liebedienerei gegenüber Berlin immer wieder aufs Brot geschmiert. Bei einer Fernsehdiskussion versuchten PiS-Politiker und PiS-Journalisten, einem PO-Vertreter unbedingt eine deutsche Fahne neben das Mikrofon zu stellen. Zum Zweiten gibt es die polnische Linke, die in der Nähe von 10 Prozent liegt und angesichts einer Fünf-Prozent-Hürde sicher im Parlament vertreten sein wird. Und Drittens gibt es den – Dritten Weg. Bei dem handelt es sich um eine Parteien-Allianz, und deshalb gilt für ihn eine Acht-Prozent-Hürde. In den Umfragen liegt der Dritte Weg bei 9 Prozent; es ist also nicht völlig sicher, dass diese Stimmen zum Tragen kommen werden. Zusammen könnte die drei genannten Gruppen durchaus eine Mehrheit erzielen, auch wenn immer wieder gewarnt wurde, die Besonderheiten des d’Hondtschen Auszählungssystems könnten der PiS entscheidende Sitze sichern.
Es gibt übrigens auch noch eine Opposition ganz rechts neben der PiS. Sie nennt sich Konfederacja Wolność i Niepodległość und ist eine außergewöhnlich krude Mischung aus extremem Wirtschaftsliberalismus und rechtsextremen Hassinhalten, Antisemitismus, Hass auf die Ukraine, Antifeminismus, Hass auf Deutschland und so weiter und so fort. Einer der Konfederacja-Vertreter, Korwin-Mikke, war einmal eine Weile Europaabgeordneter und vertrat dort die Forderung nach Abschaffung des Frauenwahlrechts. Im aktuellen Wahlkampf hat er sich anscheinend ähnliche oder sogar noch weitergehende extremistische Äußerungen geleistet. Seine „Lösung“ für die „Migranteninvasion“: die Männer an der Grenze erschießen und Frauen und Kinder in Lager sperren. Wird Konfederacja eventuell nach der Wahl mit PiS zusammenarbeiten? Nicht unbedingt. Nach Umfragen befürworten das nur 5 Prozent der Konfederacja-WählerInnen, während immerhin 30 Prozent eine Zusammenarbeit mit Tusks Partei nicht völlig ausschließen würden. Daraufhin gab es aus dem PO-Lager einigermaßen vorsichtige Andeutungen, nach der Wahl müssten sich alle auf jeden Fall gegen die PiS zusammentun. Na, denn Prost!
Die polnischen Grünen kandidieren übrigens auf den PO-Listen. Chancen auf den Einzug ins Parlament haben bestenfalls vier von ihnen. Große Sichtbarkeit genießen sie nicht. Wegen heftiger innerer Gegensätze sind sie deutlich weniger handlungsfähig, als zu wünschen wäre. Tusk behandelt sie nicht als Partner, sondern als Anhängsel. Relevanten programmatischen Einfluss auf eine mögliche Tusk-geführte Regierung werden sie wohl kaum haben.
Zwei GesprächspartnerInnen sagten mir, die polnische Parlamentswahl sei nicht nur ein Ereignis von großer nationaler, sondern auch von großer europäischer Bedeutung. Eine Zementierung des nationalistischen Lagers an der Macht werde schwerwiegende Negativfolgen für die gesamte Union haben. Zur Bekräftigung wird dann in so einem Gespräch schnell aufgezählt, in welchen EU-Ländern es inzwischen Regierungen mit rechtsextremer Beteiligung oder sogar unter rechtsextremer Führung gibt. Zweifellos wäre es eine große Ermutigung für alle, egal wo in Europa, die sich extremem Nationalismus und Chauvinismus entgegenstellen, wenn es gelänge, trotz widriger Umstände und unfairer Ausnutzung staatlicher Institutionen durch die Regierungspartei einen demokratischen Machtwechsel zustande zu bringen. Doch dabei dürfen wir nicht vergessen: Selbst in diesem positiven Falle bliebe Polen eine tief gespaltene Nation.
Von deutscher Seite her hat es in den zurückliegenden Jahren auf immer häufiger äußerst provozierende Angriffe aus Warschau vor allem viel Schweigen gegeben. Man könnte versucht sein, das als einen Ausdruck kluger Geduld und Langmut misszuverstehen. Stattdessen war es eher eine Art herablassender Toleranz, so nach dem Motto: Gar nicht erst ignorieren! Zum Teil wurden polnischen Forderungen nicht ernst genommen, zum Teil hoffte man, sie könnten sich von selbst erledigen. Doch ebenso wenig, wie die innere Zerrissenheit in der polnischen Bevölkerung aufhört, falls die Regierung eine andere ist, hören auch die deutsch-polnischen Probleme auf, wenn PiS nur noch aus der Opposition stänkern sollte. Vor zwei riskanten Fehleinschätzungen ist daher zu warnen. Berlin darf nicht annehmen, dass man zu irgendeiner Art Business as usual zurückkehren könne, falls die Opposition gewinnen sollte. Berlin darf auch nicht annehmen, dass man, falls PiS an der Regierung bestätigt werden sollte, dann eben auch mal die Zurückhaltung fallen lassen kann, um je nach Anlass entsprechend zurück zu bollern.
Berlin muss stattdessen begreifen, dass ohne eine konsistente, aktive, verlässliche und auf die Beförderung europäischer Gemeinsamkeiten und der wichtigen Rolle, die Polen in der EU zu spielen hat, setzende deutsche Polenpolitik die Probleme nur zunehmen können. Einfach gesagt: Wir dürfen uns nicht auf den selbstgerechten Standpunkt zurückziehen, jetzt sei Polen dran, die Beziehungen zu verbessern. Vielmehr müssen wir deutlich machen, was wir verbessern wollen. Wollen wir uns zum Beispiel, ganz praktisch, angemessen auf den 80. Jahrestages des Warschauer Aufstandes von 1944 vorbereiten? Und was hieße das? Wollen wir eine gezielte deutsch-polnische Geschichtspolitik betreiben, die ins Augenmerk rückt, wo Polen und Deutschland gemeinsam auf der richtigen Seite der Geschichte standen? Wollen wir eine Diskussion darüber führen, was wir von Polen lernen können, weil dort die Digitalisierung zum Beispiel den Bürgerinnen und Bürgern viele staatliche Dienstleistungen so effizient anbietet, wie man das in Berlin noch nicht einmal erträumen kann? Wollen wir bewusst die Gemeinsamkeit suchen in der Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression und bei dem erforderlichen Wiederaufbau des Landes? Wollen wir uns doch noch einmal auf das gewiss nicht einfache Unterfangen einlassen, uns mit Polen und Frankreich gemeinsam – in einem erneuerten „Weimarer Dreieck” Format – um die Schneisen zu bemühen, die wir der Zukunft der EU schlagen wollen?
In den Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP gibt es jeweils gute Leute, die eine neue deutsche Initiative tragen können; am besten natürlich gemeinsam. Und die sich gegebenenfalls auch mit den für viele Zögerlichkeiten verantwortlichen Leuten schlagen müssten, wenn wieder einmal das deutsch-polnische Verhältnis in Berlin auf irgendeinen „backburner“ geschoben wird. Schon der letzte Bundestag hatte beschlossen, dass in Berlin eine Stätte geschaffen werden muss, die an die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnert und die deutsche Verantwortung klar benennt. So, wie es jetzt aussieht, wird sich da leider bis zum 1. September 2024, dem 85. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, nichts Entscheidendes bewegt haben. Versteht man nicht, wie wichtig es wäre, dass da eine andere Ernsthaftigkeit regiert?
Wie oft haben gerade wir Deutsche in der Vergangenheit voller Stolz und Genugtuung erklärt, dass wir Europäer jetzt „zu unserem Glück vereint“ seien? Das war ja ganz richtig. Aber falsch ist es, sich einzubilden, diese Einigkeit sei so eine Art Kohlevorrat, den man, wenn die Preise günstig sind, in den Keller legt, weil man sich darauf verlassen kann, dass er noch da ist, wenn man ihn dann braucht. Vielmehr gilt von der „glücklichen Einheit“, was Goethe gesagt hat: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Weil Polen nicht nur für sich selbst, sondern auch für uns und für ganz Europa zentrale Bedeutung hat, können wir nicht als entweder gelangweilte oder missmutige, genervte oder ignorante Beobachter am Rande stehen. Und Auge für Auge ist auch kein gutes Prinzip europäischen Miteinanders. Es geht um aktive Partnerschaft. Mit weniger kommen wir nicht hin.
Noch hat Polen nicht entschieden. Aber wir können schon mal anfangen, eine neue Seite im über tausendjährigen Buch unserer Nachbarschaft aufzuschlagen.
Sonst noch
- In dieser Woche war ich in Warschau. Dort habe ich am Montag auf Einladung der Slowakischen Botschaft in Polen an einer Veranstaltung in der Botschaft teilgenommen.
- Außerdem habe ich mich mit dem deutschen Botschafter in Polen, Viktor Elbling, getroffen sowie Termine mit anderen Warschauer GesprächspartnerInnen wahrgenommen.
- Am Dienstag und Mittwoch war ich auf dem Warschauer Sicherheitsforum und habe auf einem Panel zum Thema „Russia’s and China’s information manipulation and cognitive warfare“ diskutiert.
- Zum Tag der deutschen Einheit habe ich am Abend am Empfang der deutschen Botschaft in Warschau und an einem Empfang im Warschauer Präsidentenpalast teilgenommen.
- Am Freitag treffe ich den indischen und den indonesischen Botschafter sowie den Repräsentanten Taiwans in Berlin.
- Meine nächste Woche beginnt in Thüringen, wo ich verschiedene Unternehmen in Gera, Tautenhain und Sömmerda besuchen werde.