Bevor noch in Brüssel, Washington D.C., und anderen westlichen Hauptstädten die weitgehende politische Augustruhe vorüber ist, könnten bei dem Ende des Monats in Südafrika stattfindenden Treffen der BRICS-Staatengruppe strategische Entscheidungen getroffen werden, die für uns alle von hoher Relevanz sein würden. Ich habe bisher nicht den Eindruck, dass die EU, deren Institutionen und Akteure oft schon damit überfordert scheinen, dass sie Russland, China und die USA gleichzeitig im Auge behalten sollen, daraufhin ausreichend vorbereitet ist.
Die BRICS-Staatengruppe – Brasilien, Russland, China, Indien, Südafrika –, die ursprünglich als Vierer-Team startete und dann schnell Südafrika dazunahm, macht mit ihrer anstehenden Konferenz zurecht Schlagzeilen. Der russische Kriegsverbrecher Putin wird zwar nicht anreisen, weil er sonst die südafrikanischen Gastgeber vor die Zerreißprobe stellen würde, ob sie ihre Verpflichtung als Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs akzeptieren und ihn verhaften oder ob sie zugunsten einer zweifelhaften Kumpanei das von der eigenen Gerichtsbarkeit betonte internationale Recht mit Füßen treten wollen. Putins Abwesenheit lässt mehr Platz für Chinas Diktator Xi Jinping, der, wie es aussieht, das Treffen nutzen möchte, um China durch die Transformation der BRICS-Gruppe zum machtpolitischen und ideologischen Anführer einer antiwestlichen Staatenallianz zu machen.
BRICS war bisher eine nicht-westliche Gruppierung und insbesondere Indien, aber auch, wiewohl weniger deutlich, Brasilien und Südafrika haben sich dafür eingesetzt, an diesem Charakter festzuhalten. Mehr oder weniger explizit bezogen sie sich dabei auf die Geschichte und Tradition der Blockfreiheit. China und Russland dagegen wollen aus der nicht-westlichen eine anti-westliche Formation schmieden. China ist in der BRICS-Gruppe die mit großem Abstand stärkste Macht. Aber es fällt China als wichtigstem unter den fünf Ländern bisher trotzdem schwer seinen Einfluss so auszuweiten, dass die anderen vier in die zweite Reihe gedrängt würden. Indien leistet den entschiedensten Widerstand. Russland kann gerade keinen Widerstand leisten. Die anderen beiden schwanken geostrategisch, ökonomisch und ideologisch.
Das entscheidende Mittel, um Chinas Rolle aufzuwerten, soll eine BRICS-Erweiterung werden. Angeblich haben 40 Länder Interesse an einer BRICS-Mitgliedschaft. 22 davon sind öffentlich namentlich benannt worden: Ägypten, Algerien, Argentinien, Äthiopien, Bangladesch, Bahrain, Belarus, Bolivien, Honduras, Indonesien, Iran, Kasachstan, Kuba, Kuwait, Nigeria, Palästina, Saudi-Arabien, Senegal, Thailand, Vereinte Arabische Emirate, Venezuela, Vietnam. Musterdemokratien finden sich darunter eher wenige, autoritäre Regime der üblen Sorte eine ganze Menge. Viele der genannten Länder sind in erheblichem Maße von Chinas ökonomischem Wohlwollen abhängig. Gelänge es China, die BRICS-Mitgliedschaft zu erweitern und damit zu verwässern, dann könnte es sein größeres Gewicht innerhalb des BRICS-Rahmens zulasten der bisherigen vier Partner ausweiten. Am meisten Widerstand ist, wie gesagt, von Indien zu erwarten. Aber es ist fraglich, ob Indien sich dazu aufschwingen will, anderen Ländern die gewünschte Teilnahme offen zu verweigern. Vielleicht versteckt man sich hinter prozeduralen Argumenten. Das könnte bedeuten, dass China zwar seinen Willen bekommt, aber nicht sofort oder nicht sofort vollständig.
Dass BRICS, zu fünft oder zu fünfzehnt, automatisch ein politischer und ökonomischer Machtfaktor wird, das anzunehmen wäre voreilig. Die recht bunte Staatenmischung beinhaltet eine ganze Menge Widersprüche und widerstreitende Interessen. Und doch darf man eine BRICS-Erweiterung auf keinen Fall politisch unterschätzen, so wie es manche öffentliche Kommentatoren derzeit tun. Ist erst einmal ein gemeinsamer Diskurs- und Konsultations- und Beratungs- und Verabredungsraum geschaffen, dann würde ich darauf rechnen, dass die chinesische Diplomatie ihn auch in ihrem Interesse zu füllen weiß. Das klappt zwar nicht immer. Bei dem chinesisch-europäischen 17+1-Format hat es nicht geklappt. Doch da stand auf der anderen Seite eben auch die Einbindung der europäischen Teilnehmerländer als Mitglieder oder Kandidaten der EU.
China hat sich für eine Strategie entschieden, die das Streben vieler Länder nach mehr eigenem Gewicht und mehr “agency” als für das Pekinger Hegemoniestreben nützliches Motiv mobilisiert. Diese Strategie nicht ernst zu nehmen, wäre sträflich. Als die USA zur Supermacht wurden, haben sie das damals ganz ähnlich angefangen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir Chinas Absichten verstehen, dekodieren und kritisieren können, sondern, ob wir eine praktische Antwort haben. Zwei Herausforderungen stellen sich daher meines Erachtens mit großer Dringlichkeit für die EU. Erstens: Wird die EU es schaffen, den „Rest der Welt“, das heißt die große Mehrheit der Länder jenseits der Groß- und Supermächte, angemessen ins Auge zu fassen, und das heißt, sie nicht nur als Handlungsraum zu beachten, sondern auch als Akteur und Partner? Zweitens: Während Präsident Biden auf der einen Seite durch AUKUS, QUAD, die Erneuerung/Erweiterung des Abkommens mit den Philippinen, das Camp-David-Abkommen zwischen Korea, Japan und den USA und das anstehende Abkommen zwischen den USA und Vietnam seine Seite im Wettlauf mit China formiert und Xi Jinping durch die immerwährende Freundschaft mit Putin, die Komplizenschaft mit Nordkorea, die verstärkte Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien und Iran sowie die jetzt geplante BRICS-Offensive ein eigenes Lager zu konstruieren beginnt, stellt sich für die Europäer die einfach Frage: Und wir? Die Antwort ist nicht evident, aber keine Antwort zu suchen, können wir uns nicht leisten.
SONST NOCH
- Am Donnerstag, dem 24. August bin ich in Thüringen, wo ich zunächst in Jena ein Unternehmen besuche werden und im Anschluss auf den Jahresempfang der Grünen im Thüringer Landtag gehen werde.
- Vom 26. bis zum 28. August werde ich am European Forum Alpbach teilnehmen und dort am 27. und 28. August auf zwei Panels sprechen.
- Am 7. September veranstalte ich gemeinsam mit meinen FraktionskollegInnen Alviina Alametsä und Ernest Urtasun eine Konferenz zum Thema „The new normal of European Security“ im Europäischen Parlament in Brüssel. Verfolgt werden kann die Veranstaltung vor Ort oder im Livestream. Hier geht es zur Anmeldung.
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