Eine gute Rede war es. EU-Kommissionspräsident Barroso zog etliche rhetorische Register, die man bei ihm kaum vermutet hätte. Mit seiner Rede zum “State of the European Union” schaffte es der Kommissionspräsident, eine große, teilweise sogar begeisterte Mehrheit des Europäischen Parlamentes hinter sich zu bringen.
In der Diskussion über Barrosos Rede gab es – außer von Ultrakonservativen (ECR) und Rechtsaußen (EFD) – viel Lob von allen Seiten. Niemand krittelte daran herum, dass Barroso sich durch die Überschrift seiner Rede (“State of the Union”) kurzerhand auf eine Ebene mit dem amerikanischen Präsidenten beförderte. Niemand erinnerte an die Tatsache, dass Barroso bis jetzt im Krisen-Management alles andere als eine gute Figur gemacht hat. Selbst die liberale Abgeordnete Goulard, die vor kurzem noch den Rücktritt Barrosos gefordert hatte, wollte dazu in ihrem Redebeitrag nicht stehen und führte deswegen einen etwas verlegenen Rückzug auf. Voll des Lobes waren der Fraktionsvorsitzende Daul von der Europäischen Volkspartei, der künftige Parlamentspräsident Martin Schulz von den Sozialisten, der liberale Ober-Euroföderalist Verhofstadt, und sogar Lothar Bisky für die Linken, der daraufhin das seltene Vergnügen erlebte, dass Barroso ihm, Bisky, Beifall spendete.
Rebecca Harms redete für die Grünen-Fraktion engagiert und differenziert, und sie packte Barroso auch an seinen zwei schwachen Stellen: Sie wurde konkret und sie wurde grundsätzlich. Und in der Tat: Wenn man ausgehend von der konkreten Frage, wie die von Barroso verkündeten Ziele umgesetzt werden sollen, an die Rede herangeht, oder wenn man die Frage stellt, auf welchem grundsätzlichen Fundament Barroso argumentierte, dann fallen die großen Lücken auf, die er bei seiner ansonsten durchaus geschickten Rede ließ. Um es bissig zu sagen: Es war eine Rede, die nur in diesem Europäischen Parlament Begeisterung auslösen konnte, dass sich so sehnlichst einen starken Kommissionspräsidenten mit einer klaren pro-europäischen Agenda wünscht. Aber es war eben auch eine Rede, die die Antwort auf die Frage offen ließ, wie die verkündeten pro-europäischen Ziele in die Realität kommen sollen.
Die Lücke, die Barroso ließ, betraf den Kern der gegenwärtigen politischen Krise Europas: Wie können die Völker Europas wieder begeistert werden für eine Agenda, die mehr europäischen Zusammenhalt anstrebt? Martin Schulz warf diese Frage immerhin auf, indem er in seinem Diskussionsbeitrag davon sprach, wie sehr vermeintliche und früher tatsächlich vorhandene europäische Gewissheiten gegenwärtig zerbröseln. Und er wies auch, ähnlich wie Rebecca Harms, darauf hin, welch große Bedeutung dabei dem immer stärker und weiter verbreitenden Eindruck zukommt, jeglicher Sinn von Gerechtigkeit werde in der Krise nur noch mit Füßen getreten. Leider mündete auch Schulzes Überlegung nur in der bekenntnishaften euroföderalistischen political correctness, die auch Daul und vor allem Verhofstadt vor sich hertrugen. Barroso, Daul und Verhofstadt kamen gar nicht mehr auf die Frage, warum die Völker Europas nicht mit Begeisterung pro-europäisch fühlen und agieren. So konnte der Vertreter der antieuropäischen Partei des tschechischen Präsidenten Klaus sogar den frechen Versuch starten, die Völker Europas gegen dessen Integration ins Feld zu führen. Weil Barrosos Perspektive, und leider eben auch die vieler anderer Debattenredner, eurotechnokratisch und euroföderalistisch verengt ist, konnten sie auch die Rolle der europäischen Nationalstaaten in der Überwindung der Krise nur als negatives Klischee thematisieren. Die Borniertheit der Nationalstaaten ist, wenn man ihnen folgt, der eigentliche Feind und die Überwindung der Krise wird dann möglich, wenn irgendein magischer Stab diese Borniertheit hinwegzaubert, so dass die reine Vernunft der Eurokratie unbehindert herrsche.
Kein Gedanke, kein Verständnis dafür, dass die Mitgliedsstaaten, wie es auf Englisch so schön heißt, ownership im Prozess der weiteren Integration gewinnen müssen, wenn es diese weitere Integration tatsächlich geben soll. Kein Gedanke, kein Verständnis dafür, dass – wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil einmal so schön formuliert hat – die Union aus der Spannung lebt zwischen ihrem Charakter als Union der Bürgerinnen und Bürger und ihrem Charakter als Union der Mitgliedsstaaten. Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass unglaublich viel nationale Borniertheit, gerade auch deutsche nationale Borniertheit, die Krise teurer, tiefer, bitterer, länger gemacht hat. Aber der Appell an die Gemeinschaftsmethode und ein allgemeines “Mehr Europa” überzeugen nicht. Außer vielleicht in den heiligen Hallen in Straßburg diejenigen, die schon zur Gemeinde gehören, und das sind die Mehreren.
Barroso, so weiß man, ist mal politisch als Maoist gestartet. Im Parlament wurde er vom Fraktionsvorsitzenden der Rechtsaußen EFD ungerechterweise einer “sowjetischen” Vergangenheit bezichtigt. Aber tatsächlich muss man sagen: Die Dialektik hat er gründlich hinter sich gelassen und durch technokratische Kälte ersetzt, die selbst dort keine Begeisterung auslösen kann, wo er in der Sache völlig recht hat, wie bei der Finanztransaktionssteuer oder dem Plädoyer für Eurobonds.
Barroso hat eine gute Rede gehalten, eine bessere als ich bisher von ihm hörte, und trotzdem demonstriert, warum er nicht der Kopf einer europäischen Bewegung nach vorne sein kann: Er spricht nicht zu den Bürgerinnen und Bürgern, er kommuniziert im Kokon. “I and my fellow global leaders” soll eine seiner internen Lieblingsformulierungen sein. Und dann redet er über den Zustand der Union – “State of the Union” – in einer Weise, die bei den Bürgerinnen und Bürgern keine Resonanz finden kann. Und wenn er sich ganz viel Mühe gibt, und auf ein dramatisches soziales Problem wie das der Jugendarbeitslosigkeit tatsächlich eingeht, dann landet er beim Vorschlag, die Unternehmen sollten mehr Praktika zur Verfügung stellen.
Führungslos dürfe Europa nicht sein, sagte Barroso in seiner Rede mehrfach. Mit Barroso als Führer ist es aber genau das. Besser als das Kuddelmuddel des Europäischen Rates ist das leider nicht.
Bliebe zu diskutieren, welche Hoffnungen das Parlament tragen kann.