Seit 20 Jahren findet regelmäßig Ende Mai/Anfang Juni in Singapur das Shangri-La-Dialogforum statt, das auch als Asian Security Summit firmiert. Anfangs waren es, organisiert von dem Thinktank IISS, 14 Verteidigungsminister und insgesamt etwa 100 Delegierte. Diesmal nahmen aus insgesamt 54 Nationen 34 MinisterInnen teil, dazu einige Premierminister und Staatschefs/innen. Die über 570 Delegierten hatten so viele Begleitpersonen mitgebracht, dass der Gesamtauftrieb wohl größer war als bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Für Dr. John Chipman, den CEO von IISS, war es das letzte Dialogforum in dieser Funktion; sein Nachfolger wird ab Oktober der deutsche Politikwissenschaftler Bastian Giegerich. Die prominentesten TeilnehmerInnen waren die Staatspräsidentin von Singapur, der Premierminister von Australien sowie die Verteidigungsminister der USA und Chinas. Aus Deutschland war, zum ersten Mal, wie es ja nahe liegt, Verteidigungsminister Pistorius dabei, der eine gute Figur machte. Doch dazu später mehr.
Meine Eindrücke von der Konferenz will ich gerne in fünf Rubriken gliedern: 1. die USA, 2. China, 3. die Länder des Indopazifik, 4. Europa, 5. Pistorius. Hier sind übrigens die Tweets zu finden, mit denen ich versucht habe, von der Konferenz zu berichten.
1. die USA. Traditionell wird die amerikanische Delegation vom Verteidigungsminister angeführt. Diesmal war seine Reisegruppe dem Vernehmen nach mit etwa 80 Personen einschließlich Sicherheit besonders zahlreich. Allerdings fielen mir Mitglieder des Kongresses nicht auf, und auch amerikanische Thinktanks schienen eher schütter vertreten zu sein. Die Politik der USA, das Verhältnis der USA zu China, die Frage der Verlässlichkeit der USA, das waren alles dominante Themen, wie schon in der Vergangenheit. Aber von einer aktiven politischen Dominanz der USA in der Konferenz kann man meines Erachtens nicht reden. Minister Austin bestritt, auch das ist Übung, das erste Plenum der Konferenz, doch danach waren die USA mehr Gegenstand der Debatte als Akteure in derselben.
Von Secretary Austins Rede hatte ich schon vorher gehört, sie werde versuchen, die sehr heiße Temperatur in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen etwas abzukühlen, ohne allerdings China gegenüber politische Zugeständnisse zu machen. Austin werde, so hieß es, das Interesse der USA an mehr Dialog, mehr verlässlicher Kommunikation mit China betonen. So kam es auch. Austin formulierte mehrere Sätze, die offenkundig darauf zielten, rückversichernd auf Pekinger Kritik bzw. Vorbehalte einzugehen. Es solle keinen neuen Kalten Krieg geben; der Wettbewerb dürfe nicht zum Konflikt ausarten; es sollten keine feindlichen Blöcke gebildet werden; die USA würden an der Ein-China-Politik festhalten; unilaterale Veränderungen in der Taiwan-Straße dürfe es von keiner der beiden Seiten geben. Auch betonte Austin die Wichtigkeit offener Kommunikationskanäle.
Überraschende Aussagen des amerikanischen Verteidigungsministers gab es nicht. Er gab sich viel Mühe, die positive sicherheitspolitische Rolle der USA in der ganzen indopazifischen Region zu betonen. Länglich zählte er konkrete sicherheitspolitische Kooperationsaktivitäten mit Partnern und Verbündeten auf. Er warnte vor einem möglichen chinesischen Angriff gegen Taiwan.
Austin kritisierte Chinas Dialogverweigerung (Ein Handschlag, wie es ihn zwischen Austin und dem chinesischen Kontrapart beim Abendessen gegeben hatte, reiche nicht). Tatsächlich hatte die chinesische Seite nur zwei Delegationen gewünschte Gespräche verweigert, nämlich den USA und Kanada (China sieht, so erklärte mir jemand halb ironisch, seine Souveränität und Ehre verletzt, weil in Kanada China – wohlbegründet! – vorgeworfen wird, sich zum Beispiel durch Informationsmanipulation in die inneren Angelegenheiten Kanadas eingemischt zu haben. „Because of that“, sagte jemand, „the Canadians now are in the doghouse“). Was Austins Rede fehlte, war irgend eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Wirtschaft und Handel für regionale Sicherheit. Das reflektierte den Umstand, dass die USA in der Hinsicht der indopazifischen Region gegenwärtig kein für die Region wirklich interessantes Angebot zu machen bereit sind. Singapurs Verteidigungsminister Dr. Ng würde das am Ende der Veranstaltung ausdrücklich und mit klaren Worten kritisieren.
Nach Austins Rede, die allgemein als maßvoll bewertet wurde, gab es viele Spekulationen bezüglich der zu erwartenden chinesischen Reaktion. Ein Journalist spottete, die Zeit zwischen Austins Auftritt und dem Auftritt des chinesischen Verteidigungsministers am folgenden Morgen werde für die chinesischen Diplomaten außerordentlich arbeitsintensiv. Sie müssten die vorbereitete Rede intensiv mit dem Apparat in Peking rückkoppeln, um sich dann eine Antwort diktieren zu lassen, die möglichst präzise auf die amerikanische Rede reagiert.
2. China: Chinas Verteidigungsminister Li Shangfu, der zum ersten Mal in dieser Funktion am Shangri-La-Forum teilnahm, hielt eine bemerkenswert aggressive und feindselige Rede. Er sprach insgesamt etwas über 30 Minuten. Davon waren gefühlte 20 Minuten mindestens ein nicht enden wollendes USA-Bashing. Die USA wurden dabei nicht namentlich erwähnt. Doch es war klar, an wen sich alle Kritik und alle Vorwürfe richteten. Nicht nur einzelne Vorhaltungen wurden dabei gemacht; vielmehr verdeutlichte Herr Li Chinas Auffassung, dass die USA schlicht in der Nähe Chinas und in „unserer Region“ rein gar nichts zu suchen hätten. Nach Pekinger Verständnis gehört ja das ganze riesige Meeresgebiet von Taiwan über das Ostchinesische bis zum Südchinesischen Meer schlicht und einfach China, egal, was das internationale Recht und insbesondere die Seerechtskonvention UNCLOS dazu sagen. Die USA aber insgesamt aus der ganzen Region vertreiben zu wollen, war allerdings auch ein mehr als deutliches Drohsignal an südost- und ostasiatische Nchbarländer, die seit langem ein aktives Interesse an amerikanischer Sicherheitspräsenz formulieren. Lis Botschaft – nicht explizit, aber überaus deutlich – war nicht nur „Ami go home!“, sondern auch „Our region will have to listen to us, and only to us Chinese!“
In der Fragerunde unterstrich Minister Li diesen Standpunkt, indem er Kritik an provokativ-gefährlichen chinesischen Luft- und Seemanövern in internationalem Luft- und Seeraum, die eindeutig gegen internationales Recht verstoßen, mit dem Hinweis für erledigt erklärte, es müsse sich ja niemand dort aufhalten, wo es China nicht passe. Ich will ja nicht die Rede im Einzelnen nachzeichnen. Es war allerdings meines Erachtens eindeutig die aggressivste Rede, die ich über die Jahre bei einer solchen Gelegenheit gehört habe. Als ich sie in einem Tweet mit der Rede des russischen Präsidenten 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz verglich, signalisierten nicht wenige Thinktankleute Zustimmung. Meines Erachtens hat China sich entschieden, dass es sich auf absehbare Zeit nicht auf Regeln der Kooperation oder auch nur der Kommunikation festlegen will, durch die es sich in irgend einer Weise gehindert sehen könnte, eigene Ziele auf die denkbar rabiateste Art zu verfolgen. Das schien auf, als aus dem Auditorium gefragt wurde, wieso China die Kommunikation zwischen amerikanischem und chinesischem Militär verweigere, wo doch offenbar die Gefahr bestehe, dass durch einzelne Zusammenstöße eine Eskalation ausgelöst werden könne. Lis Antwort hieß sinngemäß: Für uns ist solche Kommunikation kein Wert an sich und keine Wahrnehmung einer selbstverständlichen Pflicht, sondern ein Geschenk, das wir dann machen, wenn wir uns ausreichend respektiert fühlen. Da sprach er, als sei China schon die hegemonial dominante Macht, die zu werden Xi Jinping anstrebt.
Nach der Logik, die auf früheren Shangri-La-Konferenzen vorherrschte, hätte man denken können, auf mäßigende Signale aus Washington kämen vielleicht dann auch mäßigende Signale aus Peking. So war es nicht. Etwas theoretisch gesprochen: Das China von heute meint offenbar, es könne die westfälische Zeit in den internationalen Beziehungen hinter sich lassen und in eine post- oder prä-westfälische Zeit eintreten, in der wieder die alte Grundregel der Großmachtpolitik gilt: „Der Starke handelt,wie er will, der Schwache leidet, wie er muss.“ (Thukydides)
3. die indopazifischen Länder: Die Keynote am ersten Abend der Konferenz hielt der sozialdemokratische australische Premierminister Albanese. Gleich zu Anfang seiner Rede reklamierte er, die kleineren und mittleren Länder des indopazifischen Raumes seien nicht bereit, nur die Bühne bereitzustellen für einen Großmächtekonflikt; sie bestünden durchaus auf dem Anspruch, eigene Handlungsspielräume zu wahren. Albanese versuchte sich an der schwierigen Übung, mit einer besonders maßvollen Sprache gegenüber China doch klare Positionsbestimmungen zu verbinden. Er betonte zum Beispiel, bei militärischen Auseinandersetzungen im Südchinesischen oder Ostchinesischen Meer oder um Taiwan würden die Kosten für die Beteiligten ganz gewiss wesentlich größer sein als jeder mögliche Gewinn. Albanese argumentierte auch, dass die von den USA und ihren Verbündeten vorgeschlagenen „Guardrails“ für die Entwicklung der China-Beziehungen, Leitplanken, nicht eine Einhegung Chinas bedeuteten, sondern schlicht im Interesse vernünftiger Dialogbereitschaft lägen. Albanese grenzte sich sprachlich deutlich gegen seinen konservativen Amtsvorgänger Morrison ab, dem rhetorische Konfrontation immer ein besonderes Vergnügen gewesen war. Aber samtpfötig ist die Politik Australiens deswegen keineswegs. „Nicht so laut reden, aber mehr tun“, sagte mir ein australischer Thinktank-Vertreter.
Zahlreiche Sprecher aus Ländern der Region hatten die Gelegenheit, ihre Position darzulegen. Die Spannbreite war ziemlich groß. Der indonesische Verteidigungsminister stellte sich selbst ein Bein, indem er großkotzig einen Friedensplan für die Ukraine herunterrasselte, den ihm anscheinend der Kreml aufgeschrieben hatte. Der Präsident von Timor-Leste, Dr. Ramos-Horta, dagegen sparte nicht mit offenen Worten über seine chinakritische Position, betonte sicher nicht nebenbei die Demokratie in seinem Land und verwies darauf, dass Timor-Leste, obwohl arm, zwei Millionen US-Dollar humanitäre Hilfe an die Ukraine geschickt habe. Doch was auch im Einzelnen die Positionsbestimmungen, gemeinsam war allen diesen Ländern der Anspruch auf „Agency“, darauf, als gleichberechtigte Akteure der internationalen Gemeinschaft zu handeln, wie es die UNO-Charta vorsieht, und nicht als Hintersassen einer Großmacht. Gemeinsam war ihnen auch, dass noch nicht richtig absehbar ist, ob die verschiedenen Formen der Kooperation zwischen diesen Ländern sich gegenseitig verstärkend und stabilitätssichernd erweisen oder einander im Wege stehen und sich wechselseitig blockieren werden. Wie passen AUKUS und Quad etwa zur ASEAN-Zentralität? Was ist die Rolle von East Asia Summit und ADMM-Plus, und Pacific Island Forum und dem neuen USA-Japan-Südkorea-Dreieck? Ich glaube, dass die europäische Politik bis jetzt noch unterschätzt, wie wichtig es wäre, genau in diesen Prozessen ohne Überheblichkeit, aber hilfreich sich zur Verfügung zu stellen.
4. Europa: Zum ersten Mal, seit ich mich erinnern kann, sprach kein Vertreter Frankreichs. Josep Borrell, der Hohe Repräsentant der EU für Außenpolitik, war zum ersten Mal da. Besonders gehört wurden aus der EU, würde ich sagen, der schwedische Verteidigungsminister, die Premierministerin von Estland und Verteidigungsminister Pistorius. Eigentlich kann man sagen, dass diese drei wichtige sicherheitspolitische Veränderungen in Europa repräsentieren. Der Schwede steht für den NATO-Beitritt zweier nordischer Länder, Premierministerin Kallas für das größere Gewicht der baltischen Staaten und der Mitteleuropäer in der europäischen Sicherheitsdebatte, und Pistorius eben für das Zeitenwende-Versprechen. Die neuen Akzente, so mein Eindruck, wurden gerne gehört. Ob sich daraus tatsächlich praktische Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit ergeben, darauf würden wahrscheinlich im Moment noch nicht sehr viele wetten. Es war im Übrigen auffällig für mich, dass weder Borrell, der durchaus zu De-Risking und Global Gateway hätte sprechen sollen, noch die anderen Europäer sehr stark auf Beiträge Europas zu ökonomischer Sicherheit und zum Umgang mit dem grandiosen Sicherheitsrisiko Klimawandel eingegangen sind (der Klimawandel kam überhaupt fast gar nicht vor; das war wirklich belämmert).
5. Pistorius: Der Bundesverteidigungsminister war der erste Inhaber dieses Amtes, der bei Shangri-La sprach, seit Frau von der Leyen 2015 dort ihren Auftritt hatte. An ihre Rede erinnere ich mich als an einen sehr ärgerlichen Moment, weil sie damals weitgehend ihr Thema verfehlte. Sie glaubte, den ASEAN-Ländern eine Lektion in Multilateralismus und insbesondere die frohe Botschaft des Gewinns an Handlungsfähigkeit durch Souveränitätsverzicht beibiegen zu müssen. Pistorius machte solche Fehler nicht. Er präsentierte sich gut orientiert, bescheiden und pragmatisch, selbstbewusst und selbstkritisch. Er erinnerte an seine Heimat Westfalen und daran, dass der dort vor bald 400 Jahren geschlossene Friede heute immer noch für die Grundsätze der internationalen Beziehungen relevant sei. Er räumte ein, Deutschland sei in der Vergangenheit zu selbstzentriert gewesen und habe sich zu sehr nur auf ökonomische Beziehungen fokussiert. Er widersprach Li Shangfu: Das internationale Recht, die sogenannte „rules-based order“, sei nicht von einer kleinen Truppe mächtiger Staaten oktroyiert worden, sondern multilateral verabredet, um die weniger mächtigen Länder zu schützen. Pistorius präsentierte Deutschland als einen an stärkerem Engagement interessierten, multilateral orientierten Partner, der auch in dem möglichen Maße sicherheitspolitische Akzente setzen werde. Der Minister sprach das Thema Rüstungsexporte an und verkündete, Deutschland werde 2024 wieder zwei Schiffe in die Region schicken (der Frage, ob diese Schiffe dann durch die Taiwanstraße fahren würden, beschied er keine Antwort).
Ich wurde auf den Auftritt des Bundesministers mehrfach sehr positiv angesprochen, unter anderem von dem singapurischen Verteidigungsminister. Wenn ich sagte, Pistorius sei im Moment der einzige politische Star, den wir in Deutschland hätten, lächelten manche, als wollten sie sagen, sie verstünden das ansatzweise.
6. Fazit: Ich würde aus dieser Shangri-La-Konferenz fünf Schlussfolgerungen ziehen: 1. Angesichts der Entwicklung der Spannungen zwischen China und den USA sollten letztere sich nicht nur um die sicherheitspolitische Seite ihrer Rolle im indopazifischen Raum kümmern, sondern die Stimmen hören und erhören, die mehr wirtschaftliches und Handelsengagement erwarten. 2. China ist gegenwärtig nicht bereit, sich auf gewisse Grundregeln der Beziehungen zum Rest der Welt einzulassen. Das gilt natürlich in ganz besonderer Weise gegenüber den USA, die in Chinas Augen mehr Gewicht haben als der ganze Rest zusammen. China will Unsicherheit projizieren, weil die Führung glaubt, sie sei mächtig genug, damit einzuschüchtern. 3. Die anderen Länder des indopazifischen Raumes müssen, wenn sie wichtige Elemente des Multilateralismus gegen eine immer mehr einengende Großmächte-Hegemonial-Konkurrenz verteidigen wollen, wesentlich intensiver untereinander und auch mit Partnern aus anderen Weltteilen zusammenarbeiten. 4. Europa versucht zu Recht, als sicherheitspolitischer Partner im indopazifischen Raum wahrgenommen zu werden, aber de facto sind unsere ökonomischen Hebel und die Hebel unserer Handelspolitik immer noch wesentlich länger. Mit diesen Pfunden nicht zu wuchern, ist ein Fehler. 5. Deutschland trifft auf Interesse. Von der Zeitenwende haben viele schon gehört, auch wenn sie sich darunter nicht unbedingt Genaues vorstellen können. Deutschland sollte aber angesichts einer bisher sehr weit gestreuten Indopazifik-Strategie sich stärker um die Herausarbeitung von Prioritäten kümmern.
SONST NOCH
In der neuen Woche besuche ich noch die Philippinen und danach die fünfte weltweite Konferenz der Global Greens, die diesmal in Südkorea stattfindet.