Am vergangenen Wochenende jährte sich zum 60. Mal die Unterzeichnung des Élysée-Vertrages durch den französischen Präsidenten de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer. Dieser Vertrag schuf einen zwischen beiden Regierungen vereinbarten institutionellen Rahmen für die Entwicklung der deutsch-französischen Freundschaft, die nur 18 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach hunderten Jahren von „Erbfeindschaft“ eine grandiose, historisch ungeheuer wertvolle Veränderung darstellte. Der Élysée-Vertrag bewegte, als er geschlossen wurde, Europa zum Besseren. Zu seinem 60. Jubiläum wurden zwar viele subjektiv bewegte Reden gehalten, aber europäische Zeichen wurden keine gesetzt. Die Nachrichten des Wochenendes kamen nicht aus Paris oder Versailles, sondern aus Ramstein. Sie kündeten nicht von Aufbruch, sondern von Zögerlichkeit und Blockade.
Der Élysée-Vertrag von 1963 war damals gründlich vorbereitet worden. Bundeskanzler Adenauer hatte eine Reise durch Frankreich unternommen und Präsident de Gaulle eine Reise durch Deutschland. Bei letzterer hielt der französische Staatspräsident, der als junger Leutnant 1914 in Belgien im Kampf gegen Kriegsverbrechen begehende deutsche Truppen verletzt worden war und der dann im Zweiten Weltkrieg zur Stimme des freien Frankreich gegen die Nazis und deren französische Kollaborateure geworden war, in Ludwigsburg eine noch heute beeindruckende Rede an die deutsche Jugend – auf Deutsch! Ob es wohl im französisch-deutschen Verhältnis helfen würde, wenn ein Staatspräsident und ein Bundeskanzler wieder solche Reisen machten? Ich bin mir nicht sicher, ob dafür überhaupt die Voraussetzungen gegeben wären. Damals war die französisch-deutsche Aussöhnung auf beiden Seiten des Rheins ein tief verankertes Bedürfnis. Damals wussten die Staatsmänner, die in Paris und Bonn regierten, dass ihre Länder, vom Zweiten Weltkrieg tief geschwächt, nur durch Zusammenarbeit eine Chance zur eigenständigen, aktiven Zukunftsgestaltung haben würden. Heute ist das deutsch-französische Verhältnis keine emotionale Angelegenheit mehr. Heute steht in beiden Hauptstädten die Fortschreibung von eingespielten Befindlichkeiten im Zentrum, statt einer Bereitschaft zu historischem Mut. Zwar gilt auch in der Gegenwart, dass für Frankreich wie für Deutschland die eigenständige Zukunftsgestaltung eine produktive Zusammenarbeit zwingend voraussetzt, aber das reicht nicht mehr und zu dem heute nötigen größeren Wurf fehlt anscheinend die Fantasie.
Mit dem Aachener Vertrag von 2019 hatte die Regierung Merkel zusammen mit der Regierung von Staatspräsident Macron einen in Einzelheiten sinnvollen, aber im Ganzen unentschlossenen Versuch unternommen, der deutsch-französischen Beziehung neue Ziele zu setzen. Der Aachener Vertrag war um ein Vielfaches länger als der Élysée-Vertrag, er ging an etlichen Punkten sehr ins Detail, indem er zum Beispiel regelte in welchen Städten das Goethe-Institut und das Institut français gemeinsam Kulturinstitutionen eröffnen sollten. Ihm fehlte aber eine übergreifende Orientierung. Tatsache ist, dass in der EU der 27 Mitgliedsländer der deutsch-französische Motor, ob er nun mit dem Kraftstoff Diesel, mit Strom oder mit Wasserstoff betrieben wird, nicht mehr stark genug ist die ganze Union zu ziehen. Was im Europa der Sechs selbstverständlich war und auch im Europa der Zwölf noch funktionierte, funktioniert im heutigen Europa nicht mehr: Ohne eine kluge Einbeziehung Mittel- und Osteuropas lässt sich die EU heute nicht mehr führen. Das war in den letzten Jahren schon in verschiedenen Auseinandersetzungen zu sehen und es ist auch heute, mit Blick auf den Ukrainekrieg, zu beobachten, dass Paris und Berlin angesichts der existenziellen Herausforderung der EU durch den russischen Angriffskrieg mehr zögern und blockieren als führen. Man nehme den aktuellen Streit über die Lieferungen von Kampfpanzern an die Ukraine als Beispiel. Würde die Ukraine sich Henry Kissingers Idee von einem russisch-ukrainischen Friedensvertrag zu eigen machen, wonach der Frontverlauf vom 23. Februar 2022 zur Basis einer Verständigung gemacht werden sollte, dann müsste die Ukraine zunächst einmal die Gebiete befreien können, die russische Truppen seit dem 24. Februar neu besetzt haben. Ohne von Europa gelieferte moderne Kampfpanzer kann sie das nicht. Schon gar nicht kann sie den ganzen Donbas und die Krim befreien ohne diese Kampfpanzer. Sie kann möglicherweise noch nicht einmal die erwartete nächste Offensive der russischen Truppen aushalten ohne diese Unterstützung. Um es ganz eindeutig zu formulieren: Ohne die Lieferung der von der Ukraine seit fast einem Jahr erbetenen Panzer wird mit hoher Wahrscheinlichkeit der Satz, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren, zum bloßen Gerede. Verliert die Ukraine den Krieg aber, dann verliert Europa, dann ist die bisherige europäische Sicherheitsarchitektur nichts mehr wert, dann ist die Tür aufgestoßen zu weiterer russischer Aggression, deren Ziele Diktator Putin mehrfach schon öffentlich thematisiert hat. Die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrages hätten eine Bühne geboten für die gemeinsame Demonstration der Regierenden in Berlin und Paris, dass sie sich dieser Verantwortung bewusst sind und sich ihr stellen werden. Dazu wäre es allerdings nötig gewesen, die mittel-, ost- und nordeuropäischen Partner ernst zu nehmen und sie vielleicht sogar aktiv einzubinden, die seit langem auf mehr militärische Unterstützung aus Berlin und Paris drängen. Deutsch-französische Führung in der EU kann heute nur noch funktionieren, wenn beide Hauptstädte begreifen, dass ein Tandem allein nicht mehr reicht.
Die großen Herausforderungen für Europa, insbesondere für die EU erschöpfen sich natürlich nicht mit der Benennung des Ukraine-Krieges. Findet Europa eine gemeinsame Sprache gegenüber dem aufkommenden Neoimperialismus aus Peking? Findet Europa eine gemeinsame Perspektive für das elementare und trotzdem schwierige Bündnis mit den Vereinigen Staaten? Finden Paris und Berlin strategische Gemeinsamkeiten im Umgang mit den Erwartungen vieler Länder des globalen Südens? Können Paris und Berlin gemeinsam Motor sein für effektive Klimapolitik und die grüne Transformation unserer Wirtschaft, den Europäischen Green Deal? Auch alle diese Fragen können Berlin und Paris nicht nur untereinander verabreden wollen. Und gewiss sind bei keiner dieser Fragen die erforderlichen großen Sprünge möglich, ohne die Perspektiven Mittel-, Ost- und Nordeuropas einzubinden.
Den 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags angemessen zu begehen, erfordert also, dass Berlin und Paris über ihre Zweisamkeit hinauswachsen. Nur noch ein konkretes Beispiel: Auf der Suche nach einer passenden europäischen Antwort zu Präsident Bidens Inflation Reduction Act (IRA) haben sich Paris und Berlin anscheinend vorläufig darauf verständigt, sich gemeinsam für eine weitere Liberalisierung der Beihilferegeln in der EU einzusetzen. Tatsache ist allerdings, dass schon die Flexibilisierung des Beihilferechts als Antwort auf die Covid-19-Pandemie innerhalb der EU zu erheblichen Verwerfungen geführt hat. Zu 80 Prozent haben deutsche und französische Unternehmen vom lockereren Beihilferecht profitiert. Dabei war der Anteil Deutschlands doppelt so groß wie der Anteil Frankreichs. Aber alle anderen 25 Mitgliedstaaten gemeinsam konnten sich nur ein Viertel der Beihilfen leisten die Berlin und Paris boten. Vor diesem Hintergrund würde die Flexibilisierung von Beihilferegelungen nur die Schieflage innerhalb der EU verstärken. Was die Regierenden in Berlin und Paris für hilfreich erachten würden, wäre ein Treibsatz für Spaltung innerhalb der EU. Die Lösung, die die beiden Regierungen anscheinend erreichen möchten, wäre also keine europäische. Ich möchte mein Argument so summieren: Während deutsch-französischer Zores nach wie vor geeignet ist die EU lahm zu legen, ist deutsch-französische Gemeinsamkeit nur dann hilfreich, wenn sie einen größeren Horizont ins Auge fasst als die Addition der jeweiligen nationalen Interessen. Eine strukturkonservative deutsch-französische Politik, die das nicht versteht, wird zum europäischen Bremsklotz.
SONST NOCH
In der letzten Woche kam das Europäische Parlament zum ersten Mal in diesem Jahr in Straßburg zusammen, dort hatte ich einen Redebeitrag zum Jahresbericht 2022 über die Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU.
Einen weiteren Redebeitrag vor dem Parlament hielt ich in der Debatte zu Global Gateway. Hier sind meine Plenarnotizen zu finden.
Meine Pressemitteilung zur Forderung des Europaparlamentes an Olaf Scholz, beim Thema Leopard II Panzer zu handeln.
Außerdem habe ich dem ZDF ein Interview zu der Forderung an den Bundeskanzler gegeben.
Am Freitag, dem 20. Januar war ich zum ersten Mal im neuen Jahr in Thüringen. Ich hatte ein gutes Gespräch mit Vertretern des Thüringer Steuerberaterverbandes, eröffnete die Foto-Ausstellung, die meine Fraktionskollegin Anna Cavazzini initiiert hat, zum Thema „Zwangsarbeit heute“ in Altenburg und sprach auf einer Podiumsdiskussion zum „Umgang mit autoritären Regimen“ in Erfurt.
Titelbild: Deutscher Bundestag / Xander Heinl / phototek