Nordmazedonien: An der EU verzweifeln. | BÜTIS WOCHE #233

In seiner Schrift über den „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ bemerkte Karl Marx, dass geschichtliche Ereignisse sich manchmal wiederholen, aber in unterschiedlicher Gestalt: „Einmal als Tragödie und einmal als Farce.“

Die seit September 1991 unabhängige Republik Nordmazedonien, zwischen Griechenland, Bulgarien, Serbien, Kosovo und Albanien gelegen, mit der Hauptstadt Skopje und insgesamt etwa 1,8 Millionen Einwohnern mazedonischer und albanischer Sprache, ist bereits seit 2005 Beitrittskandidat der EU. Die EU-Kommission hat dem Land mehrfach attestiert, dass die formellen Voraussetzungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gegeben seien. Nordmazedonien erlebt gerade auch eine Wiederholung der Geschichte. Doch trotz alledem erlebt Nordmazedonien gerade eine bittere Wiederholung der Geschichte. 

2018 hatte Nordmazedonien, damals noch unter dem ursprünglichen Namen Mazedonien, im historischen Prespa-Abkommen mit dem griechischen Nachbarn auf den eigenen Staatsnamen verzichtet, unter großen inneren Auseinandersetzungen die eigene Verfassung entsprechend geändert, um die langjährige griechische Blockade des Wegs zur EU zu überwinden. Griechenland hatte argumentiert, Mazedonien sei der Name einer griechischen Region und deswegen müsse man befürchten, der Name des Nachbarlandes könne Ansprüche auf griechisches Territorium signalisieren. Nordmazedonien saß am kürzeren Hebel. Dem Land lief in mehrerer Hinsicht die Zeit davon. Der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung blieb aus und die jüngere Generation, die daran zweifelte, dass sich die durch Griechenland verrammelte Tür zur EU doch noch öffnen werde, drehte in wachsendem Maß der eigenen Heimat den Rücken zu und emigrierte. „Kommt die Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr“, hatten 1990 DDR-BürgerInnen auf Demonstrationen skandiert. Die jungen NordmazedonierInnen skandierten nicht, sondern zogen einfach individuell die Konsequenzen aus der Einschätzung, die EU werde wohl nicht nach Skopje kommen. Also müsse man sich zu ihr aufmachen. Um nicht in einer Sackgasse festgemauert zu werden, entschied sich die sozialdemokratisch geführte Regierung Zaev zu einem beispiellosen Akt nationaler Demut. Sie paukte die von Griechenland verlangten Verfassungsänderungen durch die Institutionen. Doch die Tür zur EU öffnete sich nicht. Und nun wird sie erneut verbarrikadiert.

Nach Griechenland war es eine ganze Weile Frankreich, das bockte und blockte. Über die Gründe dafür ist viel spekuliert worden. Tatsache ist, dass die Begeisterung für die Osterweiterung der EU in Paris nie ungeteilt war. Denn je stärker das Gewicht östlicher Länder in der EU wurde, desto mehr wurde Frankreichs Einfluss verwässert. Ich unterstelle Präsident Macron, dass er als besonders stolzer Vertreter der Grande Nation Frankreich in dieser Logik handelte, wenn er dem Beitritt nicht nur von Nordmazdonien, sondern auch von weiteren Balkanstaaten zur EU immer wieder Prügel zwischen die Beine warf. Nordmazedonien allerdings hatte durch die Unterwerfung unter das griechische Diktat tatsächlich einen Weg für sich freigesprengt. 

Eigentlich hätte die EU außerordentlich stolz darauf sein müssen, dass sie immer noch so große Hoffnungen zu wecken in der Lage war. Davon konnte allerdings nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Durch mehrfache Vertagung der fälligen Entscheidungen über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen wurde Nordmazedonien als Rache für seine Demut immer wieder erneut gedemütigt. 

Diese Politik erlebt jetzt eine Kulmination, indem Bulgarien mit Unterstützung durch Ungarn und Frankreich Nordmazedonien zwingen will, die eigene Verfassung noch einmal zu ändern und dabei de facto das eigenständige Existenzrecht infrage zu stellen. Schließlich sei, so argumentieren bulgarische Nationalisten, das Mazedonische nur eine Mundart des Bulgarischen und die Mazedonier eigentlich Bulgaren. Ein besonders chauvinistischer Vertreter dieser Denkungsart, der als bulgarischischer Europaabgeordneter auch schon mal mit dem Hitlergruß negativ auffiel, erklärte vor kurzem öffentlich, wenn man lange genug Druck mache und Nordmazedonien „genügend Schläge“ verabreiche, dann werde das Land schon akzeptieren, dass es bulgarisch sein müsse. Da Beitrittsverhandlungen bei der EU nur durch einstimmige Beschlüsse im Rat genehmigt werden dürfen, sitzt Nordmazedonien nun erneut in einer böse Klemme. 

Das bulgarische Veto wäre meines Erachtens überwindbar gewesen, hätte es in ein paar entscheidenden EU-Hauptstädten den Willen dazu gegeben. So eine unüberwindliche Großmacht ist Bulgarien innerhalb der EU einfach nicht, dass eine entschlossene Haltung von Berlin, Paris, Madrid und Warschau sowie von der Europäischen Kommission wirkungslos geblieben wäre. Doch zu diesem notwendigen Druck gegenüber Sofia kam es nicht. Dafür spielen meines Erachtens zwei sehr egoistische Motive der Regierungen in Budapest und Paris eine ausschlaggebende Rolle. Was Paris motiviert, habe ich schon angedeutet. Ungarns Kalkül ist ein anderes, indem sich Nationalismus und korrupte Parteipolitik treffen. Der Erweiterungskommissar in der EU-Kommission, Herr Várhelyi aus dem Stall von Viktor Orban, ermutigte Sofia, Nordmazedonien mit harten Bedingungen zu bedrängen. Várhelyi spielte darauf, dass die progressive Regierung in Skopje unter dem Druck unerträglicher bulgarischer Zumutungen fallen werde und dann der Weg frei würde für die Rückkehr der nordmazedonischen Nationalisten an die Macht. Deren langjähriger Boss Gruevski, ein autoritärer Korrupteur von besonderen Gnaden, genießt schließlich im Ungarn Orbans seit Jahren „Asyl“. Várhelyi, den Frau von der Leyen leider gewähren ließ, und Macron spielten Doppelpass. Statt Druck auf Bulgarien auszuüben, entschied sich Paris zum Druck auf Nordmazedonien. Die Regierung dort soll nun das Land dazu bringen, Bulgariens übergriffige Forderungen im wesentlichen zu akzeptieren. 

Tatsächlich gibt es gar keine Chance, dass die Unterwerfung unter dieses Diktat für Nord zum „Sesam öffne dich“ werden könne. Dafür müssten im Parlament in Skopje 80 Stimmen, eine Zweidrittelmehrheit, gefunden werden. Das allerdings ist ohne die Unterstützung der nationalistischen Opposition nicht möglich und so schnappt die Mausefalle zu. Wenn also demnächst die ganze Geschichte an die Wand gefahren ist, kann man dann die Verantwortung bei Nordmazedonien abladen und die Blockade mit verlogener Plausibilität fortführen. Dieses böse Spiel, so scheint es, geht auf. In einer ersten Abstimmung im nordmazedonischen Parlament, die in diesen Tagen stattfinden wird, wird es die erforderlichen Stimmen für eine dem Oktroi entsprechende Regierungsvorlage geben. Aber die später erforderliche Verfassungsänderungs- Mehrheit eben nicht. Nach Umfragen lehnen übrigens 70% der NordmanzedonierInnen eine erneute Verfassungsänderung ab. Manche Stimmen in Skopje behaupten, öffentliche Proteste gegen das ganze Manöver seien durch russische Agenten angezettelt oder bestünden aus mobilisierten Chauvinisten und ihren Mitläufern. Das stimmt nicht. Wenn eine Regierung sich so, wie das in Skopje derzeit der Fall ist, in der Klemme sieht, dass sie die gegenüber Bulgarien eingegangenen Verpflichtungen nicht vor, sondern erst nach der Abstimmung im Parlament den Abgeordneten und der Öffentlichkeit voll zugänglich machen will, dann muss man sich über Bürgerproteste wirklich nicht wundern. Inzwischen ist es auch soweit, dass Umfragen eine Mehrheit für die Nationalisten und dramatische Verluste für die regierenden Sozialdemokraten signalisieren. Die EU-Skepsis breitet sich aus, als wäre es die Omikron-Variante. Die nordmazedonischen Grünen, DOM, die die Regierung stützen und in ihr vertreten sind, lehnen das bulgarisch-französisch-europäische Manöver ab. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sie möglicherweise auch zu einem Opfer einer politischen Rolle rückwärts werden könnten.

Manchmal möchte man an der EU verzweifeln.

SONST NOCH

Letzte Woche tagte das Plenum in Straßburg, in meinen Plenarnotizen ordne ich unter anderem die Abstimmung über die EU-Taxonomie ein.

Am 14. Juli veranstaltete der EPRS ein Online-Meeting, bei dem ich bei einer ExpertInnenrunde mitwirkte, die sich mit der Frage: „Is chinas economy in decline?“, auseinandersetzt. Basierend auf einer kürzlich veröffentlichten Studie werden die aktuellen Herausforderungen für Chinas Wirtschaftswachstum und die sich daraus ergebenden Folgen für die EU thematisiert. 

Ich habe der Welt ein Interview zur aktuellen Chinapolitik gegeben.

In der Grüne/EFA-Fraktion haben wir uns am 6. Juli 2022 auf ein gemeinsames Positionspapier zur Europäischen Sicherheit und zur Europäischen Verteidigung geeinigt. Hier geht es zu dem Papier.

Diese Bütis Woche ist die Letzte vor der parlamentarischen Sommerpause. Wir melden uns wieder Ende August. Ich wünsche allen einen erholsamen Sommer, soweit das möglich ist.