Vierzehn Medienunternehmen haben diese Woche gemeinsam eine außerordentlich große Menge an Informationen über das brutale Polizeistaats- und Unterdrückungssystem veröffentlicht, das die Führung der Volksrepublik China seit vielen Jahren in der westchinesischen autonomen Region Xinjiang unterhält. Die Informationen stammen, so heißt es, aus einem Hack von Polizeicomputern, die dem in den USA lebenden deutschen Xinjiang-Spezialisten Dr. Zenz zugespielt wurden. Ob das so stimmt, lässt sich nicht überprüfen, ich würde nicht ausschließen, dass die Daten vielleicht von einigen chinesischen Staatsbeamten durchgestochen wurden, die selbst über das Ausmaß der Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang verstört sind. Bei früheren „Leaks“ gab es durchaus Hinweise, dass teilweise auch Beamte der Han-Nationalität hart bestraft wurden, weil sie beim rücksichtslosen Vorgehen gegen die UigurInnen und andere Minderheiten nicht begeistert mitmachen wollten. Auch die aktuelle Trägerin des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises Frau Sauytbay, eine Kasachin aus Xinjiang, war zuerst Staatsbeamtin in einem der Umerziehungslager, bevor sie, erschüttert über das Ausmaß an Rechtlosigkeit und Gewalt, zur Kritikerin wurde, aus China floh und einen Kronzeuginnen-Bericht aus Xinjiang publizierte („Die Kronzeugin“ von Sayragul Sauytbay und Alexandra Cavelius).
Zum Teil bestätigen die jetzt als „Xinjiang Police Files“ publizierten Dokumente Dinge, die man vorher schon wusste. Zum Teil geben sie sehr detaillierte Einblicke in die von der chinesischen KP und den Behörden in Xinjiang praktizierte Willkür; so kann man nachlesen wie schlichte Sippenhaft praktiziert wird, wie jemand zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wird, weil er sich einen Bart wachsen ließ, wie noch der dümmste, flachste, absurdeste Vorwand gut genug ist, um Menschen auf lange Zeit wegzusperren. Die Dokumente zeigen auch, wie sehr einzelne ranghohe Kader der KP persönlich in die Ausgestaltung und Durchsetzung des verbrecherischen Unterdrückungsregimes verwickelt sind. Der ehemalige Parteichef von Xinjiang und Architekt des dortigen Polizeistaates, Herr Chen, wird in einem Dokument mit der Anweisung zitiert, „Menschen, die aus den Internierungs- und Umerziehungslagern fliehen wollen, zu erschießen“. Wohlgemerkt: Chinesische Behörden und China-Apologeten behaupten bis heute, es habe sich bei diesen Zwangslagern von Anfang an nur um freiwillig besuchte Berufsbildungseinrichtungen gehandelt. Welch erbärmliche Lüge! Ich kann mir nicht vorstellen, dass chinesische Propagandisten wirklich glauben, man könne einem internationalen Publikum weismachen, es sei normal und völlig unbedenklich, wenn „freiwillige TeilnehmerInnen“ an einem „Weiterbildungskurs“, weil sie einmal davonrennen möchten, erschossen werden sollen. Die Unverfrorenheit dieser staatlich organisierten Lügerei besteht darin, solche Behauptungen einfach aufrecht zu erhalten, obwohl die chinesische Seite durchaus weiß, dass wir wissen, dass sie lügt. Damit will man demonstrieren: Wir sind für euch nicht zu packen; wir nehmen uns heraus zu entscheiden, was gesagt und geglaubt werden darf; wir erwarten, dass ihr das akzeptiert und damit die Dominanz unserer Position fraglos anerkennt.
Neu sind bei den aktuellen Xinjiang-Enthüllungen die Bilder, es sind Bilder des Grauens. Tausende Bilder von weggesperrten Menschen, Bilder, wie zehn massiv bewaffnete Polizisten-Schläger über einen einzigen Gefangenen herfallen, der mit Ketten gefesselt ist und dem man einen schwarzen Sack über den Kopf gezogen hat – diese Bilder sind das größte Problem für die Pekinger Führung bei ihren bisherigen hartnäckigen Versuchen zur Verleumdung der Realitäten in Xinjiang. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Einmal sehen ist besser als hundertmal hören.“ Die Enthüllungsbilder geben der in Xinjiang praktizierten Grausamkeit Gesichter. Sie brennen sich ein. Man kann sie schlecht mit leeren Worten wegwischen. Deshalb schaffen diese Bilder eine neue Dringlichkeit in der Auseinandersetzung um die von der Volksrepublik China in Xinjiang begangenen Menschenrechtsverbrechen. Dass unsere Außenministerin Annalena Baerbock noch am Tag der Veröffentlichung in einem Telefonat mit dem chinesischen Außenminister diese verstörenden Bilder ausdrücklich ansprach und befriedigende Aufklärung verlangte, belegt, mit welchem Gewicht die „ Xinjiang Police Files“ die China-Debatte beeinflussen.
Die „ Xinjiang Police Files“ werden zu einem Zeitpunkt bekannt, zu dem sich Europas Verhältnis zu China insgesamt an einem Wendepunkt befindet. Wohin wird das Pendel ausschlagen? Bekanntlich hat die Erfahrung der fossilen Energieabhängigkeit Deutschlands und anderer Länder Europas von dem das Völkerrecht missachtenden russischen „Zaren“ Wladimir für viele Menschen in Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaft die Frage aufgeworfen, wie wir gegebenenfalls reagieren könnten, sollten, würden, wenn der nicht weniger skrupellose chinesische Parteichef Xi seinerseits sich zu einer vergleichbaren Aggression hinreißen ließe. In dieser Diskussion kann man viel Unsicherheit erleben; gleichzeitig verfolgen gerade Aktivistinnen und Aktivisten aus Menschenrechtsorganisationen angespannt, wie sich der Besuch der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Frau Bachelet, in China entwickelt. Gefordert hatte Frau Bachelet lange Zeit ungehinderten und störungsfreien Zugang nach Xinjiang; das schloss die Forderung ein, unkontrolliert mit von ihr ausgewählten Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern reden zu können. China macht nun aber nicht im Leisesten den Eindruck, als sollten diese Erwartungen ansatzweise erfüllt werden. In dreierlei Weise wurde Frau Bachelet schon in den ersten Tagen ihres Besuchs gedemütigt: Zur Begrüßung überreicht ihr Wang Yi, der Außenminister, ein Buch von Xi Jinping – über Menschenrechte! Dann verbreiteten chinesische Staatsmedien die Unwahrheit, Frau Bachelet habe Chinas Erfolge bei der Verbreitung der Menschenrechte gelobt, und schließlich ließ Xi Jinping selbst die Hohe Kommissarin wissen, er werde keine „Menschenrechts-Belehrungen“ akzeptieren. Wohlgemerkt, Frau Bachelet vertritt offiziell die Vereinten Nationen. China signalisiert denen: „Ihr könnt uns kreuzweise – für uns seid ihr nur relevant, wenn ihr unser Spiel mitspielt.“ Sorgenvoll fragen sich viele, ob Frau Bachelet diesem fortgesetzten Foulspiel gewachsen sein wird oder ob sie am Ende davor einknickt. Das hätte auf so offenen Bühnen eine erhebliche internationale Wirkung. Wohin schlägt das Pendel aus?
Tatsächlich haben wir EuropäerInnen hinreichend guten Grund, diese Frage an uns selbst zu richten. Vor etwas mehr als einem Jahr, im März 2021, wurden zwar gegen vier rangniedrige Beamte in Xinjiang und gegen die Ausbeutungsfirma XPCC europäische Menschenrechtssanktionen wegen der Unterdrückung der UigurInnen und anderer Minderheiten in Xinjiang verhängt, doch es waren, gemessen an dem damals schon bekannten Unrecht, sehr milde Maßnahmen. Schon damals hätte es gute Gründe gegeben, den oben genannten Herrn Chen selbst zu bestrafen. Davor schreckte man zurück. Das erboste China, es machte aber zugleich den Eindruck von begrenzter Entschlossenheit, das führte dazu, dass Peking mit eigenen Sanktionen heftig eskalierend zurückschlug. Hat die EU jetzt Lust auf eine neue Runde? Wenn man nicht nur taktisch denkt, kann die Antwort nur eine positive sein. Ich bin sicher, das Europäische Parlament wird das auch mit großer Geschlossenheit verlangen, aber es macht die europäische Politik nicht alleine. Wie wird Berlin spielen? Paris? Wie Warschau? Wie Rom und Madrid? Ich denke, dass die Entschiedenheit, mit der die Europäische Kommission heute gegenüber China auftritt, sehr viel damit zu tun hat, dass es in der Tat im Europäischen Parlament eine stabile und sehr breite Mehrheit für eine Klartext-Chinapolitik gibt. Wenn wir wollen, dass die nationalen Hauptstädte nicht zögerlicher sind, dann braucht es Druck aus den nationalen Parlamenten. Es braucht sozusagen eine Phalanx der Parlamente. Und natürlich Druck der öffentlichen Meinung.
Es gibt aber auch noch eine zweite Konfliktlinie, die in diesem Zusammenhang ins Auge zu fassen ist. Das ist die zwischen dem Anspruch, den etwa der BDI-Präsidenten Herr Russwurm öffentlich formuliert hat, dass deutsche Unternehmen verlässliche ethische rote Linien bei ihren Geschäften in China bestimmen, und der Neigung recht prominenter Firmen, in der praktischen Entscheidung doch mehr auf die Gewinnerwartung als auf die Ethik zu schauen. Es gibt nach wie vor deutsche Firmen, die sich nicht aus Xinjiang zurückgezogen haben und mit ihrer Präsenz zur Normalisierung der dortigen Verhältnisse beitragen, dazu gehören, um nur zwei zu nennen, Volkswagen und BASF. Mir scheint, denen muss man die Frage so stellen: „Viele deutsche und europäische Firmen haben sich, angesichts von Putins verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, aus Russland zurückgezogen. Wäre es nicht mindestens ebenso gerechtfertigt, dass sich deutsche und europäische Unternehmen angesichts von Xi Jingpins Hightech-Totalitarismus aus Xinjiang zurückziehen?“ Und ist es nicht vor dem Hintergrund alles dessen, was wir über Xinjiang wissen, eine absolute Notwendigkeit, dass es nach amerikanischen Vorbild auch in der EU ein Verbot von Produkten aus Xinjiang gibt, solange nicht bewiesen ist, dass diese ohne Zwangsarbeit hergestellt wurden? Volkswagen und BASF sind wichtig und stark genug, um sich einen Rückzug aus Xinjiang leisten zu können. Sie müssen jetzt Nägel mit Köpfen machen. Selbst der Kommentator der FAZ hat die offenkundige Frage gestellt, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Abducken, wegschweigen und weitermachen geht nicht.
Unsere Auseinandersetzung mit dem „Systemrivalen“ Volksrepublik China ist kein Sprint, sondern ein Mega-Marathon. Sie wird nicht an einem einzigen Tag und über eine einzige weitere Frage entschieden, aber wenn unsere Gesellschaft, unsere Politik und unsere Wirtschaft angesichts der aufrüttelnden Bilder des Grauens aus Xinjiang nicht das Notwendige tun, dann schwächen wir uns damit in dieser Auseinandersetzung.
SONST NOCH
Meine Pressemitteilung zu den „Xinjiang Police Files“, durch die die grauenvollen Zustände in den sogenannten Internierungslagern in Xinjiang enthüllt werden, findet Ihr hier. Zu dem Thema habe ich außerdem dem Deutschlandfunk und den Tagesthemen ein Interview gegeben.
Am 23.05. war ich zu einem Schulbesuch an der Europaschule Albert-Schweitzer Gymnasium Sömmerda. Die SchülerInnen waren an einer ganzen Bandbreite an Themen interessiert, und so haben wir über die Arbeit im Europaparlament, über Demokratie und den Umgang mit Autokraten, über verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik bis hin zu Umweltpolitik debattiert, sowie darüber, wie junge Menschen sich politisch engagieren können.
Im Rahmen des Raw Materials Summit habe ich über die Perspektiven von Kreislaufwirtschaft bei der Maximierung von Rohstoffen gesprochen.
Außerdem war ich in Hamburg zu Besuch bei der Hamburger Handelskammer, beim German Institute for Global and Area Studies – Giga und zu einem Unternehmensbesuch bei der Firma Aurubis.
Vom 26.5. bis 27.5. nehme ich am Transatlantic Defense Forum in Prag teil und referiere zum Thema: China – Dividing and Uniting Factor in Transatlantic Relations?