Unsere Zeitenwende und der globale Süden | BÜTIS WOCHE #227

Bei ihrem Treffen in diesen Tagen machten die Agrarminister der G7-Staatengruppe Schlagzeilen mit der Aufforderung an Indien, das gerade mit Blick auf drohende riesige Versorgungsprobleme verhängte Getreideexportverbot wieder aufzuheben. Indien ist weltweit einer der allerwichtigsten Getreideexporteure und kann damit in sehr relevanter Weise internationale Weichen stellen. Die Sorge der G7-MinisterInnen ist sehr verständlich. Schließlich häufen sich seit Wochen die Befürchtungen und Prognosen, dass infolge des Krieges in der Ukraine die weltweite Getreideversorgung gerade für arme Länder brutal unter die Räder kommen kann. Millionen Tonnen von Getreide, die in der Ukraine, ebenfalls einem der größten Getreideexporteure der Welt, noch lagern, können derzeit nicht exportiert werden, weil Russland die ukrainischen Häfen besetzt hat, zerstört hat oder blockiert. In drei Monaten etwa sollte Getreide aus neuer Ernte eingelagert werden, aber wenn die EU keinen Weg findet, vorhandene Vorräte auf andere Weise, etwa über baltische Häfen, exportieren zu helfen, dann wäre für die neue Ernte kein Platz. Kurz gesagt, der russische Krieg droht in nicht allzu ferner Zeit weltweit Opfer zu fordern: durch Hunger in etlichen Ländern des globalen Südens. 

In dieser Situation wären weltweite Panikreaktionen, nach denen jedes Land nur noch auf die eigene Lebensmittelsicherheit achtet, ganz gewiss ein Krisenverschärfer. Trotzdem vermute ich, dass der G7-Appell, wie ihn Cem Özdemir von Stuttgart-Hohenheim aus an die Regierung in Neu-Delhi richtete, dort nicht besonders gut ankam. Die Präsidentin des Deutschen Instituts für Globale und Regionale Studien und Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg, Amrita Narlikar, die in Indien aufgewachsen ist, hat in einem Interview mit dem Tagesspiegel einen Vorwurf an Europa und die USA gerichtet, den man wahrscheinlich aus der indischen Hauptstadt oder verschiedenen afrikanischen, lateinamerikanischen und südostasiatischen Hauptstädten auch hören könnte: „Die Armen zahlen für die Sanktionen.“ Auf die ausdrückliche Frage: „Schaden die westlichen Sanktionen gegen Russland dem globalen Süden?“, antwortet sie: „Leider ja. Die Preise für Energie und Nahrungsmittel steigen schon jetzt dramatisch – und Russland war bislang einer der größten Exporteure von Weizen und Düngemitteln. Die Sanktionen werden ihre Wirkung auf die russische Wirtschaft entfalten, aber die Armen werden auch darunter leiden – und die Armen in den reichen Ländern.“ Auf den Hinweis, dass Russland die Häfen für ukrainischen Getreideexport schließe und Getreidesilos beschieße, antwortet Frau Narlikar: “Sie haben recht. Und das ist wirklich schrecklich und inakzeptabel, aber das macht die Wirkung der Sanktionen im globalen Süden nicht besser.“ Ich will an dieser Stelle nicht darüber streiten, ob Frau Narlikar mit dieser Kritik an den Sanktionen recht hat. Ich zitiere sie, weil ich überzeugt bin, dass in der deutschen Politik und in der europäischen auch zu wenig Aufmerksamkeit darauf verwendet wird, Perspektiven aus dem globalen Süden auf unsere internationale Politik in unserer Strategiebildung zu berücksichtigen. Annalena Baerbock hat da vor Kurzem eine rühmliche Ausnahme gemacht. Josep Borrell hat nach einer Reise durch Lateinamerika bitter beklagt, wie wenig europäisches Interesse man doch für die Länder dieser Region spüre. Es lassen sich sicher noch mehr positive Beispiele finden. Insgesamt jedoch mangelt es an Aufmerksamkeit und Respekt, so ließ sich etwa Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim Gipfeltreffen der EU und der Afrikanischen Union Anfang dieses Jahres nur kurz zu Beginn sehen und hatte dann „Wichtigeres zu tun“. Zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Konferenz war, so berichtete mir ein empörter Teilnehmer, der höchstrangige europäische Vertreter der belgische Premier. Wichtige afrikanische Staatslenker hätten gekocht. Das Treffen wurde zum Fehlschlag.

Man kann auch, ohne groß zu suchen, andere schwerwiegende Versäumnisse der EU gegenüber Ländern des globalen Südens auflisten. Man denke etwa an den Streit über die Impfstoffversorgung in der aktuellen Pandemie beziehungsweise über Impfstoffpatente. Oder man denke an das nicht erfüllte Versprechen der Industrieländer, bis zum Jahr 2020 den armen Ländern 100 Mrd. Dollar für Klimapolitik zur Verfügung zu stellen. Frau Narlikar fasst diese und andere solche Erfahrungen in dem Satz zusammen: „Niemand sollte das Ausmaß der Unzufriedenheit über den Westen im globalen Süden unterschätzen.“ GlobalisierungskritikerInnen, Solidaritätsbewegungen und auch Grüne haben lange genug und auch eindringlich auf diese Versäumnisse, Fehler, Verantwortungslosigkeiten und Ungerechtigkeiten hingewiesen. Doch jetzt bekommen diese Fragen zusätzlich noch ein neues Gesicht, in der säkularen Auseinandersetzung zwischen einer regelbasierten, sich auf internationales Recht stützenden multilateralen Weltordnung und neuer revisionistisch-imperialistischer Politik aus Moskau und Peking erweist sich die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem globalen Süden nicht mehr nur als moralisches Problem, sondern auch als geostrategisches. Ähnlich wie man sagen kann, dass Erneuerbare Energien heute nicht mehr nur wegen des Klimas und wegen der Innovation wichtig sind, sondern auch wegen der nationalen Sicherheit, muss man sagen, dass ein fairer Umgang mit dem globalen Süden in der Tat geostrategische Relevanz hat.

Es haben zwar in der UNO-Generalversammlung 141 Länder mitgemacht, den völkerrechtswidrigen russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen, aber wenn man genauer hinschaut, ist das Bild nicht ganz so eindeutig. 35 Länder, darunter große wie Indien, Südafrika, Brasilien und nicht nur China, haben sich geweigert, Russland zu verurteilen. Aktiv an den Sanktionen gegen Russland beteiligt ist nur ungefähr ein Drittel der Weltgemeinschaft, und Russland fühlt sich international bei weitem nicht so isoliert, wie uns das von Europa aus vorkommt. Indonesien wird Russland zum G20-Gipfel einladen; ob die USA und Europäer sich einen Gefallen tun, wenn sie in der WTO verweigern mit der russischen Seite überhaupt nur zu reden, kann man auch infrage stellen. Werben wir bei unseren Partnern im Süden genug für unsere Perspektive? Erklären wir sie? Hören wir die Kritik an doppelten Standards? Reflektieren wir, was die Handlungsbedingungen anderer Länder tatsächlich sind? Ich glaube, wir tun von alledem zu wenig, dabei brauchen wir diese Partner viel mehr, als wir uns das in der Vergangenheit je vorstellen wollten.

Ich komme noch einmal auf Indien zurück. Dass Indien in der UNO-Generalversammlung nicht gegen Russland stimmte, ist vielfältig als Enttäuschung interpretiert worden. Dabei war es vielleicht gar nicht so überraschend. Russland hat sich nach in Neu-Delhi vorherrschender Meinung in der Vergangenheit anders als die USA als verlässlicher Partner Indiens bewährt. Ein Großteil der Ausrüstung der indischen Armee kommt aus Russland. Indien will Russland auch nicht zurückstoßen, weil es eine Stärkung der russisch-chinesischen Achse fürchtet. Ich behaupte keineswegs, dass wir uns diese indische Betrachtungsweise zu eigen machen müssen; wenn wir aber nicht wollen, dass Indien aus eigenem Interesse Russland die Stange hält, wo Demokratien weltweit eigentlich zusammenrücken müssen, um der autoritären Aggression zu begegnen, dann darf man sich eben nicht nur auf Kritik und Belehrung verlegen, sondern muss die relevanten Interessen zur Kenntnis nehmen und praktische Alternativen anbieten. Sind wir bereit dazu?

Russland und auch China arbeiten systematisch daran, Teile des globalen Südens in strategische Reserven für ihre aggressive Politik zu verwandeln. Wo EU-Länder gar nicht vorkommen, können sie dem natürlich nichts entgegensetzen. Wo wir zwar vorkommen, aber durch unsere Politik mehr Schaden anrichten als Nutzen und uns unglaubwürdig machen, da ist das wie Dünger auf die bösen Saaten, die andere gesät haben. Wo wir gute Partner sind, aber uns scheuen, darüber zu reden, sind wir einfach nur blöde. Auf jeden Fall aber sind wir dann schief gewickelt, wenn wir annehmen, es gehe letztlich darum, dass der globale Süden möglichst weitgehend unseren Einflusssphären zuzurechnen sei und nicht denen des neuen Autoritarismus. Der globale Süden sei in der systemischen Auseinandersetzung insbesondere zwischen China und uns quasi „up for grabs“, hat kürzlich jemand in einem Strategiepapier geschrieben, falscher geht es nicht. Alle diese Länder, alle diese Völker kämpfen um ihre eigenen Perspektiven, ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten, ihre eigene Rolle, ihre eigenen Interessen, ihren gebührenden Respekt. Sie alle wollen selbst „agency“. Zurecht. Einen Zwei- oder Dreiklassen-Multilateralismus wird es, denke ich, in Zukunft nicht geben, wenn der Multilateralismus dominant bleiben soll. Viel Platz ist dagegen für Partnerschaft, die beiderseitig hilft. Es ist geostrategisch nicht erfolgversprechend, nur die G7 zusammenzutrommeln oder die OECD oder die USA, die Kanadier, Japan, Australien und Europa. Die Zeitenwende, die wir durchleben, müssen wir auch mit Blick auf unsere Politik gegenüber den Ländern des globalen Südens ausbuchstabieren. Sonst verlieren wir uns in ihr.  

SONST NOCH

  • Am Dienstag, den 17.05, habe ich an einer Podiumsdiskussion des Europäischen Abends der IHK teilgenommen, Thema war die wirtschaftspolitische Agenda der Europäischen Union.
  • Ich habe als Sprecher am Webinar “Is China’s private sector advancing or retreating?” des Bruegel Think-Tanks teilgenommen.
  • Im Rahmen des EU-Projekttags an Schulen besuche ich am 23. Mai das Albert-Schweitzer-Gymnasium Sömmerda, um dort mit verschiedenen Schulklassen über aktuelle europapolitische Themen zu sprechen.
  • Berichte über Zusammenarbeit zwischen europäischen Universitäten mit Forschungsanstalten der chinesischen Volksbefreiungsarmee – meine Pressemitteilung.