„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen, drum nehme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen“ so schrieb der deutsche Dichter Matthias Claudius. Heutzutage ist es natürlich mit Stock und Hut nicht mehr getan. Ganz gewiss nicht auf Fernreisen, wie der nach Indien, die ich gerade hinter mir habe. Dorthin war ich eingeladen worden, um in Neu-Delhi am 7. Raisina-Dialog teilzunehmen.
Der Raisina-Dialog ist eine mit finanzieller Unterstützung der indischen Regierung von dem indischen ORF Think-Tank durchgeführte Großveranstaltung, die vor allem zur Darstellung und Diskussion von Indiens internationaler Politik ein Forum bietet. Der Raisina-Dialog ist in der kurzen Zeit seines Bestehens in die Liga international besuchter geostrategischer Konferenzen aufgestiegen, in der die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) und das in Singapur stattfindende Shangri-La-Dialog Forum die prominentesten sind. An diesem Raisina-Dialog nahmen über eintausend Menschen aus etwas einhundert Ländern teil. Die Keynote-Rednerin war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die in Begleitung des indischen Ministerpräsidenten, der selbst dort nicht sprach, die Eröffnungsveranstaltung prägte. Insgesamt war die Besetzung der vielen Paneldiskussionen aber nicht nur durch eine lange Reihe prominenter RednerInnen geprägt, sondern breiter gestreut und vielfältiger als bei der MSC oder bei Shangri-La.
Der Raisina-Dialog hatte diesmal durch die Anwesenheit Ursula von der Leyens, aber auch in der Besetzung der Diskussionsrunden stark den Charakter eines indisch-europäischen Austausches. Darin spiegelte sich die wachsende Aufmerksamkeit wider, die die indische und die EU-Seite seit dem EU-Indien-Gipfel in Porto in 2021 füreinander aufbringen. Bei jenem Gipfel waren mehrere Vereinbarungen getroffen worden, um die Beziehungen zu intensivieren: Es wurde eine Konnektivitätspartnerschaft vereinbart; es wurde die Wiederaufnahme der Verhandlungen eines Handels- und Investitionsabkommens verabredet; auch die Wiederaufnahme des jahrelang unterbrochenen Menschenrechtsdialogs wurde festgelegt. Ich glaube, es ist kein großes Geheimnis, eigentlich gar kein Geheimnis, dass auf beiden Seiten zunehmend negative Erfahrungen mit Indiens großem Nachbarn China diese Bewegung zur Wiederannäherung nach vielen Jahren des Stillstandes mit angetrieben haben.
Ursula von der Leyen warb in ihrer Eröffnungsrede sehr intensiv um größere europäisch-indische Zusammenarbeit bei den Fragen der ökologisch-klimapolitischen und der digitalen Transformationspolitik. Sie hatte dazu auch eine positive Überraschung nach Neu-Delhi mitgebracht: Auf ihren Vorschlag hin wurde zwischen der indischen und der EU-Seite vereinbart, einen gemeinsamen “Rat für Handel und Technologie” (Trade and Technology Council, TTC) einzurichten. Indien ist nach den USA erst das zweite Land, mit dem die EU eine solche Verabredung getroffen hat. Die große Hoffnung hinter den TTC-Bemühungen ist, dass es auf diesem Weg gelingen könne, ganz praktische Schritte zur Kooperation im gegenseitigen Interesse zu identifizieren und zu realisieren. Die je für sich umgesetzt werden können, ohne erst einmal die Gesamtbewältigung der durchaus schwierigen Fragen bei den Handels- und Investitionsbeziehungen erfolgreich hinter sich gebracht zu haben. Man könnte auch sagen: Vertrauensbildung über die Gestaltung eines Flickenteppichs von einzelnen, pragmatisch sinnvollen Schritten der Kooperation. Dazu können Standardisierungsfragen gehören, Aspekte der Zusammenarbeit bei der Cyber-Sicherheit, Kooperation beim Investment-Screening, gemeinsame Technologieentwicklung und so weiter und so fort. Der seit dem letzten Jahr schon aktive EU-USA-TTC hat seine Arbeit in zehn thematische Arbeitsgruppen untergliedert. Die Ausgestaltung des EU-Indien TTC wird wahrscheinlich noch einige Monate in Anspruch nehmen.
Ursula von der Leyen hatte, ganz gewiss nicht überraschend, auch noch ein anderes Thema nach Indien mitgebracht: den russischen Aggressionskrieg in der Ukraine. “Ukraine“ war vielleicht das am meisten verwendete Wort bei der Konferenz. Die europäische Kommissionspräsidentin gab dem Thema in ihrer Rede großen Raum, sie betonte durchaus energisch, wie fundamental diese Zeitenwende-Erfahrung für die Europäische Union ist. Und auch andere europäische Rednerinnen und Redner kamen immer wieder auf das Thema zurück, bis zu Tobias Lindner, dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, der als Teilnehmer der letzten Diskussionsrunde die Veranstaltung mit abband. Die große Geschlossenheit und Entschlossenheit, die aktuell die solidarische Unterstützung der Ukraine durch die EU prägt, wurde unmissverständlich deutlich. Das führte aber keineswegs dazu, dass von indischer Seite nicht ebenso hartnäckig die eigene Distanz gegenüber der europäischen Perspektive deutlich gemacht worden wäre. Indiens Außenminister Jaishankar, der bei der Konferenz mehrfach auftrat, vermied ebenso konsequent wie andere prominente indische Redner das Wort Krieg und jegliche Verurteilung der Aggression Russlands. Unerschütterlich wiederholte er einige wenige Formeln: „Indien bedaure die schreckliche Zerstörung, Indien sei für ein schnelles Schweigen der Waffen.“ Jaishankar war nicht konfrontativ. Außer einem vorlauten BJP-Funktionär auf einem der Panel war niemand konfrontativ, aber die Bereitschaft, die europäische Sichtweise als Basis der Diskussion zu akzeptieren, gab es nicht. Jaishankar formulierte etwa in seiner Antwort auf die Frage, wie denn Indien als größte Demokratie der Welt den russischen Angriff auf die ukrainische Demokratie bewerte, kühl: es sei nun einmal jedes Landes Aufgabe die eigenen Werte und Interessen auszubalancieren. Und er wie auch andere Redner verwiesen mehrfach darauf, dass die europäische Anteilnahme für aus indischer Sicht besonders bedrohliche Konflikte auch nicht eben groß gewesen sei. In einer Diskussion wurde erwähnt, Indien habe sich in kurzer Folge in verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen elf mal in der Ukraine-Frage enthalten. Nach meinem Eindruck sollte niemand in Brüssel, Berlin oder anderen europäischen Hauptstädten erwarten, dass das Land sich in Kürze anders verhalten oder gar für diese Haltung entschuldigen werde. An einer Stelle formulierte Außenminister Jaishankar keck: Indien habe ja seine eigene Position gegenüber dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen deutlich gemacht, aber leider hätten andere sich dem nicht angeschlossen.
Indien präsentierte sich in der Ukraine-Debatte als ein Land, das – im fünfundsiebzigsten Jahr der Unabhängigkeit – zwischen ererbten Schwächen und Abhängigkeiten einerseits und wachsender machtpolitischer Ambition andererseits einen Kurs umsetzen will, der internationale Partner vor allem daran bemisst, was sie zur Stärkung Indiens beizutragen in der Lage und Willens sind. Zugleich als ein Land, das gegenüber jeglichem erhobenen Zeigefinger aus Europa schnell allergisch reagiert. Auch als ein Land, das Schmeicheleien mag. Noch nicht als ein Land, das den eigenen Anspruch auf Weltgeltung selbstverständlich mit der eigenen Verpflichtung verbindet, für die Welt internationale öffentliche Güter anzubieten. Der Umstand allerdings, dass bei diesem Raisina-Dialog prominente offizielle Vertreterinnen oder Vertreter der russischen oder der chinesischen Regierung nicht vorhanden waren oder nicht auffielen spricht – sozusagen als anecdotal evidence – doch dafür, dass Indien bei der Verfolgung seiner wachsenden außenpolitischen Bemühungen auf einem Weg ist, der zu intensiverem Austausch mit Europa und den USA führt. Gegenüber den USA besteht dabei der Vorbehalt, dass sie in der Vergangenheit keine verlässlichen Partner gewesen seien, anders als Russland. Gegenüber Europa gibt es, wenn ich jetzt recht sehe, keine vergleichbare Skepsis, da Europa als eigenständiger geostrategischer Akteur ja gerade erst entsteht und die EU nach dem Brexit die britische Kolonialgeschichte nicht als Klotz am Bein hat. Ich war zum Teil überrascht, wie oft von indischen Vertretern die Formulierung strategische Autonomie verwendet wurde, die ja auch in Brüssel in den letzten 15 Jahren ein ständiges Diskussionsthema war und ich würde sagen, dass es da zwischen Indien und der EU eine gewisse Parallelität gibt, beide entwickeln geopolitische Ambitionen, die sie früher in dem Maße nicht hatten, beide sehen das Bedürfnis, sich gegen von dritter Seite zugewiesene Rollen zu verwehren, beide sind noch nicht soweit, dass sie klar darlegen könnten, was jenseits des Willens, eigene Werte und Interessen zu vertreten, den unverwechselbaren Kern der jeweils gesuchten internationalen Bedeutung ausmachen soll.
Spannend fand ich, dass bei der Raisina-Konferenz Klimapolitik eine wesentlich größere Rolle spielte, als ich das bei der MSC jemals erlebt habe. Die zwei Stichworte, die dabei von indischer Seite regelmäßig ins Zentrum gerückt wurden, sind allerdings eindeutig Ansatzpunkte für Kritik, auch gegenüber der EU, da geht es um die nicht gehaltenen Zusagen in Entwicklungsländern bis 2020 100 Mrd. für Klimapolitik zur Verfügung zu stellen, und es geht auch um ungenügenden Technologietransfer. Indiens Willen, aktive Klimapolitik zu betreiben, würde ich nicht bestreiten, auch wenn es in der praktischen Politik erhebliche Widersprüche gibt, etwa durch weiteren Ausbau der Kohlekapazitäten. Der indische Umweltminister reagierte auf Nachfragen dazu etwas dünnhäutig und formelhaft, doch auf der anderen Seite betonte er die große Ambition beim Ausbau erneuerbarer Energien. 400 Gigawatt ist derzeit, wenn ich die Zahlen richtig aufgeschrieben habe, der Umfang der indischen Stromkonsumption. 500 Gigawatt erneuerbaren Strom will Indien bis 2030 aus dem Boden stampfen. Klimaneutral will Indien bis 2070 werden. Manche Formulierungen, die sehr stark nach klimapolitischer Selbstgerechtigkeit klangen, drücken eine Mentalität aus, die dabei nicht hilfreich sein würde. Doch alles in allem ist gerade dieser Bereich der Klimapolitik sicherlich ein sehr vielversprechendes Feld für die indisch-europäische Kooperation.
Am Rande der Konferenz konnte ich eine Reihe von Gesprächen führen, um mehr über die Perspektive indisch europäischer Zusammenarbeit zu lernen, ich traf die Böll-Stiftung, den deutschen Botschafter und verschiedene sehr interessante Gesprächspartner aus Think Tanks und akademischen Institutionen. Ich kehre von diesem ersten Besuch des Raisina-Dialogs zurück, mit der Überzeugung, dass es sich wirklich lohnen wird, der Entwicklung unserer Beziehungen mit diesem großen, demokratischen, widersprüchlichen, wichtigen Land wesentlich mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als wir das bisher getan haben.
SONST NOCH
- Am 30.4. bin ich anlässlich des Thüringer Europafestes in Saalfeld und freue mich auf spannende Diskussionen mit BürgerInnen vor Ort.
- Nächste Woche ist Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.
- Am 6.5. spreche auf der Konferenz des Europa-Instituts der Saarland Universität zum Thema „The protection against foreign susidies distorting the international market“. Hier könnt Ihr Euch anmelden.