Wer die Haltung der SPD gegenüber Putins Russland ergründen will, über die derzeit in Deutschland und bei unseren Freunden und Nachbarn sehr viele Menschen den Kopf schütteln, kann ganz praktisch mit dem Nord Stream 2-Lackmustest anfangen. Wie haben sich eigentlich in den vielen Jahren, die der Streit um dieses fossile Infrastrukturprojekt gedauert hat, führende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dazu positioniert? Hier ist eine Liste prominenter Personen der SPD: Saskia Esken, Sigmar Gabriel, Hubertus Heil, Lars Klingbeil, Kevin Kühnert, Thomas Kutschaty, Heiko Maaß, Michael Müller, Rolf Mützenich, Andrea Nahles, Matthias Platzeck, Olaf Scholz, Gerhard Schröder, Martin Schulz, Manuela Schwesig, Erwin Sellering, Ralf Stegner, Frank-Walter Steinmeier, Stephan Weil, Bernd Westphal, Dietmar Woidke. Sie haben sich samt und sonders explizit und öffentlich für Nord Stream 2 eingesetzt. Nicht alle taten das so Putin-ergeben wie Gerhard Schröder, so energisch wie Sigmar Gabriel, so verschlagen wie Manuela Schwesig oder so spät wie Kevin Kühnert. Wahrscheinlich missfiel etlichen der Genannten sogar, wie sich Gerhard Schröder unmittelbar nach dem Ende seiner Kanzlerschaft selbst zum Putin-Angestellten degradierte. Doch der russlandpolitische Konsens, der die Partei beherrschte, war so stark, dass bis in die ersten Monate des Jahres 2022 niemand aus der Führungsebene in der Lage war, diese Schande beim Namen zu nennen. Als Schröders russisches Engagement 2005 bekannt wurde, war der offizielle Grüne Kommentar: „Das stinkt!“ Die SPD aber rümpfte lieber die Nase darüber, dass wir uns so über ihren Ex-Kanzler hermachten, der trotz Agenda 2010 den Status eines Säulenheiligen der Partei innehatte, da ihm erst als drittem SPD-Kandidaten nach Willy Brandt und Helmut Schmidt die Erringung der Kanzlerwürde gelungen war und das gleich zweimal. Es gab höchstwahrscheinlich auch in der SPD andere Meinungen. Nach außen wirksam wurden sie nicht. Von dem erwähnenswerten SPD-Spitzenpersonal habe ich nur von Malu Dreyer keine öffentlichen Zitate pro Nord Stream 2 gefunden. Allerdings hat sie sich auch nicht auf die Seite der KritikerInnen dieses Projektes geschlagen, die, obwohl das offizielle Berlin das nicht wahrhaben wollte, schon früh sehr zahlreich waren: Die Mehrheit unserer europäischen Nachbarinnen und Nachbarn von der Ukraine über Polen, die baltischen Länder und Frankreich bis zur Iberischen Halbinsel waren gegen Nord Stream 2. In entscheidenden Sitzungen des europäischen Ministerrates hätte Deutschland noch nicht einmal eine Sperrminorität zusammenbekommen, wenn nicht Macron wider besseren Wissens ausgeholfen hätte. Die Europäische Kommission war ebenfalls gegen die Pipeline. Das Europäische Parlament sprach sich entschieden dagegen aus und hatte dafür schon vor vier Jahren eine Mehrheit zwischen Zweidrittel und Dreiviertel der Stimmen. ÖkologInnen, Klimabewegte und NaturschützerInnen waren ohnehin gegen die auf etwa 50 Jahre angelegte Infrastruktur. In den USA wurde Nord Stream 2 von Demokraten ebenso entschieden abgelehnt wie von Republikanern. Der damalige Vizepräsident Biden war schon ein erklärter Nord Stream 2-Gegner, bevor Donald Trump überhaupt wusste, dass er für die Präsidentschaft kandidieren würde. Aber Trumps rustikale Ablehnung der Pipeline machte man sich in der SPD zunutze, um unter Ausschlachtung anti-amerikanischer Vorurteile die Opposition gegen die Pipeline insgesamt zu diskreditieren. Trump ist dagegen, also müssen wir dafür sein. Alle anderen Stimmen, auch unsere Grünen Stimmen, die das Projekt von Anfang an klar kritisierten, wurden schlicht ignoriert. Wenn man es im Nachhinein für erstaunlich findet, wie realitätsvergessen die SPD jahrelang mit dem Thema umging, dann darf man allerdings nicht unterschlagen, dass sie dabei nicht ganz alleine war. Viele sehr prominente Stimmen aus der deutschen Wirtschaft bliesen in dasselbe Horn und über die Jahre wurden dann auch zahlreiche SpitzenpolitikerInnen der Union zu energischen Nord Stream 2-Verfechtern. Zu nennen wären da insbesondere Merkel, Seehofer, Söder, Altmaier, Kretschmer, Haseloff, Caffier. In der FDP verhinderte Wolfgang Kubicki, dass es zu einer klaren Nord Stream 2-Ablehnung gekommen wäre. Obwohl die SPD also mit ihrer falschen Politik keineswegs allein stand, zeichnete sie sich doch durch besonders missionarischen Ehrgeiz bei der Verflechtung dieses unseligen Projektes aus. In den Argumenten, mit denen die Partei dafür stritt, spiegelte sich das ganze Spektrum ihrer russlandpolitischen Grundüberzeugungen. Nord Stream 2 war für sie: „Wandel durch Handel“; „Entspannung- und Friedenspolitik“; ein entscheidendes Mittel, die Brücken zu Russland instand zu halten; eine energiepolitische Großtat, weil angeblich amerikanisches Frackinggas die Alternative war; eine Bastion gegen missgünstige und bevormundende Einmischung der USA; ein Zeichen dafür, dass sich Berlin von Brüssel nichts vorsagen lässt; ein Beleg für den eigenen russlandpolitischen Weitblick; Ausdruck der Tatsache, dass Russland zu Europa gehört; eine ganz unproblematische Verflechtung, da ja selbst die Sowjets zu Hochzeiten des Kalten Krieges energiepolitisch verlässlich gewesen waren; insgesamt eine wohltätige Verknüpfung deutscher und russischer Interessen. Nord Stream 2 wurde so energisch verteidigt, weil diese Pipeline als Zuspitzung der SPD-Russlandpolitik erschien. Die Politik gegenüber dem großen russischen Nachbarn ist natürlich für Deutschland enorm wichtig. Für die Sozialdemokratie hat sie in ihrer langen Geschichte mehrfach eine sehr zentrale Rolle gespielt. Beim ersten Mal 1914 war es nicht zuletzt die von Marx und Engels ererbte Ablehnung des zaristischen Russlands als Hort der europäischen Reaktion, die der Sozialdemokratie den Weg zur Bewilligung der Kriegskredite ebnete. Nach dem Zweiten Weltkrieg einte Kurt Schumacher die SPD in scharfer Abgrenzung zur Sowjetunion. Doch den Höhepunkt sozialdemokratischer Russlandpolitik bildete die unter der inzwischen mythisch gewordenen Kanzlerschaft von Willy Brandt entwickelte Ostpolitik, die entscheidend half, die Spannungen des Kalten Krieges zu reduzieren, das Leben vieler Menschen im geteilten Deutschland zu verbessern und eine eigenständige außenpolitische Rolle Deutschlands zu begründen. Ich würde sagen, in den über 150 Jahren ihrer Existenz hat die SPD vor allem drei epochale Leistungen zu verbuchen: Die langwierige Erkämpfung des Achtstundentages und alles dessen, was dazu gehört; die heldenmütige Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes 1933; die Entspannungspolitik der 70er und 80er Jahre. Gerade von der letzten Leistung lebt die SPD, die zu Oskar Lafontaines Zeiten bei der Deutschen Wiedervereinigung keine besonders zu lobende Rolle spielte, bis heute in ihrem außenpolitischen Selbstverständnis. Die SozialdemokratInnen sehen eine gerade Linie von Brandt, Bahr und Schmidt bis zu ihrer heutigen Russlandpolitik. Noch dieser Tage versuchte Sigmar Gabriel in der Verteidigung dieser verfehlten Politik das rettende Etikett der Entspannungspolitik zu reklamieren. Das Bekenntnis zur „Entspannungspolitik“ war für die Partei ein einigendes Band. Es war Teil der politischen DNA, Teil der Kernidentität, Parteimythos. Deshalb fällt es der SPD heute auch so schwer, mit der Kritik an diesem ihrem Selbstbild umzugehen. Es erscheint vielen dort so, als sei man durch die Kritik der SPD-Russlandpolitik geradezu dazu aufgefordert, die tiefverwurzelten entspannungspolitischen Grundsätze zu verraten und über Bord zu werfen. Das ist ein ebenso großes wie fatales Missverständnis. Die Entspannungspolitik war aber nie das, was die SPD in den letzten Jahren aus ihr gemacht hat. Annalena Baerbock hat mit ihrer im Bundestagswahlkampf verwendeten Formel von „Dialog und Härte“ gegenüber Putins Russland den ursprünglichen Geist der Entspannungspolitik besser verstanden als die ganze gegenwärtige SPD. Willy Brandts Entspannungspolitik ging auf zwei Beinen, sie verband Dialog mit Abschreckung, Versöhnungsbereitschaft mit militärischer Stärke. Der Anteil der Rüstungsausgaben am deutschen Bruttosozialprodukt lag damals bei über 4%, mehr als doppelt so viel, wie Olaf Scholz jetzt unter dem Eindruck der russischen Ukraineinvasion für die kommenden Bundeshaushalte versprochen hat. Willy Brandts Entspannungspolitik war kein deutscher Sonderweg, sondern insbesondere mit den USA strategisch koordiniert. Die eine Hälfte dieser Politik hat die SPD allerdings schlicht verdrängt. Statt Dialog und Abschreckung, ist dies faktisch Dialog und Dialog und mehr Dialog. Und weil das nicht zum Erfolg führte, kam quasi folgerichtig Appeasementpolitik dazu. Das war besonders verhängnisvoll, weil das Russland Putins sich vom Russland der Sowjetunion, der gegenüber die Entspannungspolitik entwickelt wurde, in einem wesentlichen Charakteristikum fundamental unterscheidet: Die Sowjetunion war eine Status-quo-Macht, die ihre errungene Stellung in Europa verteidigen wollte, Putin dagegen repräsentiert ein revisionistisches Russland, das die europäische Stabilitäts- und Sicherheitsarchitektur, die in den letzten Jahrzehnten nach Ende des Kalten Krieges entstanden ist, gründlich umstürzen will. Gegenüber einer revisionistischen Macht auf die Kombination von Dialog und Härte zu verzichten, wie Olaf Scholz es noch im Bundestagswahlkampf, übrigens zusammen mit Armin Laschet, gegen Annalena Baerbock vertrat, das kann keine erfolgreiche Politik begründen. Der russlandpolitische Irrweg der SPD war kein Zufall, sondern konsequentes Ergebnis einer kollektiven Realitätsverweigerung, einer ideologischen Verwirrung. Was bis vor kurzem in der SPD als Erbe der Entspannungspolitik eisern verteidigt wurde, war nur eine Karikatur derselben. Wie konnte es dahin kommen? Ich bin überzeugt, dass es nicht nur für die SPD wichtig ist, diese Entwicklung aufzuarbeiten. Das gilt umso mehr, als die SPD mit dieser falschen Politik in Deutschland weitgehend meinungsbestimmend war. Aber Aufarbeitung braucht Zeit und davon haben wir gerade nicht sehr viel, wenn wir uns der großen Gefahr gewachsen zeigen wollen, die der von Putin vom Zaun gebrochene Krieg nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa bedeutet. Wohlgemerkt, all die Irrläufer, die jetzt den Zeitpunkt für gekommen sehen, radikal mit der Friedensbewegung abzurechnen oder damit, dass man mit so einem Schurken wie Putin überhaupt den Dialog suchte oder die die Größe einer Nation an der Höhe ihrer Rüstungsausgaben bemessen wollen und was es sonst noch für Pharisäerweisheiten gibt, die vergiften nur das politische Klima, ohne irgendetwas zur Aufklärung beizutragen. Aber es wäre ganz falsch, sich jetzt nur hinter der Ablehnung von derartig absurden weltanschaulichen Fingerübungen zu verschanzen. Kommt ins Freie, Genossinnen und Genossen! Bei dieser Aufarbeitung muss besondere Aufmerksamkeit der Herabsetzung, Missachtung, Verächtlichmachung unserer osteuropäischen Partner gelten, der Länder, die zwischen Russland und Deutschland liegen. Dieses böses Erbe hat leider sehr weit zurückreichende Wurzeln. Die SPD hat als Partei damit nie wirklich aufgeräumt, auch wenn einzelne sich sehr darum bemüht haben. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang noch sehr genau, wie erschrocken ich war, als Helmut Schmidt bei einem Staatsbesuch in der DDR verkündete: Ruhe sei nun die erste Bürgerpflicht, nachdem in Polen General Jaruzelski gegen Solidarność das Kriegsrecht verhängt hatte. Von dieser Haltung ist auch in der SPD von heute noch viel zu viel zu finden, da muss man sich nur die Stimme von Mützenich anhören. Doch wie gesagt, wir können nicht auf die Aufarbeitung warten, um angemessen handlungsfähig zu werden. Olaf Scholz sollte daher seine Richtlinienkompetenz nutzen, um die deutsche Russlandpolitik Schritt für Schritt auf der Grundlage des Koalitionsvertrages zu entwickeln, in dem FDP und Grüne der SPD eine Wende in der Russlandpolitik abgerungen hatten, die allerdings bisher im Kanzleramt allenfalls widerwillig realisiert wird. Mit seiner Zeitenwende-Rede im Bundestag hat Scholz durchaus gezeigt, dass er in der Lage ist, in einer neuen Zeit auch neue Politik zu formulieren. Das muss er jetzt nochmal tun. Für die SPD ist das ein großer Schritt. Für Deutschland ein unerlässlicher. Aber ohne ein mutiges “nostra culpa” von Scholz, das er gerade im aktuellen Spiegelinterview wieder hartnäckig verweigert hat, wird es nicht klappen. |
Sonst noch
- Plenarnotizen: Thema der Sitzungswoche im April im Europäischen Parlament war einmal mehr der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und insbesondere die schrecklichen Kriegsverbrechen, die in Butscha begangen wurden.
- 43 Europaabgeordnete haben Michelle Bachelet, die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, in einem Brief aufgefordert das Schicksal des Sakharov-Preisträgers Ilham Tohti anzusprechen und um ein Treffen mit ihm zu bitten, wenn und falls sie China besucht.
- In der nächsten Woche nehme ich an der Raisina Dialogue Konferenz in Neu Delhi teil und spreche dort zum Thema: “Dragon’s Fire: Deciphering China after Ukraine”.
- Am Samstag, den 30.04 besuche ich das Europafest der Thüringer Staatskanzleiin Saalfeld.
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