Im Banne des Krieges in Europa: Washingtoner Blicke auf Berlin und Brüssel | BÜTIS WOCHE #223

Zu Besuch in Washington, D.C., stehen natürlich in allen Gesprächen die Ukraine, der Krieg, Russlands rücksichtslose Aggression und der europäische Umgang damit im Zentrum.

Freundliche Überraschung, zum Teil gepaart mit richtiger Freude, aber auch mit etwas Ungläubigkeit und skeptischer Vorsicht, so würde ich die Reaktionen in Washington auf die Berliner und Brüsseler Politik im Zeichen der “Zeitenwende” zusammen fassen, auf die ich bei meinen Gesprächen stoße. Ich spreche mit Freunden, mit Think-Tank-Leuten, mit Menschen aus dem Politik-Apparat und die Reaktionen unterscheiden sich nicht fundamental.

Dass der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine in der Europäischen Politik einen “historic turning point” ausmacht, wird nicht bestritten, ja begrüßt. Doch kommen wiederholt Fragen, wie verlässlich diese Wende denn sei. Ein bisschen erinnern mich diese Stimmen daran, wie viele von uns in Europa auf die Wende von Trump zu Biden reagiert hatten: Ja, natürlich, das macht aktuell einen großen Unterschied, aber können wir sicher sein, dass das hält, dass das nicht wieder wegschmilzt? Ist es am Ende wirklich eine Wende oder nur ein Ausreisser?

Die außen- und sicherheitspolitische Neuorientierung, die wir in Berlin und in Brüssel erleben, wird von US-Beobachtern vielleicht auch deswegen in ihrer Verlässlichkeit etwas in Frage gestellt, weil in den USA selbst außenpolitische Orientierungen großen Stimmungsschwankungen unterliegen. Noch kurz vor Putins Überfall auf die Ukraine war in der US-Öffentlichkeit noch nicht mal die Unterstützung für ein diplomatisches Engagement der USA-Regierung groß. Jetzt, da man die Bilder präsentiert bekommt und den Schrecken des Krieges, den Putin über die Ukrainerinnen und Ukrainer bringt, sehen kann, erhält Präsident Biden für seinen Kurs deutliche Unterstützung. Aber ein Senator, den ich frage, ob das wohl so bleibe, lacht etwas bitter und meint, der “attention span” der US-Öffentlichkeit für außenpolitische Fragen sei nicht besonders groß. Kann man dann darauf vertrauen, dass all das Neue in Europa nicht nur eine vorübergehende Erregung ist?

Nach meinem Eindruck werden die Veränderungen, die wir aus Berlin zu berichten haben, deutlicher wahrgenommen als die auf EU-Ebene. Dass Deutschland Nord Stream 2 – endlich! – gestoppt hat und das for good, dass Deutschland bei harten Sanktionen gegen Russland mitzieht, dass Deutschland wohl gerade zum zweitwichtigsten Waffenlieferanten der Ukraine geworden ist nach den USA, dass Deutschland jetzt entschieden mehr Geld für die eigene Verteidigungsanstrengungen aufbringen will, das ist natürlich registriert worden. Das stellt Veränderungen dar, die hier in Washington willkommen geheißen werden. Aber notiert werden auch die Zögerlichkeiten, mit denen unsere Zeitenwende zu schaffen hat und die Tatsache, dass Berlin immer wieder in Nachtrab gerät. Man scheint sich zu fragen, wie stark man einer Politik Vertrauen entgegen bringen soll, die weniger auf selbstbewusster Führung basiert und mehr auf nicht-verweigerbare Einsicht in aktuelle Notwendigkeiten.

Wir Grüne gelten bei vielen als HoffnungsträgerInnen, aber diejenigen, die Deutschland gut kennen, wissen auch von Grünen Widersprüchen und wollen sich nicht ganz darauf verlassen, dass eine immer noch relativ kleine Partei dem Land eine Richtung geben kann. Kommt die Putin-Versteherei wirklich nicht zurück? Wie lange dauert es, bis wieder jemand von der SPD vorschlägt, Russland zur G7 hinzuzuladen? Wird Deutschland versuchen, wenn die Waffen in der Ukraine schweigen, die aufgebrochenen Gräben mit dem Mantel der Nachsicht und eines unbedingten Normalisierungswillens zuzudecken?

Was die von Putin geschaffene Katastrophe mit der EU anstellt, das ist, so mein Eindruck, nicht besonders deutlich im Blick. Vielleicht haben sich einfach nicht genug Leute in Washington von den ewigen europäischen Debatten über das Einstimmigkeitsprinzip und Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik belämmern lassen, um jetzt überrascht zu sein, dass die 27 EU-Mitgliedsstaaten auch ohne QMV entschiedene, schnelle und gemeinsame außenpolitische Entscheidungen zu treffen in der Lage waren.

Mehrfach habe ich mit dem Hinweis, dass sich die Dynamik zwischen verschiedenen europäischen Hauptstädten dadurch ein Stück weit verschoben habe, dass einige von den Großen zaudernder und einige von den Kleinen entschlossener waren, freundliches Interesse gefunden. Wahrscheinlich erinnern sich etliche Leute noch daran, dass Donald Rumsfeld seinerzeit in spalterischer Absicht “Old Europe” und “New Europe” gegeneinander stellte. Und es war in Washington kein Geheimnis, dass in der jahrzehntelangen Diskussion um strategische Autonomie der EU unterschiedliche Nationen sehr verschiedene Positionen hatten. Dass jetzt europäische Handlungsfähigkeit tatsächlich entsteht, indem sich “Old Europe” und “New Europe” in neuer Weise mischen und dabei vernünftigerweise die gute Koordination mit gleichgesinnten Partnern anderswo in der Welt und insbesondere mit den USA gemeinsam betonen, könnte geeignet sein, die Irritationen um das Vexierspiel der strategischen Autonomie positiv zu beenden. Ich habe das in einigen Gesprächen auf die Formulierung gebracht, Europa sei gerade dabei, sich in neuer Weise als geopolitischer Akteur zu etablieren, traf damit aber auf die eine oder andere hochgezogene Augenbraue. Wirklich? 

Dann zähle ich auf, dass in Dänemark eine Volksabstimmung darüber entscheiden soll, ob man sich an der sicherheitspolitischen Kooperation der EU beteiligt, dass in Finnland inzwischen eine Mehrheit für den NATO-Beitritt ist, dass in Schweden über die Frage auch mit großer Intensität diskutiert wird, dass Bundeskanzler Scholz deutsche Sicherheitsgarantien für die Ukraine ins Gespräch bringt, dass es eine neue Dringlichkeit in der Politik gegenüber dem Westbalkan gibt, dass die Tür für die Verleihung des Beitrittskandidatenstatus an die Ukraine, Moldova und Georgien vom Rat jedenfalls einen Spalt breit geöffnet wurde, dass die Europäer dabei sind, in der Flüchtlingspolitik Gemeinsamkeiten zu finden, die sie sich lange gegenseitig verwehrt haben. Darauf sind die Blicke nicht mehr ganz so zweifelnd. Vielleicht ist ja tatsächlich etwas Entscheidendes in Bewegung gekommen.

Doch dann kommt China. Wenn die EU geopolitischer Akteur sein will, dann muss sie das insbesondere gegenüber China beweisen. Wird sie das beim EU-China-Gipfel am April Fool’s Day? Ist die EU so weit, die Erfahrung, die sie gerade mit dem totalitären Alleinherrscher Vladimir Putin macht, auch für ihre grundsätzliche Haltung gegenüber dem totalitären chinesischen Parteikaiser Xi Jinping in Ansatz zu bringen? Ist Europa nicht von China noch viel abhängiger als von den fossilen Energieressourcen Russlands? Hat China nicht viele Jahre lang verschiedene europäische Länder erfolgreich gegeneinander ausgespielt? Hat Europa eine strategische Idee für den Umgang mit der Herausforderung, die China darstellt? 

Manche fragen auch, ob Europa in der China-Politik den USA folgen werde. Das weise ich zurück und argumentiere, das sollte nicht die Erwartung sein. Europa muss, wie die USA, die eigene China-Politik selbst formulieren, wobei es auf der Basis der gemeinsamen Werte und Interessen außerordentlich große, wichtige strategische Gemeinsamkeiten gibt. 

Aber ich kann die Grundfrage nach der Konsequenz, mit der Europa aus Putins Aggressionspolitik grundsätzliche Schlussfolgerungen zieht, nicht sicher beantworten. Trotz wachsender europäischer Gemeinsamkeiten bei der Entwicklung von Handelsschutzinstrumenten, trotz EU-Einigkeit bei der europäischen Indo-Pazifik-Strategie, sowie trotz vielen Bekenntnissen zur breit getragenen, wenn auch noch nicht praktisch umgesetzten Global Gateway Initiative ist andererseits einfach nicht zu übersehen, dass eine nachhaltige Politik zur Partnerschaft mit dem Globalen Süden nirgends in Sicht ist. Und wie soll eine wirksame China-Strategie ohne dies funktionieren? 

Die USA sind an dem Punkt natürlich auch nicht weiter. Und mancher fällt zurück in die Rede vom Westen, so als ginge es darum, die Zeit, in der der Westen eine funktionstüchtige politische Kategorie war, wieder zu errichten, statt auf viel weiter gestreckte Partnerschaften zu setzen, die eben auch die Interessen der entsprechenden Partner ernst nehmen müssen. In Deutschland arbeitet die Regierung gerade an einer China-Strategie, erzähle ich, vielleicht haben wir die dann Anfang nächsten Jahres. Interessant, sagen sie dazu. Mal sehen, was draus wird.

Wenn ich dann wieder komme, können wir Zwischenbilanz ziehen, sage ich, wie weit die Hoffnungen berechtigt waren und wie weit die Zweifel. Let’s hope for the best. See you.


Sonst noch

Im Vorfeld des EU-China-Gipfels einige Überlegungen zu Lehren aus dem Debakel der Russland-Politik für ein Umdenken in der China-Politik im Tagesspiegel gemeinsam mit Daniela Schwarzer und Thorsten Benner.

Meine Pressemitteilung zum EU-China-Gipfel könnt Ihr hier nachlesen.

Für den 4.4. habe ich die Online-Veranstaltung “Kreislaufwirtschaft – Was Thüringens Wirtschaft und VerbraucherInnen davon haben” mit Anja Siegesmund (Thüringer Ministerin für Umwelt, Energie und Naturschutz), Karsten Kurth (Referent für Energie und Klima der IHK Erfurt), Prof. Dr. Jörg Knieling (Experte für Stadtplanung und Regionalentwicklung) und Oda Beckmann (Mitbegründerin des Reparier-Café Jena) organisiert. Hier könnt Ihr Euch anmelden.

Die nächste Woche ist eine Straßburg-Woche, hier die regelmäßig aktualisierte Tagesordnung.

Am 5.4. spreche ich mit Dr. Anton Hofreiter (MdB) und Veronika Grimm (Professorin für Volkswirtschaftslehre und Mitglied im Sachverständigenrat) über das Thema “Wie abhängig ist Europa von Russlands Rohstoffen?”. Hier könnt Ihr Euch anmelden.