Deutschland zahlt einen hohen Preis für Nord Stream 2

Der Bau der Pipeline ist vollendet und der Schaden immens. So kann die künftige Bundesregierung den europäischen Zusammenhalt stärken

Gemeinsamer Beitrag mit Agata Łoskot-Strachota in der Welt vom 17.10.2021 

Nord Stream 2, initiiert kurz nach der russischen Annexion der Krim, war nie ein europäisches Vorhaben, sondern immer ein russisch-deutsches. Russlands geostrategisches Ziel war es dabei von vornherein, beim Gasexport die Ukraine umgehen zu können, dadurch einen Keil zwischen die Ukraine und die EU zu treiben, die Ukraine in der Folge stärker unter Druck setzen und letztlich gefügig machen zu können. Deutschlands Komplizenschaft kann man nur mit den Worten des französischen Staatsmannes Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord kommentieren: “Es ist mehr als ein Verbrechen, es ist ein Fehler.”

Dass dieser Fehler gegen Kritik aus der Europäischen Kommission, gegen mehrheitliche Ablehnung und teilweise massive Gegnerschaft unter den EU-Mitgliedstaaten, gegen eine Mehrheit des Europäischen Parlaments, gegen die offenkundigen Interessen der Ukraine und gegen den geostrategischen Widerwillen der USA durchgezogen wurde, sollte Berlin nicht stolz machen.

Der Triumph gehört Moskau. Zwei deutsche Kanzler, Gerhard Schröder und Angela Merkel, bildeten erst nolens, dann volens, unterstützt von ihren Parteien, ein Tandem, das vermeintliche deutsche Interessen hartnäckig gegen Europa und gegen die meisten Partner Deutschlands verfocht und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin damit wunderbar ins Blatt spielte.

Deutschland zahlt heute schon einen erheblichen politischen Preis für seine Nord Stream Strategie. Der dadurch verursachte Verlust deutscher Vertrauens- und Glaubwürdigkeit in Warschau, in Kiew, in den meisten Ostseehauptstädten, in Brüssel, in Washington und anderwärts wird noch vielfach zu Buche schlagen. Damit erbt die aus der Wahl am 26. September hervorgehende Bundesregierung eine schwere Bürde.

Doch sie wird auch gefordert sein, sich selbst zu positionieren. Nord Stream 2 ist zwar fertiggestellt, doch die Auseinandersetzung darüber ist noch offen, ob die Pipeline auch in Übereinstimmung mit geltendem europäischem Energierecht betrieben werden kann.

Die neue Bundesregierung hat drei Optionen. Sie kann sich gegenüber der vielfältigen Kritik taub stellen. Oder sie kann versuchen, wenigstens die kompensatorischen Maßnahmen, die US-Präsident Joe Biden Kanzlerin Merkel in einem faulen Kompromiss abgerungen hat, ernsthaft zu verfolgen. Zuletzt kann sie der Pipeline die politische Unterstützung, wenn auch viel zu spät, entziehen und sich für eine vollständige Umsetzung von Geist und Buchstaben der EU-Gasregulierung einsetzen. In letzterem Fall könnte Moskaus gerade so stolz blühender Weizen doch noch auf dem Halm verdorren.

Bei der Rechtfertigung des bisherigen deutschen Eintretens für Nord Stream 2 dominierte die Behauptung, es gehe allein um wirtschaftliche Interessen. Die USA waren angeblich nur gegen Nord Stream 2, weil sie eigenes Schiefergas verkaufen wollten. Die Ukraine und Polen wurden beschuldigt, bloß die Gebühren für die bisherige Gas-Durchleitung durch ihre Länder im Blick zu haben. Wie absurd das im Falle Polens ist, zeigen die Fakten. Der jährliche Gewinn aus dem Transit russischer Gaslieferungen über den polnischen Abschnitt der Jamal-Europa Pipeline ist auf etwa fünf Millionen Euro begrenzt. Zudem gehen diese Einnahmen an EuroPol Gaz, dessen Miteigentümer zu 48 Prozent der russische Konzern Gazprom ist.

Falsch ist auch die Behauptung, Nord Stream 2 bringe größere Liefersicherheit für Deutschland und die EU. Putin hat öffentlich gedroht, künftigen Gastransit durch die Ukraine von deren “Wohlverhalten” gegenüber Moskau abhängig zu machen. Er stellt damit die bisherige Hauptversorgungslinie unter einen schwerwiegenden Vorbehalt. In der Konsequenz wären Deutschland und andere EU-Länder in extremer Weise von einer einzigen Gasroute, der durch die Ostsee, abhängig.

Wirtschaftlich widersinnig ist die Großinvestition in ganz neue fossile Energieinfrastruktur zudem, weil die europäische Klimastrategie auf einen zügigen Rückgang des Erdgasverbrauchs und stattdessen auf grünen Wasserstoff setzt. Nach aktuellen Prognosen der EU und der Internationalen Energieagentur wird die Erdgasnachfrage in der EU und Deutschland im Zuge der ambitionierten Klimaziele und der laufenden Energietransformation ab den 2030er Jahren noch schneller zurückgehen, als bis vor Kurzem angenommen. Somit rechtfertigt selbst die sinkende Gasförderung in der EU den Bau einer neuen großen Gasexporttrasse nicht, zumal bestehende Pipelines freie Transferkapazitäten haben. Nord Stream 2 wird also entweder ein Hindernis auf dem Weg der Energiewende, indem die Pipeline die Fesselung an fossile Abhängigkeiten verstärkt und verlängert, oder eine Investitionsruine, ein stranded asset, wenn diese Blockade nicht gelingt. Wirtschaftliche Vernunft? Wurde in der Pfeife geraucht.

An der Frage der Vereinbarkeit der Pipeline mit der EU-Gasrichtlinie könnte sich Nord Stream 2 nur vorbeimogeln, wenn der zuständige deutsche Regulierer, die Bundesnetzagentur, alle Augen zudrücken würde. Damit das keineswegs passieren kann, hat der EU-Gesetzgeber der Europäischen Kommission extra die Aufsicht über das Agieren der nationalen Behörde zugewiesen. Es ist die gemeinsame Aufgabe von Kommission und Bundesregierung dafür zu sorgen, dass Geist und Buchstaben des EU-Rechts penibel eingehalten werden. Russische Umgehungsversuche wird es sicher geben, doch darf es für diese Pipeline keinen Sonderweg geben.

Abstrakt wird Solidarität gerne als unverzichtbare Voraussetzung für europäischen Zusammenhalt hochgehalten. Gerade zwischen den Nachbarn Polen und Deutschland ist Solidarität unerlässlich. Polen hat diese Solidarität bei der deutschen Wiedervereinigung zur Richtschnur seiner Politik gemacht. Deutschland antwortete, indem es aktiv für die zügige Einbeziehung Polens in die NATO und die EU eintrat. In jüngerer Vergangenheit waren beide Seiten öfter mit der jeweils anderen nicht richtig zufrieden.

Wir müssten mehr in unsere zukunftsgerichtete Gemeinsamkeit investieren. Dagegen erweist sich Nord Stream 2 als veritabler Spaltkeil. Berlin war in dieser Sache gegenüber berechtigten Interessen Polens, anderer Ostseeanrainer und insbesondere auch der Ukraine leider außerordentlich schwerhörig. Damit ist enormer Schaden angerichtet worden für den europäischen Zusammenhalt, und für die wohl verstandenen Interessen Deutschlands auch.

Weil Polen und Deutschland das Anliegen teilen, der aggressiven Politik Putins nicht Vorschub zu leisten, müssen wir auch in der Energiepolitik versuchen, an einem Strang zu ziehen. Nord Stream 2 ist zwar gebaut, aber sie ist noch nicht operational. Sie kann aufgehalten werden, aber nur, wenn eine deutsch-polnische Kooperation zustande kommt und zwar in voller Würdigung der Interessen der Ukraine und der Bedenken anderer europäischer Nachbarn. Die bisherige Nord Stream 2-Politik hat uns in eine Sackgasse manövriert. Doch eine neue Bundesregierung bietet auch eine neue Chance.