Zur Lage in Afghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen sagt Reinhard Bütikofer, außenpolitischer Koordinator der Grüne/EFA-Fraktion im Europaparlament:
„Die Truppen sind abgezogen, die Probleme bleiben. Etwa drei Millionen Menschen sind in Afghanistan selbst auf der Flucht, mehr als zwei Millionen haben sich einstweilen in Nachbarländer Afghanistans retten können. Die Berichte über brutale Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban werden dichter, die Gefahr, dass die Taliban-Herrschaft genutzt wird, um erneut eine Brutstätte für internationalen Terrorismus zu schaffen, ist nicht von der Hand zu weisen. Die zivilen Errungenschaften der letzten 20 Jahre, vor allem für Frauen und Mädchen, drohen völlig verloren zu gehen. Der Drogenhandel blüht weiter.
All dem steht ein diskreditierter, durch das Abzugsdebakel schwer belasteter Westen gegenüber. Aus Washington wie von EU-Ministerkonferenzen kommt vor allem ein Signal: Wir wollen Afghanistan möglichst weit und möglichst vollständig hinter uns lassen und konzentrieren und in erster Linie darauf, dass bei uns keine Flüchtlinge ankommen. Diese Haltung verstärkt die Blamage noch. Europa, um von den USA einmal nicht zu reden, kann es sich nicht leisten, auf Amnesie zu setzen.
Als erstes müssen die EU, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten in gemeinsamer Initiative eine internationale humanitäre Konferenz über Afghanistan organisieren. Dort soll es darum gehen, humanitäre Hilfe in Afghanistan so pragmatisch wie möglich und so unabhängig von Taliban-Kontrolle wie irgend denkbar zu unterstützen; ein konsequentes Menschenrechts-Monitoring zu organisieren; massive Maßnahmen zur Stabilisierung der Nachbarn Afghanistans zu ergreifen; und ein Resettlement-Programm zu verabreden, so wie es zum Beispiel 1979 für Boat People aus Vietnam organisiert wurde. Es ist die gemeinsame Verantwortung von Charles Michel, Ursula von der Leyen und Josep Borrell, diesen Vorschlag an Präsident Biden und Premier Johnson heranzutragen. Denn auch für sie gilt: Die Verantwortung ist mit dem Truppenabzug nicht beendet.
Für die EU beinhaltet die Afghanistan-Erfahrung der letzten Monate eine keineswegs neue, aber in ihrer katastrophalen praktischen Auswirkung besonders bittere Erkenntnis. Diese heißt: Je weniger Europas Länder sich untereinander koordinieren und in einer solchen Krise systematisch zusammenarbeiten, desto mehr ist jeder der europäischen Partner jeweils auf ein mehr oder weniger großes Maß an Goodwill seitens der amerikanischen Regierung angewiesen. Dass die reichen Staaten Europas noch nicht einmal in der Lage sind, einen Flughafen wie den in Kabul so lange militärisch zu sichern, bis eine humanitäre Evakuierung abgeschlossen ist, ist schlicht unakzeptabel. Es ist in dieser Situation die Aufgabe von Josep Borrell, sich unbeliebt zu machen, indem er knallharte praktische Vorschläge unterbreitet, um diese Malaise nicht auf lange Sicht, sondern bis Ende des kommenden Jahres zu korrigieren.“