FOIP, dieses Akronym steht für Free and Open Indo-Pacific, einen geostrategischen Ansatz, bei dem vor allem Japan und Indien Pate standen, der lange ein Kümmerdasein fristete, inzwischen von den U.S.A. aufgegriffen wurde und jetzt auch in Europa Resonanz findet. Bemerkenswert an dieser Diskussion ist schon die geografische Terminologie. Noch vor nicht langer Zeit hieß der Bezugsrahmen anders: Asia-Pacific. Die Zukunft des asiatisch-pazifischen Raumes wurde lange vorgestellt als eine, die von der Kooperation und dem Wettbewerb zwischen der Volksrepublik China und den Vereinigten Staaten von Amerika geprägt werde. Dann drängte sich der Gegensatz zwischen den beiden genannten Großmächten in den Vordergrund. Demgegenüber bringt die indo-pazifische Perspektive auch andere Akteure in den Fokus, insbesondere die größte Demokratie der Welt, die bald auch die volksreichste Nation unserer Erde sein wird. Die Verschiebung des geografischen Horizontes spiegelt eine Herangehensweise, die sich nicht mehr nur auf die asiatischen und die amerikanischen Gegenküsten des Pazifik bezieht, sondern sich vornimmt, Asien als Ganzes in den Blick zu fassen und die sich herausbildende Zentralität Asiens in den internationalen Beziehungen zu reflektieren. Man erinnert sich noch an die Zeit, als Peking verkündete, der Pazifik sei groß genug, um für die Ansprüche der U.S.A. wie Chinas Platz zu lassen. Während der chinesische Parteistaat inzwischen dazu übergegangen ist, mit wachsendem Selbstbewusstsein eigene Hegemonialansprüche voranzutreiben, gibt FOIP darauf eine prinzipielle Antwort: Es geht nicht nur um China und die U.S.A. Andere Mächte wollen auf eigene Gestaltungsansprüche für die internationalen Beziehungen, vor allem die in ihrer asiatischen Großregion, nicht verzichten. Dass die U.S.A. darauf eingehen, zeigt, dass dort das ungebrochene Vertrauen auf den eigenen Supermachtstatus Stück für Stück einer realistischen Neuorientierung Platz lässt, die Partnerschaft mit anderen auch deswegen sucht, weil dadurch die Last internationaler Verantwortung nicht nur auf den eigenen Schultern ruht.
Die Entwicklung des FOIP-Denkens kann man an der Entwicklung des Quad ablesen, einer Plattform der Zusammenarbeit zwischen den U.S.A., Indien, Japan und Australien. Ursprünglich entstand das Quad als Ad-hoc-Reaktion auf die Katastrophe des großen Tsunami von 2004, der vor allem in Indonesien enorme Verheerungen anrichtete und viele Opfer forderte. Es war ein Instrument zur Koordinierung von Not- und Krisenhilfe. Japan war das erste der vier Länder, das aus dem Quad gerne mehr machen wollte, das gerne daraus ein Instrument zur regelmäßigen Beratung der vier Partner über eine Vielzahl politischer Themen schmieden wollte. Indien insbesondere war lange zögerlich, obwohl die indo-pazifische Orientierung grundsätzlich in Delhi natürlich geschätzt wurde. Indien sah das Risiko, dass das Quad vom mächtigen nordöstlichen Nachbarn China als anti-chinesisches Bündnis oder wenigstens die Vorstufe zu einem solchen verstanden würde und dass sich daraus unnötige Schwierigkeiten im indisch-chinesischen Verhältnis ergeben würden. Von Peking aus wurde über das Quad gespottet. Es handele sich dabei sozusagen um die Schaumkrone auf einer Welle und werde ganz sicher keine Beständigkeit haben. Dass Peking sich dabei getäuscht hat, ist, so ironisch das auch sein mag, vor allem das Ergebnis einer eigenen Politik. Pekings aggressiver ökonomischer Druck gegen Australien, Pekings zunehmende militärische und paramilitärische Präsenz in den Gewässern um die japanischen Senkaku-Inseln, Pekings unbestreitbarer Versuch, seine Himalaya-Grenze mit Indien de facto vorzuschieben, und Pekings offene Herausforderung an die U.S.A. haben die vier Partner davon überzeugt, dass ihre Zusammenarbeit für alle wertvoll sein kann, und dieser damit erhebliche Dynamik verliehen. Das Quad wurde Stück für Stück aufgewertet. Inzwischen ist es auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs angekommen und befasst sich explizit mit Fragen der Sicherheitspolitik.
Über die Zukunft der indo-pazifischen Großregion machen sich natürlich nicht nur die genannten vier Länder Gedanken, sondern auch andere wie Neuseeland, Korea oder die ASEAN-Länder. Dabei tauchen selbstverständlich auch gewisse Widersprüche auf, die sich etwa darin artikulieren, dass außer „free“ und „open“ noch andere Adjektive ins Feld geführt werden wie z. B. „inclusive“. „Inclusive“ kann heißen, man solle auch die Rolle kleinerer Länder berücksichtigen, und es kann als Ermahnung gemeint sein, einen konstruktiven Platz für China einzuräumen. „Free and open“ ist schließlich ein Begriffspaar, das zwei vernehmliche politische Botschaften aussendet. „Free“ adressiert den Systemgegensatz zwischen Autoritarismus und Demokratie. „Open“ meint den Widerstand gegen die immer stärker werdenden Hegemonialansprüche Chinas insbesondere im Südchinesischen und Ostchinesischen Meer. Kein Wunder, dass das alles in der chinesischen Hauptstadt gar nicht gut ankommt. Kein Wunder, dass Länder, die angesichts der realen Machtgefälle gegenüber China vorsichtiger operieren wollen, nach Wegen suchen, dieser Haltung Ausdruck zu verschaffen. Doch ist es zunehmend wahrscheinlich, dass die FOIP-Perspektive sich durchsetzt, denn sie bildet die zwei fundamentalen Widerspruchsebenen ab, die das Verhältnis des vom Parteikaiser Xi Jinping geführten China zum Rest der Welt prägen. Es ist nicht absehbar und von den am Quad beteiligten Ländern, soweit ich sehen kann, auch nicht beabsichtigt, daraus eine Struktur zu formen, die irgendwann einmal eine Art asiatische NATO darstellen könnte. Aber ein Kern für eine bis dato nicht vorhandene plurilaterale Sicherheitsarchitektur in Asien bildet sich da schon heraus.
Von den EU-Ländern war es nicht zufällig Frankreich, das in der pazifischen Region eigene Überseeterritorien besitzt und z. B. im Südchinesischen Meer seit etlichen Jahren mit seiner Marine präsent ist, das als Erstes die indo-pazifische Strategie aufgriff. Inzwischen haben auch die Bundesrepublik und die Niederlande indo-pazifische Leitlinien oder Strategien erarbeitet und auf EU-Ebene dringen insbesondere diese drei Länder darauf, auch eine EU-Strategie für den indo-pazifischen Raum zu formulieren. Diese kann durchaus noch vor der Sommerpause dieses Jahres das Licht der Welt erblicken. Es ist nicht zu erwarten, dass in einem EU-Konzept die sicherheitspolitische Dimension die zentrale Rolle spielen wird, obwohl die EU in durchaus interessanten Ratsschlussfolgerungen schon 2018 Vorschläge zu stärkerer sicherheitspolitischer Kooperation mit Ländern Asiens auf den Tisch legte, was damals wenig beachtet wurde. Doch alleine die Tatsache, dass die EU sich auf die Indo-Pazifik-Diskussion einlässt, kann man durchaus als Teil einer neuen Orientierung bezeichnen. Es wird spannend sein, zu sehen, ob ein entsprechendes EU-Papier nur wolkige Prinzipienerklärungen enthalten wird oder ob es sich dazu durchringen kann, konkrete Handlungsprioritäten zu identifizieren. Es wäre übrigens sehr gut möglich, die indo-pazifische Perspektive mit der erneuerungsbedürftigen Konnektivitätsstrategie der EU zu verknüpfen, und damit der Europäischen Kommission, die ja eine geopolitische sein will, ein paar Instrumente zur Verfolgung dieser Ambition an die Hand zu geben.
Ein Hotspot des Ringens um die Entwicklung und die Zukunft der Sicherheit im indo-pazifischen Raum, der immer mehr Sorgen macht, ist bis jetzt übrigens nicht mit der FOIP-Debatte verbunden. Das ist Taiwan. In den indo-pazifischen Leitlinien der Bundesregierung wird z. B. Taiwan nicht ein einziges Mal erwähnt. Das liegt ganz sicher nicht daran, dass man im Außenministerium von der Existenz dieser chinesischen Demokratie nichts wüsste, obwohl man ihre Flagge auf der eigenen Website in beschämender Weise verleugnet. Es erscheint gar nicht als nötig, die Debatte darum, wie die internationale Gemeinschaft richtig auf die stark zunehmenden Drohungen Chinas gegenüber Taiwan reagieren soll, zum Bestandteil der indo-pazifischen Diskussion zu machen. Das wäre wohl eine Überforderung. Doch bin ich sicher, dass alle an der Diskussion Beteiligten die Realität des chinesischen Vorgehens gegen Taiwan mindestens im Hinterkopf haben. Schließlich demonstriert diese, wie wichtig es ist, gegenüber einem Land, das sich schon als der kommende globale Hegemon sieht, nicht isoliert und nur auf sich selbst gestellt zu sein. Doch wäre es ein Fehler, die Indo-Pazifik-Strategie darauf zu begrenzen, ein Anti-China-Schutz-und-Trutz-Bündnis zu suchen. Überhaupt glaube ich nicht, dass eine Anti-China-Politik für sich genommen je tragfähig sein wird, so sehr es auch nottut, Chinas immer rüderem Umgang mit Nachbarn und internationalen Partnern etwas entgegenzusetzen. Aussichtsreich kann das aber nur sein im Rahmen einer Gesamtstrategie, die sich eigene positive Ziele setzt. In der Konnektivitätspolitik gibt es dazu Ansätze, weil immer mehr Akteure angesichts der Realität der chinesischen BRI-Großstrategie die schlichte Wahrheit des amerikanischen Satzes realisieren: „You can’t fight something with nothing.“ Eine erfolgreiche Indo-Pazifik-Strategie wird es deswegen dann geben, wenn es den Beteiligten gelingt, für sich selbst und alle potenziellen Partner Wege zu definieren, wie durch Gemeinsamkeit größere Erfolge bei der Verwirklichung eigener Entwicklungsziele und bei der Auseinandersetzung mit den großen globalen Herausforderungen wie etwa dem Klimawandel gelingen können. Als der damalige Verteidigungsminister Carter vor einigen Jahren beim Shangri-La-Dialogforum in Singapur sagte, die U.S.A. hätten nichts gegen den Aufstieg Chinas, solange und soweit dieser nicht den Aufstieg aller anderen Länder der Region beeinträchtige, ging das schon ein Stück weit in die richtige Richtung. China hat sich leider klar entschieden, seinen Aufstieg, bei dem man das schmückende Adjektiv friedlich inzwischen aus praktischen Gründen gestrichen hat, zulasten mindestens der Länder der eigenen Region aber auch darüber hinaus voranzutreiben. Umso mehr kommt es darauf an, konkrete Politiken zu entwickeln und diese strategisch zu integrieren, mit denen diejenigen, die von China enttäuscht werden, sich gegenseitig stärken können. Ein Platz für die Mitarbeit eines konstruktiven China sollte dabei immer mitgedacht werden, auch wenn darauf für die absehbare Zukunft wenig zu rechnen ist.
Es ist gut, dass die EU anfängt, sich an der FOIP-Debatte zu beteiligen. Sie trägt damit der Asien-Zentralität in der Politik des 21. Jahrhunderts Rechnung. Sie bringt aber auch zum Ausdruck, dass sie sich nicht auf die Schattenrolle einer eurasischen Randregion zurückziehen, sondern die Entwicklung der internationalen Beziehungen aktiv mitgestalten will. Natürlich muss das dann auch noch praktisch gelingen, aber die Richtung stimmt.
Sonst noch
- Am 12.4. veranstalte ich eine Online-Diskussion zum Thema „Transatlantic Cooperation on Connectivity Strategy“. Hier könnt Ihr Euch anmelden und findet zudem weitere Informationen.
- Am 14.4. spreche ich bei der Online-Veranstaltung „New Direction of EU Trade Policy“ des „European Forum for Manufacturing“.
- Am 15.4. nehme ich an der Online-Diskussion der Evangelischen Akademie Bad Boll zum Thema „Afrika, China und Europa: zwischen Abhängigkeit, Konkurrenz und Kooperation“ teil. Hier gibt es weitere Informationen und einen Link zur Anmeldung.
- Zum Investitionsabkommen zwischen der EU und China habe ich eine Studie beim polnischen Thinktank PISM in Auftrag gegeben, der eine erste Analyse der Vereinbarung erstellt hat. Diese stellen wir am 19.4. in einer Online-Veranstaltung vor.
- Ebenfalls am 19.4. veranstalte ich eine Online-Diskussion zum Thema „Kreislaufwirtschaft – Wie geht das?“ Hier findet Ihr weitere Informationen sowie einen Link zur Anmeldung. Ich freue mich auf Eure Teilnahme.