Europas Haltung gegenüber Taiwan war, solange ich mich erinnern kann, kein relevantes Thema unserer Außenpolitik. In den 70er Jahren hatten, in der Folge einer strategischen Wende in der amerikanischen China-Politik, zahlreiche europäische Länder nacheinander die Volksrepublik China anerkannt und daraufhin keine formellen diplomatischen Beziehungen mehr zu Taiwan unterhalten. Deutschland vollzog die Wende 1972 und die EU 1975. Daraufhin verschwand Taiwan weitgehend vom Horizont unseres politischen Interesses. Taiwan war zu dem Zeitpunkt auch kein politisch besonders attraktives Land. Die Kuomintang beherrschte die Insel mit unterdrückerischer Gewalt, so wie sie das seit der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunistische Partei 1949 getan hatte. General Chiang Kai-shek verstarb 1975 im Präsidentenamt. Dass Taiwan dann viel später sich auf den Weg machte, eine Demokratie zu werden, wurde freundlich, aber ohne große Emotionen zur Kenntnis genommen. Wie wenig diese Entwicklung im Bewusstsein der Europäer verankert ist, zeigte sich noch vor kurzem, als im Mai der ehemalige Präsident Lee Teng-hui verstarb, der große Verdienste um den Übergang zur Demokratie zwischen 1990 und 2000 hatte. Sein Tod wurde in Europa kaum wahrgenommen. Seit 2000 regierte dann für zwei Amtsperioden Präsident Chen Shui-bian von der Demokratischen Fortschrittspartei, die, anders als die Kuomintang, die Eigenständigkeit Taiwans betonte, ohne allerdings die formelle Unabhängigkeit Taiwans auszurufen. Damit ist übrigens ein zentrales Thema angesprochen, von dem noch die Rede sein wird. Präsident Chen wurde beerbt von Präsident Ma Ying-jeou, wieder von der Kuomintang, der die Verbindungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik enorm intensivierte. Und seit 2016 ist Tsai Ing-wen Präsidentin, im Mai wiedergewählt mit der höchsten Stimmenzahl, die je ein Präsidentschaftskandidat in direkter Volkswahl, die es seit 1996 gibt, erreichte. Die Beziehungen zwischen Taipei und Beijing sind allerdings seit dem Antritt von Präsidentin Tsai fortlaufend schlechter geworden.
Gegenwärtig wächst die Aufmerksamkeit für Taiwan und die sogenannte Taiwan-Frage bekommt neue Aktualität und Dramatik. Die Dramatik geht vom Festland aus. Die Führung der Volksrepublik und insbesondere Xi Jinping persönlich haben es sich erklärtermaßen zum Ziel gesetzt, Taiwan in absehbarer Zeit, jedenfalls noch in der Amtszeit von Xi Jinping, mit dem Rest der Volksrepublik zu vereinen. Beijing hatte noch nie formell darauf verzichtet, diese Vereinigung im Zweifel mit militärischer Gewalt zu erzwingen. Jahrzehntelang aber spielte diese Option allenfalls eine hypothetische Rolle. Die Volksrepublik setzte darauf, Taiwan auf friedlichem Wege wiedergewinnen zu können. Dafür war eigentlich von Deng Xiaoping vor mehr als 30 Jahren die Formel „Ein Land, zwei Systeme“ erfunden worden, die dann bei der Übergabe Hongkongs an China durch Großbritannien zunächst einmal auf diese Stadt angewendet wurde.
„Ein Land, zwei Systeme“ heißt, beide Teile sind Teil des einen China, aber sie haben unterschiedliche politische, juristische, ökonomische und soziale Systeme. Hongkong sollte zeigen, dass das funktioniert, und damit den Weg bahnen auch für Taiwan. Insbesondere in der Amtszeit von Präsident Ma, 2008 bis 2016, versuchte China zudem, Taiwan durch ökonomische Integration stärker einzubinden und so dem Wiedervereinigungsgedanken durch mehr oder weniger sanften, aber stetigen und wirksamen Druck nachzuhelfen. Es war die Sorge, dass im Rahmen dieser Politik Taiwan das tatsächlich erreichte Maß an demokratischer Selbstbestimmung wieder verlieren könnte, die zum Scheitern der Präsidentschaft von Ma Ying-jeou durch große Proteste vor allem der Jugend führte und Tsai Ing-wen den Weg ebnete.
Die schnelle Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Insel und dem Festland war seitens des Festlandes mindestens zum Teil der Enttäuschung geschuldet, dass das Setzen auf Präsident Ma, der sogar Xi Jinping hatte treffen dürfen, sich als Fehlinvestition erwiesen hatte. Ein kleiner, aber bedeutungsvoller Schritt von Taiwans neuer Präsidentin führte dann dazu, dass die Enttäuschung sich ziemlich fix in eine massive Schlechtwetterperiode verwandelte. Zwischen der Kuomintang und der KP Chinas hatte es aus dem Jahr 1992 einen schwer verständlichen Formelkompromiss zur Beschreibung des Verhältnisses beider Seiten gegeben, der als Konsens von 1992 bekannt geworden war. Darin hielten beide Seiten fest, dass es nur ein China gebe, dass sie sich aber nicht einig seien, was das konkret für das Verhältnis von Taipei und Beijing bedeutet. Während die Kuomintang fürderhin davon sprach, dass es keine Einigkeit gebe, welche Seite das wahre China repräsentiere, machte sich Beijing diese Interpretation nie zu eigen, sondern bestand immer darauf, das einzig wahre China sei die Volksrepublik und Taiwan nur eine abtrünnige Provinz derselben. Doch Beijing duldete, dass die Führung Taiwans ihre eigene Interpretation vor sich hertrug wie eine tibetanische Gebetsmühle. Wie es bei Formelkompromissen so üblich ist, verbinden sie oft eine situativ-entspannende Wirkung mit der Schaffung oder einfach nur langfristiger Verschiebung schwer zu lösender Probleme. Beijing sagte quasi: „Der Konsens von 1992 bedeutet: Wir sind China, aber lass sie reden; das wird sich schon erweisen.“ Taipei sagte: „Nein, der Konsens bedeutet: Wir sind uns nicht einig, wer China ist. Schließlich ist unser offizieller Staatsname Republik China in der Tradition, aus der wir stammen. Aber wir bestehen nicht darauf, dass das in absehbarer Zeit ausgefochten wird. Wir können warten.“ Tsai Ing-wen weigerte sich nun zu Beginn ihrer Amtszeit, sich explizit zu diesem Konsens von 1992, der ja alles andere als ein Konsens war, erneut zu bekennen. Beijing erklärte sie daraufhin zur Separatistin, die mit allen Mitteln bekämpft werden müsste. Beijing hörte eben auch, dass es in Tsai Ing-wens Partei durchaus Stimmen gab, wenn auch deutlich in der Minderheit, die für eine Absage an die Ein-China-Rhetorik und für eine formelle Unabhängigkeitserklärung Taiwans plädierte.
Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen beiden Seiten der Straße von Taiwan schlug sich in chinesischem Tourismusboykott gegen Taiwan nieder; in der Abwerbung hoch qualifizierter junger taiwanischer Akademiker; in der Abwerbung zahlreicher bis dahin noch Taiwan die Treue haltender diplomatischer Partner; und in zunehmendem militärischem Druck. Beijing ging also auf vielfältige Weise daran, den Status quo zu destabilisieren. Eine neue Stufe erreichte diese Politik, als Xi Jinping zu Beginn des Jahres 2019 Taiwan prononciert mit militärischer Eroberung drohte. Militaristische Rhetorik gegenüber Taiwan gehört seither als selbstverständlicher Bestandteil zu Chinas Propaganda. Bei der diesjährigen Sitzung des Nationalen Volkskongresses in Beijing setzte Ministerpräsident Li Keqiang ein Signal, indem er in Bezug auf die „Wiedervereinigung“ mit Taiwan das bis dahin regelmäßig verwendete Adjektiv friedlich aussparte. Und den rhetorischen Vogel schoss kürzlich Chinas Botschafter in Paris ab, der in einer Erklärung formulierte, da Taiwan ja eine Provinz Chinas sei, habe die Volksrepublik jedes Recht, z. B. ihre Luftwaffe über die Insel fliegen zu lassen. Das ist zwar noch nicht vorgekommen, aber die Hardliner bereiten schon mal die Beobachter auf weitere Eskalationsschritte vor. So wurde z. B. auch vor einigen Monaten kolportiert, China plane, eine von Taiwan verwaltete kleine Insel, die nah am Festland liegt, durch eine große Brücke oder einen Damm für die Volksrepublik zu erschließen.
In dieser Situation kann meines Erachtens Europa nicht einfach weiter wegschauen. Der Status quo hieß bisher in der Substanz: keine militärische Aggression, keine taiwanesische Unabhängigkeit. Heute legt Beijing nahe, um an das Zweite zu erinnern, müsse man sich wohl auf das Erste einlassen. Sicherheitsanalytiker nehmen die Drohungen ernst, auch wenn sie unterschiedlicher Meinung sind, ob so etwas möglicherweise schon Ende dieses Jahres drohen könnte, falls es in den USA wegen eines chaotischen Präsidentschaftswechsels zur außenpolitischen Handlungsunfähigkeit käme, oder ob mit militärischen Eroberungsversuchen für die nächsten fünf Jahre jedenfalls nicht zu rechnen sei. Von den militärischen Kapazitäten her ist die Volksrepublik eindeutig überlegen, wiewohl eine militärische Eroberung Taiwans die größte amphibische Operation der Weltgeschichte erfordern würde. Wiederum sind die Meinungen geteilt, ob für einen solchen schlimmsten Fall Taiwans Verteidigung lange genug aushalten könnte, bis die USA den seit langem versprochen militärischen Schutz bieten und ihre Flotte schicken, oder ob die USA überhaupt kommen würden. Allein dass über solche Fragen derzeit ernsthaft diskutiert wird, zeigt, wie weit die Abkehr von einer friedlichen Orientierung und die Eskalation bereits gediehen sind. Käme es zu einer solchen Zuspitzung, hätte das in jedem denkbaren Fall dramatische weltweite Konsequenzen. Eine Eroberung Taiwans unter Ausnutzung von Hilflosigkeit oder Willenlosigkeit der USA hätte extrem weitreichende Folgerungen für die globale Sicherheitslage. Und ein Eroberungsversuch, der im militärischen Konflikt zwischen China und den USA endete, wäre ein absoluter Albtraum für all diejenigen, die sich nicht dem Risiko ausgesetzt sehen wollen, dass das erste Drittel des 21. Jahrhunderts zum Ende der Geschichte wird, wie wir sie kennen. Europa, um das klar zu sagen, kann in der Taiwan-Frage keine militärische Rolle spielen und soll es auch nicht.
Trotzdem kann uns die Eskalation, die wir beobachten, nicht unberührt lassen. Deshalb habe ich zusammen mit einigen Leuten aus Thinktanks und aus dem Europäischen Parlament im Handelsblatt, in der Le Monde und in der tschechischen Internet-Tageszeitung aktualne.cz einen Gastbeitrag publiziert, in dem wir uns für eine neue Taiwan-Politik Europas aussprechen. Der Grundgedanke ist ein dialektischer: Wir halten den Status quo – keine Aggression, keine Unabhängigkeit – auf absehbare Zeit für die beste denkbare Nicht-Lösung des Konflikts. Lösungen, die besser wären, stehen nicht zur Verfügung. Weil aber die Volksrepublik den Status quo immer stärker untergräbt, muss man Taiwan stärken durch bessere Zusammenarbeit, um eine Chance auf die Rückkehr zu der Status quo-Perspektive nicht zu verspielen. Dazu haben wir Vorschläge gemacht.
Eine quasi offizielle Reaktion von Pekinger Seite gab es bisher nur von der Chinesischen Botschaft in Paris. Die sprach von „unerträglichen Meinungen“ und tobte, wie chinesische Diplomaten es immer öfter tun, wenn man sich traut, ihre Perspektiven in Zweifel zu ziehen. Ob es gelingen kann, eine breitere Debatte zur Taiwan-Politik auszulösen, steht dahin. Jedenfalls kann Europa nicht erwarten, dass die Probleme nicht überkochen, nur weil wir es möglicherweise vorziehen, die Augen zu schließen.
Sonst noch
- Traditionell berichte ich in meinen Plenarnotizen über die Plenarsitzungen in der vergangenen Woche, erneut aus Brüssel. Thema der Woche war die Rede zur Lage der EU von Kommissionspräsidentin von der Leyen.
- Ich habe zwei Pressemitteilungen zur Rede von Frau von der Leyen zur Lage der EU verfasst, im Vorfeld und im Anschluss.
- Meinen Redebeitrag zu Belarus während der Plenardebatte könnt Ihr Euch hier anschauen.
- „Wir sind der chinesischen Rhetorik müde“ – mein Interview mit der Stuttgarter Zeitung.
- Gemeinsam mit über 60 Kolleg*innen des Europäischen Parlaments habe ich im Vorfeld des Videogipfels von Präsident Michel, Präsidentin von der Leyen und Kanzlerin Merkel sowie Parteichef Xi Jinping einen Brief von Raphaël Glucksmann (S&D) unterzeichnet: The EU must meaningfully address China’s Human Rights atrocities at the EU-China Summit and take strong action. Meine Pressemitteilung zum Videogipfel könnt Ihr hier nachlesen.
- Am 11.9. habe ich mit dem Diplomaten András Simonyi über die Krise in Belarus, die EU-China-Beziehungen, Energie und Klima und die transatlantischen Beziehungen gesprochen. Eine Aufzeichnung davon gibt es hier.
- Am 15.09. habe ich im Rahmen einer Online-Diskussion mit Fraser Cameron, Direktor des EU-Asia Centre in Brüssel, über den EU-China-Videogipfel gesprochen. Hier die Aufzeichnung.
- Beim Landesparteirat der Grünen Thüringen am vergangenen Wochenende sind wir wieder einen Schritt weitergekommen. Einstimmig wurde der Antrag „Gemeinsam, fokussiert, entschlossen für Thüringen – Bündnisgrün!“ verabschiedet. Damit steht fest: Anders als 2019 wird der Landesverband bei der Landtagswahl 2021 eine einzelne Spitzenkandidatin haben, und drumherum ein Team. Auch ich habe beim Landesparteirat gesprochen.
- Am 30.9. diskutiere ich von 18 bis 19 Uhr mit Dr. Janka Oertel (ECFR), Dr. Angela Stanzel (SWP) und Dr. Stefan Mair (BDI) online über Grüne Außen-, Außenhandels- und Sicherheitspolitik. Weitere Informationen sowie ein Link zur Anmeldung sind hier zu finden.