Zu Präsidentin von der Leyens erster Rede zur Lage der Europäischen Union erklärt Reinhard Bütikofer, außenpolitischer Koordinator der Grünen/EFA-Fraktion:
„Die von der Leyen-Kommission, angetreten mit einem geopolitischen Anspruch, hat bisher keine geopolitische Strategie. Frau von der Leyen reihte im hinteren Teil ihrer Rede zahlreiche außenpolitische Themen aneinander, aber daraus ergab sich keine stringente Linie; es war ein mehr oder weniger überzeugendes Abhaken zahlreicher Herausforderungen. Die Prominenz, mit der unterschiedliche Partner und Gegner-Partner angesprochen wurden, entsprach keiner inneren Logik, sondern folgte einfach der aktuellen Dringlichkeit des jeweiligen Themas. In Afrika brennt es derzeit offenbar aus Sicht von der Leyens weniger dramatisch, also kam Afrika unter ferner liefen noch vor. Positiv werte ich, dass dem Bekenntnis zu einer deutlich aktiveren Politik der EU gegenüber dem westlichen Balkan Gewicht gegeben wurde.
Grundlegende Bekenntnisse wie das zur Erneuerung des Multilateralismus blieben entweder unkonkret oder sprachen von einer ganz unrealistischen Einschätzung der europäischen Möglichkeiten. Zum Beispiel ist es schwer vorstellbar, dass die EU tatsächlich gleichzeitig für die Reform der WHO und die Reform der WTO die internationale Führung übernimmt. Eine Führungsrolle der EU zu konstatieren oder zu propagieren, erschien in der Rede geradezu als ideale Ausflucht, wenn von der Leyen sich scheute, die schwierige Aufgabe der Positionierung der EU angesichts des hegemonialen Wettlaufs zweier Supermächte, angesichts einer Welle des Autoritarismus und Nationalismus, einleuchtend strategisch zu beschreiben.
Bisweilen sprach von der Leyen in Rätseln, so etwa wenn sie sagte „eine Pipeline“ ändere nichts am üblen Charakter des russischen Regimes. Damit war Nord Stream 2 abgehakt, aber niemand weiß, was gesagt ist. Ähnlich dubios äußerte sie sich bei der Frage der Seenotrettung im Mittelmeer. „Seenotrettung ist nicht optional“, verkündete die Präsidentin. Heißt das nun, was richtig wäre, dass die EU eine neue Seenotrettung beginnt? Dass die EU private Seenotrettung besser unterstützt?
Von der Leyens Bekenntnis zu den transatlantischen Beziehungen hatte fast lyrische Qualität und konnte jedem, der diese Beziehung für einen Eckpfeiler der Europäischen Außenpolitik hält, einigermaßen gefallen. Doch mit der Lyrik wurde die erforderlich nüchterne Auseinandersetzung mit diesem Verhältnis einfach übertüncht. Es gab mehrfach Spitzen gegen Trump. Die waren so gesetzt, als sollten sie eben denen zu gefallen sein, die mit der mangelnden Klarheit des Kurses gegenüber den USA Probleme hatten. Deutliche Worte gab es erfreulicherweise gegenüber der Volksrepublik China. Angesprochen wurde die systemische Rivalität, ebenso wie Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang oder Hongkong. Fest versprochen ist, dass endlich ein europäischer Menschenrechtssanktionsmechanismus zustande kommt. Das wäre wirklicher Fortschritt.
Die Europäische Konnektivitässtrategie, eigentlich ein zentrales geopolitisches Instrument, das dringend operational gemacht und ausgeweitete werden müsste, kam bei Frau von der Leyen wieder einmal gar nicht vor. Auch zur EU-Handelspolitik blieb die Rede erstaunlich unprofiliert. Vielleicht liegt es ja daran, dass ihr gerade der Handelskommissar abhandengekommen war. Das Mercosur-Abkommen fand jedenfalls nicht die Gnade der Erwähnung. Schon gar nicht gab es den Versuch, eines Ansatzes für die Integration von Außenpolitik, Außenhandelspolitik, Konnektivitätspolitik, Menschenrechtspolitik, Sicherheitspolitik, Klimapolitik, Technologiepolitik zu einer kohärenten geopolitischen Strategie. Die Handwerkelei geht also einstweilen weiter.”