In über 250 Städten der USA gibt es, während dieser Text entsteht, Proteste gegen den Mord an einem 46-jährigen Schwarzen durch Polizisten in Minnesota. In mehr als der Hälfte der US-Staaten haben die jeweiligen Gouverneure die Nationalgarde aufgeboten. Und US-Verteidigungsminister Esper macht Schlagzeilen, weil er öffentlich erklärt, dass er den Einsatz des US-Militärs im Inneren in dieser Situation nicht für gerechtfertigt halte, obwohl sein Präsident, Donald Trump, genau damit gedroht hatte. Die Situation in den USA ist außer Rand und Band.
Während sich zwei voneinander unabhängige Obduktionsberichte noch darum streiten, ob das Mordopfer, George Floyd, erstickt oder an Herzproblemen gestorben sei, sind sie sich einig, dass der Tod durch die brutale Gewalt verursacht wurde, die vier Polizisten gegen George Floyd ausübten. Dokumentiert wurde die unfassbare Polizeigewalt durch das Video einer Passantin. Das Video zeigt, wie einer der Polizisten, ein Mann, gegen den es schon oft Beschwerden wegen seiner Brutalität gegeben hatte, neun Minuten auf dem Hals des festgenommenen Floyd kniete, ohne jegliches Erbarmen. Es nützte Floyd nichts, dass er um sein Leben flehte. Zwei weitere Polizisten saßen auf dem Rücken des Opfers, während der vierte mit Pfefferspray Beobachter der Szene daran hinderte, sich einzumischen.
Der Mord an George Floyd wurde umgehend zum Fanal für das ganze Land. Trotz vielfacher Ausgangssperren ist es nächtelang immer wieder zu heftigen Protesten und auch zu Ausschreitungen gekommen. Angeblich seien das, so konnte man lesen, die schlimmsten Unruhen seit 1967, seit mehr als 50 Jahren. Dabei protestieren nicht nur Schwarze. Der Protest ist so vielfältig, wie die USA nun einmal sind. Die Kraft dieser Protestwelle erwächst natürlich nicht nur aus dem brutalen Vorgehen der Polizei in Minneapolis. Zwei viel generellere Faktoren spielen eine zentrale Rolle. Zum einen ist der Fall George Floyd einfach nur einer in einer sehr langen Kette von Fällen, in denen unbewaffnete schwarze Männer und Frauen von rassistischen Polizisten oder weißen Nachbarschafts-Vigilanten getötet wurden. Fast immer gab es einen Aufschrei. Es entstand sogar die Bewegung „Black Lives Matter“. Es gab mahnende Worte, öffentlich artikulierte Solidarität, Appelle an die Bereitschaft, dem besseren Amerika Vorrang einzuräumen – und dann keine strukturellen Konsequenzen. Mich erinnert die routinierte Art, mit der da getrauert wurde, an unseren Umgang in Deutschland mit rechtsradikalen, fremdenfeindlichen Gewalttaten. Auch bei uns werden diese Gewalttaten vorzugsweise als eine endlose Liste von Einzelfällen rezitiert. Der systemische Charakter des Problems bleibt dabei allerdings außer Betracht. So, glaube ich, auch in den USA. Die systemische Durchdringung der amerikanischen Gesellschaft mit einem brutalen Rassismus wird zu einem wichtigen Thema für die Mainstream-Medien erst jetzt, wo eine landesweite Rebellion demonstriert, dass es nicht um Einzelfälle geht. Doch ist diese weite Entwicklung des öffentlichen Bewusstseins ausreichend, um wirkliche Reformen anzustoßen, die eine Chance haben, durchgreifende Wirkung zu erzielen?
Der zweite Faktor, der die US-amerikanische Protestbewegung auflodern lässt, heißt Donald Trump. Trumps politisches Geschäftsmodell ist seit jeher geprägt von dem Willen, jeden politischen Konflikt nach Möglichkeit durch seine Verschärfung auszuschlachten. Trump ist nicht ausnahmsweise ein Hetzer, sondern das ist seine DNA. Er ist einer, der die alte zynische römische Sentenz „divide et impera“, teile und herrsche, zur rücksichtslosen Perfektion gebracht hat. Damit hat er das amerikanische politische System, das auf dem Prinzip der Balance von Macht und Gegenmacht gründet, bis an die Grenze der Funktionsunfähigkeit getrieben. Er verweigert Kooperation und Konsens, ohne die die politische Verfassung der USA nicht funktionieren kann, nicht aus Gründen, sondern aus Prinzip. Mit der Unbedingtheit seines Herrschaftswillens hat er schon viele institutionelle Garantien gegen autokratische Machtansammlung massiv untergraben, wenn nicht ganz über den Haufen geworfen. Trump predigt den geistigen Bürgerkrieg und seine Worte und sein Verhalten bieten keinerlei Gewähr dafür, dass er davor zurückschrecken würde, der hasserfüllten Rede die hasserfüllte Tat nachfolgen zu lassen. Trump hat in der aktuellen Protestwelle ein ihm passendes Thema zum Spalten und Aufhetzen entdeckt und er kennt dann eben kein Halten. So zitiert er nicht zufällig in einem seiner ersten aufreizenden Tweets einen rassistischen Südstaaten-Polizeichef aus dem Jahr 1967, der damals mit Wollust an der Gewalt den Satz prägte: „When the looting starts, the shooting starts.“ Trump provoziert systematisch und nicht nur mit Worten. Der Eskalation diente etwa sein zynischer Stunt, als er Sicherheitskräfte dazu brachte, ihm den Weg freizuräumen, damit er vom Weißen Haus aus einen demonstrativen Besuch in der kleinen St. John‘s-Kirche auf der gegenüberliegenden Seite des Lafayette Square inszenieren konnte. Der Geistliche einer Episcopal Church in Arizona, Robert Hendrickson, schrieb dazu: „This is an awful man, waving a book he hasn’t read, in front of a church he doesn’t attend, invoking laws he doesn’t understand, against fellow Americans he sees as enemies, wielding a military he dodged serving, to protect power he gained via accepting foreign interference, exploiting fear and anger he loves to stoke, after failing to address a pandemic he was warned about, and building it all on a bed of constant lies and childish inanity.”
Trumps Vorgehen ist nicht „verrückt“. Es ist bedacht, kalkuliert. Er will Konfrontation, weil nur in dieser sein Weizen blühen kann. Und den Protest, der ohnehin schon mächtig ist, heizt er bewusst an, um die Krise zu verschärfen. Trump verfolgt dabei zwei taktische Ziele. Zum einen erneuert und vertieft er durch die Konfrontation die Loyalität seiner glühenden Anhänger. Und Trump weiß, dass in einem politischen Kampf die Entschlossenheit, der Fanatismus, die Inbrunst der eigenen Anhänger wichtiger sein kann als die Frage, ob diese die Mehrheit bilden. Zum anderen will Trump das Lager seiner Gegner dadurch spalten, dass er es in zwei Abteilungen zertrennt: diejenigen, die aus Verzweiflung, Wut, weil sie glauben, dass sie nichts zu verlieren haben, ebenfalls bereit sind, extrem zu agieren, und dann diejenigen, die, weil sie an die amerikanische Tradition des demokratischen Ausgleichs durch Machtteilung glauben, vor solcher Härte zurückschrecken. Wenn Trump von letzteren nur einen Teil immobilisieren kann und gleichzeitig seine eigenen Anhänger maximal mobilisiert, dann kann er im November gut gewinnen. Denn er muss, um erneut Präsident zu werden, gar nicht im ganzen Land erfolgreich werben, sondern nur in den sechs sogenannten Battleground States, in denen heute noch nicht klar ist, ob der Demokrat oder der Republikaner im Electoral College auf deren Stimmen zählen kann: Arizona, Florida, North Carolina, Pennsylvania, Wisconsin, Michigan. Wenn Trumps Manöver gelingt, sieht die Zukunft der ehrwürdigsten Demokratie der Welt düster aus.
Was machen eigentlich die Demokraten? Manche demonstrieren mit, wie z. B. Elizabeth Warren, die progressive Senatorin aus Massachusetts. Manche grämen sich, weil sie ihre Karriere darauf gebaut haben, auch als Vertreter der demokratischen Partei „Tough on Crime“ zu sein. Eine dritte Gruppe, zu der z. B. die Chefin des demokratischen Thinktanks Center for American Progress gehört, appelliert daran, dass auch die Republikaner und ihr Präsident zu der gewohnten Zivilität zurückkehren sollten, was in seiner Hilflosigkeit besonders absurd erscheint. Manche strategisch klugen Aktivisten, die sich mit dem Protest voll identifizieren, aber die Gewalt klar ablehnen, versuchen, den Zorn in eine radikale Mobilisierung zur Beteiligung an den Wahlen im November zu transformieren, eigentlich ganz ähnlich, wie das der Hongkonger Demokratiebewegung bei den Bezirkswahlen im Dezember 2019 gelungen ist. Eine wunderbare Rede hielt in diesem Sinne in Atlanta, Georgia, der Aktivist „Killer Mike“, die hier zu finden ist. Was ich noch nicht deutlich sehen kann, ist, dass sich so etwas wie ein politisches Programm gegen den strukturellen Rassismus herausbildet, das sich eben nicht auf den Kampf gegen Polizeigewalt und andere rassistische Gewalt beschränkt, sondern die sozialen, ökonomischen und kulturellen Prioritäten identifiziert, die realisiert werden müssen, um die Strukturen zu zerbrechen, aus denen der Rassismus immer wieder hervorwächst. Das ist die Aufgabe, die vor Joe Biden liegt. Wir können nur darauf setzen, dass er ihr gewachsen ist.
Zum ersten und letzten Mal war 1876/77, unmittelbar nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, in einem zutiefst zerrissenen Land, noch wenige Tage vor der routinemäßigen Vereidigung des neuen Präsidenten unklar, welcher der zwei Präsidentschaftsbewerber, Rutherford B. Hayes und Samuel J. Tilden, die im Electoral College nur um eine Stimme auseinanderlagen, vereidigt würde oder ob vielleicht sogar zwei Vereidigungen parallel stattfinden würden. Erst zwei Tage vor der Inauguration wurde ein Ausweg ausgehandelt, dessen wesentlicher Bestandteil das Zugeständnis der Republikaner war, dass die Demokraten, damals die Partei der Sklaverei, in den Südstaaten die Macht wieder an sich reißen und die schwarze Bevölkerung bis zur Bürgerrechtsbewegung fast 100 Jahre später weitgehend vom politischen Leben ausschließen durften. Als „Compromise of 1877“ ist das in die Geschichtsbücher eingegangen. Heute, so sagen viele, sei die US-amerikanische Gesellschaft tiefer gespalten als jemals seit jenem Jahr. Präsident Trump hat mehrfach überdeutlich gemacht, dass er eine Wahlniederlage als Wahlbetrug interpretieren würde. Hoffen wir, dass sich die amerikanische Geschichte da nicht wiederholt, diesmal als Tragödie, die die ganze Welt in Mitleidenschaft ziehen würde.
Sonst noch
- Die freie Meinungsäußerung soll unterdrückt werden – mein Interview mit dem Deutschlandfunk zum sogenannten chinesischen Sicherheitsgesetz für Hongkong.
- Am 4.6.. spreche ich beim Webinar „Europe and China after Covid-19: Where is the relationship headed?“ der Heinrich Böll Stiftung und des European Council on Foreign Relations.
- In der Zeit vom 10. bis 13.6. findet der 31. Council der Europäischen Grünen Partei statt: a resilient future is a Green future. Der Council findet erstmals digital statt. Weitere Informationen sowie die Möglichkeit zur Anmeldung findet Ihr hier.
- Libyen: Berlin muss endlich wieder aktiv werden – meine Pressemitteilung zusammen mit Omid Nouripour, Sprecher für Außenpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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