#163 EU-China-Beziehungen im Wandel | BÜTIS WOCHE

Das Jahr 2020 sollte, so war der Plan, zu einem ganz besonderen Jahr für die europäisch-chinesischen Beziehungen werden. Drei oder sogar vier Gipfeltreffen sollte es geben, mit einem Stelldichein aller 27 EU-Staats- und Regierungschefs einerseits und Xi Jinpings andererseits Mitte September in Leipzig. Die Weiterentwicklung der europäisch-chinesischen Beziehungen sollte ein Hauptthema der deutschen rotierenden Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte werden. Das seit 2013 mühsam verhandelte Investitionsabkommen zwischen der EU und China wollte Bundeskanzlerin Merkel dabei endlich über die Ziellinie tragen.

Es wird ein ganz besonderes Jahr der EU-China-Beziehungen, aber anders als erwartet. Der normale EU-China-Gipfel fand schon nicht statt. Das 17+1-Treffen des chinesischen Staatspräsidenten mit seinen Kolleg*innen aus ost- und südosteuropäischen Ländern ist abgesagt. Ob das „Leaders Meeting“ in Leipzig noch stattfindet, kann niemand sagen, aber die Wahrscheinlichkeit sinkt. Die Verhandlungen zum Investitionsabkommen stocken nach wie vor. Die durch die Corona-Krise erschwerten Kommunikationsbedingungen machen einen Durchbruch nicht leichter. Beijings Bereitschaft, der EU substanziell entgegenzukommen, steht sehr infrage. Andere Themen, die die positiven Möglichkeiten europäisch-chinesischer Kooperation hätten demonstrieren sollen, lassen derzeit auch wenig Optimismus zu. So scheint China nicht bereit zu sein, durch eine deutliche Steigerung der nationalen Ambitionen im Kampf gegen den Klimawandel das von der EU dringlich erhoffte Zukunftszeichen zu setzen. Die Probleme, die sich da zeigen, sind nicht Corona-bedingt, wenn auch durch die Corona-Krise verschärft. Doch hat die Corona-Krise in einer Geschwindigkeit und Dramatik, die ich nicht erwartet hätte, zu einer massiven Verschlechterung der europäisch-chinesischen Beziehungen geführt. Die Liste der europäischen Spitzenpolitiker*innen, die sich in den letzten Wochen deutlich kritischer als früher gegenüber China geäußert haben, ist lang. Sie fängt mit Präsident Macron, Kanzlerin Merkel und dem britischen Außenminister Dominic Raab an und hört mit Ursula von der Leyen, Margrethe Vestager, Josep Borrell und Phil Hogan noch lange nicht auf. Chinas Führung versuchte in den letzten Monaten, die Corona-Krise auszunutzen, um Xi Jinpings internationalen Führungsanspruch massiv auszubauen. Dabei hat sie sich, wie es aussieht, ins eigene Knie geschossen.

Was alles zu der Stimmungsverschlechterung in Europa beitrug, obwohl es anfangs so aussah, als könne Beijing mit seiner Gesichtsmasken-Diplomatie Boden gutmachen, ist inzwischen in vielen Zeitungsartikeln thematisiert worden. Hier ist ein Artikel von Bloomberg, der einen guten Überblick gibt. Ich hatte auch vor zwei Wochen schon einmal bei ChinaFile etwas publiziert, das man hier findet. (Der Beitrag war Teil einer sehr lesenswerten Sammlung von kurzen Artikeln verschiedener China-Experten.) Deshalb will ich an dieser Stelle die verschiedenen Elemente der stattfindenden Entfremdung, die ja durchaus auf eine zuvor schon deutlich kritischere Stimmung gegenüber China aufbaut („systemic rival“), nicht noch einmal auswalzen. Ich will vielmehr die Frage stellen, was sich daraus für die China-Politik der EU und auch die Deutschlands eventuell ergibt.

Das kritische Überdenken der Handelspolitik gegenüber China muss vertieft werden. Ein neues Antidumping-Instrument gibt es seit 2016. Der Schutz kritischer Infrastruktur gegenüber Direktinvestitionen aus Drittländern, die Sicherheit und öffentliche Ordnung negativ berühren würden, wird EU-weit und in vielen einzelnen Ländern verstärkt. Jetzt will sogar das skeptische Schweden einen Zahn zulegen. Die Neugestaltung der EU-Regeln für öffentliche Ausschreibungen mit dem Ziel der Durchsetzung fairerer Wettbewerbsbedingungen wird von Kommission, Rat und Parlament in einem dritten Anlauf neu angepackt. Ich werbe auch darum, interessanterweise ganz ähnlich wie BDI und BusinessEurope, dass neue Regeln gegen unfaire Subventionen durchgesetzt werden. Aber dabei werden wir nicht stehenbleiben können. Die Erfahrung der Corona-Krise zeigt, wie gefährlich es werden kann, wenn man, wie wir Europäer, faktisch in wesentlichen Bereichen der eigenen Sicherheit weitgehend von der chinesischen Wirtschaft abhängig ist. Das wird nicht nur auf die 5G-Debatte Auswirkungen haben. Es wird auch in der EU Überlegungen hervorbringen, wie sie in Japan und Australien schon umgesetzt werden: Dort unterstützen die Regierungen Unternehmen dabei, ihre einseitige Ausrichtung auf China zu verringern. Mehr und mehr gebe es in der europäischen Wirtschaft das Bedürfnis, „die Eier in verschiedene Körbe zu verteilen“, hat kürzlich der Präsident der europäischen Handelskammer in Beijing, Jörg Wuttke, gesagt. Wir werden uns auch endlich dem Thema der Durchsetzung von Menschenrechten in den Wertschöpfungsnetzwerken europäischer Unternehmen widmen müssen. Eine Publikation des australischen ASPI-Thinktanks hat unlängst dargelegt, dass Dutzende europäische Brands in ihren Zulieferketten von uigurischer Zwangsarbeit profitieren. Solche Produkte dürfen nicht auf den europäischen Markt. Die EU wird auch mit Blick auf Chinas Belt and Road Strategie noch konsequenter darauf beharren müssen, dass, wie China mehrfach versprochen, aber noch nie realisiert hat, für Investitionen in diesem Rahmen vernünftige Standards gelten. Die Forcierung der eigenen Konnektivitätsstrategie der Europäischen Union im Rahmen des nächsten EU-Haushaltes ist in dem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Auch werden wir genauer hinsehen müssen, wie die Forschungszusammenarbeit mit China dem Umstand Rechnung tragen kann, dass dort mit hoher Priorität die zivil-militärische Integration von Technologieentwicklung vorangetrieben wird. Die Vorstellung, dass europäischer Technologietransfer dazu beiträgt, das militärische Potenzial Chinas zu erhöhen, ist im Moment nicht von der Hand zu weisen.

China hat im letzten Jahr gegenüber der EU wie gegenüber dem Westen insgesamt einen ziemlich rabiaten „Kamp der Narrative“ entwickelt, wie der Hohe Repräsentant der EU für Außenpolitik, Josep Borell, gesagt hat. Eine Stelle des Europäischen Auswärtigen Dienstes für strategische Kommunikation hat analysiert, wie Chinas Führung, dabei von Putin lernend, zunehmend Desinformationsstrategien gegenüber der EU vorantreibt. Eine besonders aggressive Garde von chinesischen Diplomaten schlägt, explizit ermutigt von ihrem Außenminister Wang Yi und von Xi Jinping selbst, harte nationalistische Töne an. Das Zentralorgan von Chinas Chauvinisten, die Global Times, ist davon ganz begeistert. Selbst Präsident Macron sah sich, was ungewöhnlich ist, herausgefordert, gegenzuhalten. Es ist eigentlich banal, aber trotzdem nicht selbstverständlich: Ob die EU bei diesem Ringen um die geistige Orientierung erfolgreich sein wird oder nicht, hängt ganz elementar daran, ob sie das gemeinsam angeht. Jede europäische Spaltung ist auch eine Schwächung gegenüber China. Deshalb können wir ja auch das Verlangen, dass China eine Ein-Europa-Politik realisieren solle, schwerlich durchsetzen, wenn wir das selber nicht tun. Und hier gilt mein Memento: Da liegt ganz viel an Deutschland. Deutschland hat im letzten Jahr alleine mehr nach China exportiert als Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Niederlande zusammen. Wenn Deutschland eine China-Politik vor allem im eng verstandenen nationalen Interesse macht, kann der Rest der EU zappeln, wie er will, es wird keine gemeinsame europäische China-Politik geben. Wenn aus Deutschland bestimmte Realitäten in China nicht klar beim Namen genannt werden, werden die Machthaber in Peking vieles, was sie sonst woher hören, nicht so furchtbar ernst nehmen. Betonen möchte ich auch, dass in diesem Orientierungskampf nicht derjenige besonders erfolgreich ist, der besonders dick aufträgt, der besonders hart mit der anderen Seite umspringt. Wenn der Eindruck entsteht, zu Recht oder zu Unrecht, dass wir als Europäer da eine praktisch ganz absurde Ideologisierung betreiben, dann können wir genauso auf die Nase fallen, wie es jetzt China mit seiner übertrieben aggressiven Gesichtsmasken-Diplomatie geschehen ist. Unsere Positionen gegenüber China müssen auch diesseits eines vollständigen Systemwandels in China plausibel sein. Das heißt z. B. durchaus, Transparenz einzufordern über das Management der Corona-Krise. Das ist übrigens eine Forderung, die in China selbst mit großem Nachdruck von vielen Menschen gestellt wird.

In bestimmten Bereichen der chinesischen Politik, vor allem der Politik gegenüber nationalen Minderheiten und der Politik in Chinas unmittelbarem regionalem Umfeld, müssen wir, fürchte ich, eine Verhärtung erwarten. Wir erleben eine solche Verhärtung aktuell in Hongkong. Sie gilt auch in Xinjiang oder Tibet. Sie gilt gegenüber Taiwan und im Südchinesischen Meer, wo sich China zuletzt sogar mit Indonesien anlegte, nachdem man jahrelang versucht hatte, mit diesem besonders wichtigen regionalen Partner möglichst nicht aneinanderzugeraten. Solche Verhärtungen sind meines Erachtens Frucht innerer Schwäche, die man dann mit Rückgriff auf nationalistische und chauvinistische Muster beantworten will. Soweit ich sehen kann, ist das innerhalb Chinas ein durchaus für die politische Führung Erfolg versprechendes Unterfangen. Von relevanter Solidarität mit den Uiguren und ihrer rassistischen Unterdrückung oder mit den Hongkongern und ihrem Kampf um Demokratie ist jedenfalls nichts zu sehen. Wir Europäer sollten in allen diesen Fragen ebenso hartnäckig wie stoisch auf unseren grundsätzlichen Positionen beharren, Klartext reden, aber uns nicht auf eine Eskalationsdynamik stützen.

Schließlich bleibt der weitere Horizont der internationalen Politik. China hat in dieser Hinsicht in zwei Dimensionen in den letzten Jahren relativ erfolgreich agiert. China hat einerseits seine Rolle in multilateralen Organisationen deutlich ausgebaut. Von den 15 Sonderorganisationen der UNO haben vier chinesische Präsidenten und sieben chinesische Vizepräsidenten. Dieser Einfluss liegt weit oberhalb dessen, was irgendein anderes Land oder eine andere Ländergruppe vorweisen kann. Der strategisch verheerende Rückzug der USA vom Multilateralismus hat das ebenso begünstigt wie die Kleinkariertheit der Europäer. Ohne einen neu konzipierten, aktiven Multilateralismus, der Partner aus dem globalen Süden aktiv mitdenkt und mitbeteiligt, anstatt sie bloß zu Objekten zu machen, ist hier Erfolg nicht zu gewärtigen. Andererseits hat China, insbesondere im Rahmen von Belt and Road, an dem Aufbau neuer Strukturen gearbeitet, die eben nicht multilateral, sondern China-zentrisch verfasst sind. Das nur zu beklagen, führt nirgends hin. Was das ernsthafte Eingehen auf Infrastrukturbedürfnisse vieler Länder betrifft etwa, muss die EU ihre eigene Konnektivitätsstrategie endlich einmal anfangen ernst zu nehmen und die systematische Zusammenarbeit mit Japan, Australien, den ASEAN-Ländern, Indien und den USA suchen. Europa muss auch aufhören, der Chimäre nachzurennen, irgendwie sei es vielversprechend, mit China gemeinsam „was in Afrika“ zu machen. Erstaunlicherweise hatte z. B. das Kanzleramt die Vorstellung, es sei ein interessanter Punkt für das Leipziger China-Treffen, dass Europäer und Chinesen dort in Abwesenheit der Afrikaner darüber reden sollten, was sie gemeinsam zu deren Wohl tun könnten. Glücklicherweise ist dem einen oder anderen in Brüssel dann doch noch aufgefallen, dass diese Art der Kollaboration von Altkolonialisten und Neokolonialisten vielleicht doch nicht ganz der europäischen Werteorientierung entspricht und den Falschen ins Blatt spielen würde. Dass viele Länder in Afrika jüngst extrem allergisch reagiert haben, als in Südchina rassistisch gegen Afrikaner vorgegangen wurde, die beschuldigt wurden, Corona-Übertrager zu sein, zeigt, dass Pekings Investitionsoffensive in Afrika, die ja tatsächlich mehr nach Chinas Bedürfnissen ausgerichtet war, das kritische Nachdenken dort nicht erstickt hat. Wenn nur die Europäer lernen könnten, gute Partner Afrikas zu sein, faire, dann gäbe es sehr großes Kooperationspotenzial. Schon bei Klimaverhandlungen im Rahmen der UNO konnte man manchmal den Eindruck gewinnen, dass Europas Positionen denen der G77 teilweise näher standen als die Chinas.

Ohne jeden Zweifel: Es wird auch in Zukunft viele Felder geben, auf denen die EU gezielt nach Kooperationen mit China suchen wird und soll. Es wird viele Probleme geben, die sich leichter adressieren lassen, wenn es wenigstens teilweise Übereinstimmung mit China gibt. Aber die idealisierende Vorstellung, dass Chinas Politik und die unsere dem Grunde nach vereinbar sind und es daher vor allem darauf ankomme, Win-win-Themen ins Zentrum zu rücken und das Störende nicht übermächtig werden zu lassen, die gilt für das China Xi Jinpings nicht. Deshalb braucht Europa tatsächlich große Anstrengungen, um seine China-Politik gemeinsam zeitgemäß weiterzuentwickeln. Kooperation, wo möglich. Aber mit klarer Kante und ohne Blauäugigkeit. Und engagierte Vertretung der eigenen Werte und Interesse, auch wenn es Chinas Führung nicht gefällt. Das ist nicht dieselbe China-Politik, wie sie Donald Trump in den USA macht, obwohl es auch oberflächlich wäre, alles, was man aus Washington zu China hört, nur deswegen abzulehnen, weil es von Trump oder seinen Leuten gesagt wird. Europas China-Politik kann nicht bedeuten, sich einfach bei den USA unterzuhaken. Dabei wissen wir ganz genau, dass es keine Äquidistanz gegenüber China und den USA geben kann. Europas China-Politik kann auch nicht auf der Illusion aufgebaut werden, die EU könne möglicherweise so etwas wie eine dritte Supermacht werden, die ihrerseits Hegemonialansprüche stellt. Grundlage der EU-Außenpolitik und auch der EU-China-Politik muss der Multilateralismus bleiben, für den wir, wenn wir genau hinsehen und uns von den geopolitischen Herausforderungen nicht verstecken, viel mehr Partner haben können, als uns oft bewusst ist.

 


Sonst noch
  • Gemeinsam mit 21 weiteren Abgeordneten fordere ich in einem Brief an den Hohen Vertreter Josep Borrell die Einbeziehung Taiwans in die Arbeit der WHO zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und möglicher zukünftiger internationaler Gesundheitsrisiken.
  • In der letzten Woche hatten wir wieder eine virtuelle Plenarsitzung. Dieses Mal gibt es besondere Bütis Plenarnotizen, und zwar aus dem Homeoffice.
  • Meine Pressemitteilung zu den beunruhigenden jüngsten Entwicklungen in Hongkong könnt Ihr hier nachlesen.
  • Am 23.04. veranstalte ich gemeinsam mit meiner Kollegin Jutta Paulus das Webinar „Containment Strategies against Covid-19: Experiences from Taiwan“ mit Botschafter Harry Tseng. Weitere Informationen sowie einen Link zur Anmeldung findet Ihr hier. Am 20.04. haben wir bereits ein ähnliches Webinar mit Yoon Soongu, Botschafter Südkoreas, veranstaltet.
  • Am 27.04. findet die nächste Sitzung der Grünen/EFA-Fraktion per Videokonferenz statt. In dieser Sitzung werden wir ein Papier zum Green Recovery Plan beschließen.