In einer Woche werde ich nicht mehr Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei (EGP) sein. Im finnischen Tampere wird die EGP ihre neue neunköpfige Führung wählen. Für mich geht damit eine Dienstzeit zu Ende, die 2012 in Athen begann.
Ich möchte diese Erfahrung um keinen Preis missen. Und ich bin sehr, sehr vielen Menschen, Grünen und Nicht-Grünen, dankbar dafür, dass ich mit ihnen in der bisherigen Funktion über diese sieben Jahre zusammenarbeiten konnte. Aber jetzt ist das genug.
Die europäischen Grünen befinden sich aktuell auf dem Höhepunkt ihrer bisherigen Entwicklung. Mit zehn Prozent Stimmenanteil im europäischen Durchschnitt bei der Europawahl im Mai erzielten wir einen großen Erfolg. Aber die Grüne Welle, von der in dem Zusammenhang oft die Rede war, war im Jahr 2019 auch in vielen anderen Wahlergebnissen auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene wirksam: in Norwegen und Portugal, Polen und Belgien, Dänemark und der Schweiz, Irland und Finnland, Ungarn und den Niederlanden, Österreich und Deutschland. In zahlreichen Fällen waren es die besten Ergebnisse, die jemals erzielt wurden. In solchen Wahlergebnissen spiegelt sich die wachsende Relevanz, ja Zentralität der Grünen Perspektive. Zwar sind wir im Süden Europas und im Osten unbestreitbar in aller Regel viel schwächer als im Norden und im Westen, aber Grün ist längst nicht mehr eine Ergänzungsfarbe; wir Grüne ringen selbständig mit den anderen politischen Strömungen um die Zukunft unserer Gesellschaften, unserer Länder, unseres Europa und unserer Welt. Im Europaparlament sind wir zur vierstärksten Fraktion aufgestiegen, im Europäischen Rat und den Ministerräten ist unsere Kraft noch viel weniger zu spüren. Aber unsere Orientierungskraft geht bereits deutlich über unseren zahlenmäßigen Einfluss hinaus. Wenn man will, kann man das schon daran sehen, dass sogar Frau von der Leyen einen Green Deal ausgerufen hat.
Wir europäische Grüne sind in den 20 Jahren, in denen ich jedes Jahr zweimal zu Council-Treffen der EGP gefahren bin, in bemerkenswerter Weise zusammengewachsen, sind uns ähnlicher geworden, haben voneinander gelernt. Und wir haben in verschiedener Weise gelernt, in unseren Ländern auszugreifen über die Grenzen hinaus, in denen wir uns in der Vergangenheit bewegten. Faktisch entwickelt sich Grün Schritt für Schritt und nicht ohne Rückschläge – siehe Thüringen – zu einem alternativen Zentrum im politischen Spektrum. Je erfolgreicher wir sind, zugleich Dialogpartei, Bewegungspartei, Orientierungspartei und Bündnispartei zu sein, desto eher gelingen uns Fortschritte dabei. Zahlreiche unserer politischen und gesellschaftlichen Ideen, die früher einmal als randständig galten, haben sich als zentrale Bestandteile einer modernen, solidarischen, gerechten, ökologisch verantwortlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen, feministischen, weltoffenen und friedlichen Gesellschaft erwiesen.
Manche unserer Gegner bemühen sich allerdings auch, bestimmte essenzielle Grundorientierungen Grüner Politik in Spaltungslinien für unsere Gesellschaft zu verwandeln. Das gilt für die Frage der sozialen Gerechtigkeit, für die Frage der europäischen Orientierung, für die Frage der humanitär geprägten Praxis gegenüber Geflüchteten und MigrantInnen wie auch neuerdings für die Frage der Klimapolitik. Ein Selbstlauf ist unser Erfolg deswegen gewiss nicht. Insbesondere dürfen wir nicht in die Falle gehen, uns in der positiven Resonanz zu suhlen, die wir in bestimmten Milieus, in der jüngeren Generation und insbesondere im städtischen Umfeld erreichen und dabei die ländlichen Räume, die Älteren und gesellschaftliche Gruppen, die uns fern stehen, hintanzustellen. Wo Menschen ihre legitimen Interessen missachtet sehen, wo sie den Eindruck haben, dass niemand auf sie hört, und wo sie von dem Gefühl bestimmt werden, dass ihnen noch nicht einmal der gebührende Respekt gezollt wird, können wir nicht wegsehen und untätig bleiben, sonst blüht dort der Weizen derer, die berechtigte Kritik an ungerechten Verhältnissen in antidemokratische, antirepublikanische und schlichtweg reaktionäre Energie verwandeln wollen. Die politischen Kräfte, die über die letzten 40 Jahre bei allen Fehlern, bei allen sozialen und ökologischen Versäumnissen und Vergehen die demokratische und rechtsstaatliche Stabilität doch sicherten, verlieren vor unseren Augen ihre Kraft. Sie haben für morgen nur Antworten von gestern. Umso mehr wächst uns Grünen Verantwortung zu.
Ich habe mich gefreut, nicht nur lange Jahre bei den deutschen Grünen, sondern eben auch in den letzten sieben Jahren an führender Stelle bei den europäischen Grünen für die Entfaltung, Ausformulierung und Umsetzung unserer Grünen Perspektive arbeiten zu können. Es war mir eine große Ehre und fast immer ein Vergnügen.
Ich beende jetzt aber nur eine Phase, nicht mein aktives Engagement. Als Mitglied des Europäischen Parlaments und, wo es sein muss, auch in anderer Rolle will ich gerne weiter mit denken, mit treiben, mit umsetzen und mit gewinnen. Und manchmal natürlich nerven.
Foto Quelle: https://www.flickr.com/photos/europeangreens/33778511325/; © Riccardo Pareggiani – 2017
Sonst noch:
- Zusammen mit dem „European Telecommunications Standards Institute“ (ETSI) habe ich im Europaparlament den Bericht „Calling the Shots“ vorgestellt, der die Standardisierung im internationalen Wettbewerb mit der Verteidigung europäischer Werte verknüpft.
- Ich war Gastgeber eines Lunch-Events, bei dem eine Delegation von US-Kongressmitarbeitern sich mit EU-Abgeordneten verschiedener Fraktionen über das US-China-Verhältnis und andere drängende Themen ausgetauscht hat.
- Ich freue mich über die Einladung zum 22. „Stockholm China Forum“ des German Marshall Fund, das diese Woche in der schwedischen Hauptstadt stattfindet.
- Der Verkauf des Lokomotivengeschäfts von Vossloh an den chinesischen Bahntechnikkonzern CRRC wird jetzt doch vom Bundeswirtschaftsministerium geprüft, dazu sprach ich mit dem Handelsblatt.