2018 war ein gutes Jahr für die deutschen Grünen. Im Januar, bei der Bundesdelegiertenkonferenz, hofften wir, dass der leichte Zuwachs in den Umfragen, den die Meinungsforschungsinstitute seit den Jamaika-Sondierungen berichteten, wenigstens eine Weile andauern würde. Doch, wie wir alle wissen, es kam besser. Die Umfragen stiegen und bei den Landtagswahlen in Bayern und dann in Hessen realisierten sich diese auch in bemerkenswerten Wahlsiegen. Seit einigen Wochen liegen wir jetzt in bundesweiten Umfragen auf dem zweiten Platz. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir bei der Europawahl im Mai ein Ergebnis erzielen werden, das mit einer zwei vorne beginnt. Es ist noch nicht einmal ausgeschlossen, dass wir dann im September bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen bessere Ergebnisse erzielen werden als je zuvor, statt um die Überquerung der Fünf-Prozent-Hürde bangen zu müssen.
Über die Gründe für diesen Aufschwung wird insbesondere von den schlauen politischen Beobachtern, die nie mit ihm gerechnet hatten, viel reflektiert. Und viele Analysen, die darauf abheben, das neue Duo an der grünen Spitze trage wesentlich zum Erfolg bei, haben ganz sicher recht. Ebenso wie diejenigen, die darauf verweisen, dass die katastrophalen Wetterextreme dieses Sommers die Aktualität des gefährlichen Klimawandels demonstriert haben und damit unsere Glaubwürdigkeit gestärkt haben, weil wir eben schon lange und intensiv an diesem dicken Brett bohren. Recht haben sicher auch Stimmen, die erklären, ohne den weitgehenden, selbstverursachten Vertrauensverlust von CDU/CSU und SPD hätte es diesen grünen Aufstieg nicht geben können. Und schließlich stimmt auch, dass uns unsere klare Gegenposition gegen autoritäre, populistische, fremdenfeindliche und rassistische Strömungen den Zuspruch vieler Menschen eingetragen hat, die solche Klarheit bei den Parteien, die sie früher gewählt haben, derzeit nicht finden. Als Fünftes würde ich noch hinzufügen, dass wir Grüne uns meiner Erinnerung nach auf Bundesebene noch nie so lange nicht gestritten haben; das dauert ja schon mindestens anderthalb Jahre.
Bei aller Freude über unsere Glückssträhne bleibt aber doch nüchtern festzustellen, dass objektiv betrachtet der Ertrag dieser Erfolge ziemlich begrenzt ist.
Wir haben in Bayern ein grandioses Wahlergebnis, aber die CSU regiert weiter und hat bisher bestenfalls ihre Rhetorik etwas besser gekämmt, aber keine politische Neuorientierung vorgenommen. In Hessen kommen wir sogar auf 20% und werden mehr Ministerien in der Landesregierung stellen, die wir zusammen mit der Union fortsetzen können. Aber die sichtbarste politische Konsequenz dieses Triumphes war der Verzicht von Angela Merkel auf den CDU-Parteivorsitz und die daraus sich ergebende Nachfolgedebatte, in der deutlich wurde, dass mindestens die Hälfte der CDU weiter nach rechts will, nicht weiter auf uns zugehen. Trotz unserer Erfolge ist es uns auch nicht gelungen, die SPD oder gar die Linkspartei in unsere Richtung zu drücken. Von der verstockten Lindner-FDP, die schwer am Jamaika-Trauma tragen wird, solange sie diesen Chef hat, will ich hier höflicherweise nicht reden. In der SPD faselte Andrea Nahles irgendetwas von Blutgrätsche gegen die Kohle und machte damit deutlich, dass sie jegliche progressive Orientierung verloren hat. In der Linkspartei hat Fraktionsvorsitzende Wagenknecht mit ihrer “Aufstehen”-Initiative, die just in dem Moment trotzig sitzenblieb, als in Berlin 240 000 Menschen gegen rechte Stimmungen demonstrierten, den eigenen Laden faktisch demobilisiert. Aufbruch? In Brandenburg liegt die SPD in Umfragen inzwischen gleichauf mit der AfD, in Thüringen gleichauf mit uns und Sachsen bei 8.5%. Die Regierung in Berlin blamiert sich international in der Klimapolitik völlig ungeniert. Sie blamiert sich gegenüber den Autofahrerinnen mit ihrer Unfähigkeit/Unwilligkeit in der Dieselkrise, die Automobilindustrie endlich einmal am Schlafittchen zu packen. Sie lässt nach wie vor eine moderne Einwanderungspolitik vermissen. Sie untergräbt die Bereitschaft vieler Menschen, Flüchtlingen humanitär zu helfen, weil diese immer mühseliger ankämpfen müssen gegen Schikanen und Blockaden nicht nur des Innenministers, dessen Verfallsdatum längst abgelaufen ist. Sie rennt bei Nordstream 2 nach wie vor in die Sackgasse. Sie verschläft bisher die Cybersecurity-Bedenken beim 5G-Ausbau, den sie gleichzeitig so lückenhaft vorantreibt, dass die Industrie immer lauter protestiert. Sie schnürt ein Digitalpaket unter großem Getöse, von dem sie eigentlich wissen muss, dass es bei den Ländern auf Granit stoßen wird, weil es den Kernbestand des Föderalismus in Frage stellt. Sie ist nicht in der Lage, eine große Weiterbildungsreform ins Auge zu fassen. Sie lässt in Europa den französischen Präsidenten Macron hängen. Sie schafft es nicht, gegenüber dem ungarischen Premierminister Orbán eine klare Sprache zu sprechen. Sie faselt von einer europäischen Armee und beteiligt sich an neuen Subventionsgeschenken für die Rüstungslobby statt energisch auf ein Mindestmaß an Effizienz bei den schon sehr hohen europäischen Rüstungsausgaben zu bestehen. Sie kriegt die Probleme der Bahn nicht in den Griff…
Der Katalog des Versagens ist sehr lange.
Was nützen uns tolle Zahlen, wenn die Politik sich nicht ändert? Die Lage ist nicht ohne Risiken für uns. Könnten sich nicht Menschen wieder abwenden, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass ihre Stimme für die Grünen nicht genug ändert? Man kann auch fragen, ob wir auf Landes- und Kommunalebene genug von dem realisieren, was wir auf Bundeseben versprechen? Und wir sollten uns fragen, ob wir angesichts unserer stolzen Erfolge genug investieren in die Adressierung der Fragen, die uns nicht leicht von der Hand gehen; bei denen wir eigene Widersprüche manchmal verhuschen statt sie zu klären; bei denen wir merken, dass wir mit ihnen in unserer Reichweite begrenzt bleiben, wenn wir nicht eine Sprache finden, die auch jenseits der Milieus verstanden wird, in denen wir uns wohlfühlen?
Ich glaube unsere derzeitige Lage ist, so wie sie ist, nicht einfach stabilisierbar. Wir müssen weiter wachsen, wenn wir nicht zurückfallen wollen. Eine zentrale Herausforderung für dieses anzustrebende Wachstum dreht sich um unser Selbstverständnis als Partei. Sind wir eine Partei, die mehr oder weniger erfolgreich verschiedene Milieus anspricht und aufaddiert, ohne jedoch zu einer Melodie zu finden, die wir den Verhältnissen vorsingen können, um sie zum Tanzen zu bringen? Oder sind wir eine Dialogpartei und Bewegungspartei und Orientierungspartei? Eine Partei also, die den Dialog auch mit denen sucht, die uns fern stehen? Eine Partei, die progressive Bewegungen identifziert, aufgreift, verstärkt, egal, ob die auf der Straße, im Gemeinderat, in der Handwerkskammer oder in der kulturellen Welt stattfinden; die progressive Bewegungen um ihrer selbst willen stärkt und nicht nur, weil es uns vielleicht taktisch nützt? Eine Partei, die daran arbeitet, der ganzen Gesellschaft eine neue, eine zeitgemäße Perspektive vorzuschlagen, die sie zusammen mit anderen progressiv Denkenden entwickelt? Und die sich den schweren Fragen stellt, statt vor allem nur die Antworten zu propagieren, die wir gerade parat haben? Was ich für richtig halte, sieht man ja der Fragestellung schon an. Ich glaube auch, wir sind auf dem Weg in die Richtung Dialogpartei-Bewegungspartei-Orientierungspartei in diesem Jahr durchaus einige wichtige Schritte vorangekommen. Aber die Verantwortung, die die Verhältnisse uns aufbürden, und zwar umso mehr, je öfter andere versagen, macht es erforderlich, dass wir da 2019 noch zulegen.
2018 war übrigens auch für die europäischen Grünen ein gutes Jahr. Mit durchschnittlich 8% EU-weit stehen wir so gut da wie nie zuvor. Viele schauen dabei auf uns deutsche Grüne, das wurde sowohl bei unserer Bundesdelegiertenkonferenz in Leipzig als auch beim EGP-Kongress in Berlin deutlich. Ich finde das großartig. Geschichte wird gemacht. Und wenn wir selbst dabei begeistert sind, können wir, glaube ich, viele begeistern. Denn unsere Gesellschaft ist, scheint mir, in einer Situation wie eine Katze vor dem Sprung. Sie spannt die Muskeln an, sie bereitet sich auf den Sprung vor, sie zögert noch. Sie wird springen. Müssen.