Die Bürgerinnen und Bürger Schwedens haben an diesem Wochenende ihr neues Parlament gewählt. Manche oberflächliche Berichterstattung hat es geschafft, das Fazit auf zwei Momente einzudampfen: Die Sozialdemokraten verlieren, wie derzeit überall in Europa. Die Rechtsaußen gewinnen, wie derzeit überall in Europa.
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Die schwedischen Sozialdemokraten haben verloren, aber sie sind nach wie vor mit deutlichem Abstand stärkste Partei und liegen zehn Punkte vor ihren deutschen Genossinnen und Genossen. Verloren haben auch die Konservativen, die in Schweden unter dem Namen der Moderaten antreten. Und die Rechtsaußenpartei „Schwedendemokraten“ ist nicht, wie von manchen vorausgesagt und vielen anderen befürchtet, auf die 30 % zumarschiert, sondern bei knapp 18 % auf dem dritten Platz geblieben. Zudem: Das rot-rot-grüne bisherige Regierungslager – Sozis und Grüne regierten, die Linke tolerierte – liegt im Ergebnis immer noch, wenn auch knapp, vor der bürgerlichen Viererallianz von Konservativen, Christdemokraten, Liberalen und Zentrum, die angetreten war mit dem Anspruch, eine neue Regierung zu bilden.
Die schwedischen Grünen gehen davon aus, dass die Regierungsbildung schwierig und langwierig wird. Wenn alle Parteien bei ihren Wahlaussagen blieben, könnte es keine Regierung geben. Mindestens eine Partei wird also wohl springen müssen. Oder es gibt, wenn vor Jahresende keine Regierung zustande kommt, eine Neuwahl, die allerdings wohl die allermeisten Parteien fürchten. Zentrum und Liberale haben im Wahlkampf ausgeschlossen, mit Unterstützung der Schwedendemokraten regieren zu wollen. Da fragt sich nun schon mancher, was „Unterstützung“ gegebenenfalls genau heißt. Drei Viertel der konservativen Wählerinnen und Wähler sind angeblich dafür, dass ihre Partei mit den Schwedendemokraten reden soll, aber der Parteivorsitzende klang am Wahlabend so, als habe er das nicht vor. Doch könnte sich da vielleicht etwas bewegen, wenn die Bürgerlichen einen neuen Parlamentspräsidenten nominieren, dem dann die Rechtsextremen ins Amt verhelfen würden. Wichtig ist das Amt des Parlamentspräsidenten insbesondere deswegen, weil der nach Konsultationen bestimmen kann, wem er die Aufgabe einer Regierungsbildung zutraut.
Auf der rot-rot-grünen Seite des Parteienspektrums gibt es zwei Verlierer, Sozialdemokraten und Grüne, und die Linke als Gewinnerin, doch blieben die Verluste der Sozialdemokraten und die Gewinne der Linken jeweils geringer als vorausgesagt. Die Grünen, Miljöpartiet, haben es mit 4,3 % gerade so noch einmal über die Vier-Prozent-Hürde geschafft. Beim letzten Mal waren es noch 6,9 %. Das beste Ergebnis hatten sie bei der Wahl von 2010, als sie 7,34 % erzielten. Sie werden in Zukunft wohl 15 Abgeordnete stellen. Bis zur Regierungsneubildung bleiben ihre bisherigen sechs Minister geschäftsführend im Amt. Welche Rolle sie als schwächste Parlamentsfraktion danach spielen könnten, ist ganz unübersichtlich. Ich vermute, dass sie erst einmal durchatmen, weil sie parlamentarisch überlebt haben. Ganz unerwartet kamen ihre Verluste nicht. Sie standen seit 2015 in vielen Umfragen immer wieder in der Nähe der Vier-Prozent-Hürde. Über den Sommer, unter dem drastischen Eindruck einer ungewöhnlichen Hitze und großer Waldbrände, schien ihr Rückhalt zu wachsen und noch eine erste Nachwahlbefragung hatte ihnen 5,8 % prognostiziert, bevor dann über den Großteil des Wahlabends das große Zittern angesagt war.
In ihrem Wahlkampf hatten sich die schwedischen Grünen ganz überwiegend auf das Thema Klimawandel konzentriert. „Das Klima kann nicht warten“, war ihr Wahlkampfslogan. Ihre, in der Bevölkerung beliebten, beiden Parteivorsitzenden und prominenten Minister Isabella Lövin und Gustav Fridolin stellten das Thema Klimawandel ins Zentrum der Wahlkampfreden, die ich hörte. Sie konnten auch darauf verweisen, was sie in der Regierung in puncto Klimapolitik erreicht hatten: das ehrgeizigste Klimaschutzgesetz Europas verabschiedet; massiv Einfluss auf die Reform des europäischen Zertifikatehandels genommen; das Budget für Klimapolitik verdoppelt; Modellprojekte für eine CO2-neutrale Stahlproduktion vorangetrieben. Gezogen hat das offenbar weniger als erhofft. Eine Wahlanalyse aus der Hosentasche habe ich natürlich nicht, aber es scheint so, als habe die Linke auch auf Kosten der Grünen gewonnen, während die Sozialdemokraten über fünfmal so viele Wählerinnen und Wähler an die Rechtsextremen abgaben als an die Grünen. Einige Grüne, mit denen ich sprach, berichteten von Wählern, die ihnen, als die grünen Umfragezahlen vorübergehend bei 6 % gelegen hatten, erleichtert gesagt hätten: „Gut, dass Ihr gerettet seid, dann kann ich ja jetzt die Linke wählen.“
Zu dem Wahlergebnis von 4,3 % kann man natürlich nicht wirklich gratulieren. Doch die politische Substanz, über die die schwedischen Grünen verfügen, ihre gute kommunale Verankerung und die Erfahrung ihrer 15 Parlamentsabgeordneten sprechen dafür, dass ihnen bei der nächsten Wahl wieder ein besseres Ergebnis gelingen kann. Bei der kleinen grünen Wahlparty in Luleå im Norden Schwedens, bei der ich war, wurde die nächste Wahl, bei der es wieder besser werden soll, auch gleich ausgemacht: die Europawahl im Mai 2019.
Sonst noch
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