No. XLIV Josef Sayer, Deutschland

Prager Frühling – lernen für heute

Lebhaft erinnere ich mich an den Prager Frühling: Gerade hatte ich das Examen an der Universität abgelegt und war in England unterwegs – frei von Examensstress. Da ereilte mich die schockierende Nachricht vom Einmarsch der Panzer in Prag, die die aufkeimende Freiheit niederwalzten. Nicht glauben wollte ich es, da wir mit Dubček Hoffnungen auf eine echte Systemtransformation verbunden hatten. Ich erinnere mich an die lähmende Stimmung in den Gesprächen.

Doch was lernen für heute?

1. Das bleibende Stichwort für mich ist „Systemtransformation“. Wo und wie heute im 21. Jahrhundert?

Papst Franziskus mit seiner Umweltenzyklika und das Pariser Klimaabkommen geben die Richtung vor: Transformation der Produktionsweise, des Lebensstils und der Konsummuster. Ohne diese Transformationen und dagegen ein „weiter so wie bisher“ werden die Hoffnungen auf ein würdiges Leben der künftigen Generationen und die Integrität der Schöpfung zerstört. Nicht rollende Panzer zerstören heute, sondern egoistische Gleichgültigkeit und kurzfristige, kurzsichtige ökonomische Gewinnsucht. Eine kohärente Orientierung von Politik und Wirtschaft am Weltgemeinwohl tut Not, um zur zwingend notwendigen Systemtransformation heute zu gelangen.

2. ist zu lernen: Auch ein Scheitern ist möglich. Doch um welchen Preis vor allem für die kommenden Generationen und die Natur?! Können – ja wollen wir uns das als Menschen, begabt mit einer besonderen Würde, wirklich leisten? Leben auf Kosten unserer Kindeskinder?

Ging es einst um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, so geht es heute um nicht weniger als die Bewohnbarkeit des Planeten Erde und die Wahrung unserer Würde durch den Erweis einer Systemtransformation.

Prof. Josef Sayer, geboren 1941, ist Consultant für kirchliches Führungspersonal; er war 15 Jahre Hauptgeschäftsführer von Misereor